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Noch einmal daran gedacht – Ein Buch nimmt Form an

Vor zwei Jahren habe ich den Glossen- und Essayband “Noch einmal davon gekommen”(1) veröffentlicht, von dem ich als einziges von meinen veröffentlichten Büchern ab und an mal ein Exemplar verkaufe und das bei allen seinen Lesern durchweg gute Kritiken bekommen hat. In dem Band habe ich die heitersten und unterhaltsamsten Texte aus fünf Jahren “Aber ein Traum” versammelt. Das sind etwa dreißig von annähernd tausend Artikeln, die ich hier im Lauf der Zeit veröffentlichte.

Für den Herbst plane ich nun einen weiteren Band. Er wird “Noch einmal daran gedacht” heißen und etwas ehrgeizigere Blogtexte beinhalten. Im Allgemeinen sind das Essays zur Literatur und der eine oder andere lyrische Moment. Dazu kommen im Speziellen autobiografische Erinnerungen und belletristische Texte, die sich direkt auf diese wahrgelogenen Memoiren beziehen. Ihr Überarbeiten und Ergänzen nimmt mich gerade stark in Anspruch und schiebt sich vor alle anderen literarischen Projekte, an denen ich in meiner Werkstatt auch noch feile. Gerade die Texte, die sich mit dem Wahrlügen beschäftigen und – wie der Titel schon sagt -, halb biografisch, halb fiktiv sind, jedoch exemplarisch deutlich machen, aus welchem tiefen Brunnen ich meine Literatur schöpfe, verlangen meine volle Aufmerksamkeit.

Um noch einmal deutlich zu machen, worum es mir dabei geht, hole ich heute den (überarbeiteten) einleitenden Text zum Thema aus den Blogarchiven wieder nach oben und werde in den nächsten Wochen weitere wahrgelogene Erinnerungen aus den Tiefen des Blogs und auch ein paar weitere, die neu für das Buch entstanden, an dieser Stelle vorveröffentlichen. Ich hoffe, es gibt den einen oder anderen Leser, der mir auf diesem Weg folgen möchte.

Das Wahr-Lügen
und
das Wahre lügen

Es klingt nach einer Binsenweisheit: Autoren sind Geschichtenerzähler; aber wir lieben die Geschichten von Schriftstellern für ihre Lügen, nicht für ihre Tat­sachen.

Gerade, wenn sie behaupten, sie würden die Wirklich­keit nun wiedergeben oder jetzt endlich die ungeschminkte Wahrheit erzählen, ist äußerste Vorsicht geboten. Freilich hat jeder Text ganz zwangsläufig einen autobiografischen Anteil, wie sich auch etwas von mir in meiner überaus köstlichen Stachelbeer-Marillen-Marmelade befindet, die ich gekocht habe.

Aber der Autor versteckt und verbirgt sich und leugnet, spielt Vexierspiele und Scharaden. Was er ausgewählt und für erzäh­lenswert betrachtet, presst er durch das engmaschige Netz seiner Persönlichkeit und Meinungen. Nur manchmal ist ihm das bewusst, häufiger arbeitet beim Schreiben fleißig sein Unterbewusstes für ihn: Er lügt, ohne sich der Lüge bewusst zu sein. Oft weiß sein Pu­blikum das und fordert es auch von ihm. Ein schönes Beispiel dafür sind die „Papillon“-Bücher von Henri Charrière. Sobald der autobiografische Protagonist in seinen Erinnerungen nach unzähligen Abenteuern und Fluchtversuchen die Teu­felsinsel verlassen hat (auffallenderweise enden die beiden Verfilmungen an dieser Stelle) und der französische Autor von einer überprüfbaren, näher am Jetzt liegenden Zeit erzählen muss, wird alles merkwürdig langwei­lig, was er noch zu berichten weiß und erlebt hat. Wir lieben dieses Buch für seine Lügen, nicht für seine Tatsachen.(2)

Es darf dem Autor aber nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn er hat gar keine andere Wahl. Selbst wenn er sich müht, die Dinge so abzubilden, wie sie sind, sind sie doch in seinen Erinnerungen nur die Schattenbilder, die ein flackerndes Lagerfeuer an die unregelmäßigen Wände der Höhle wirft. Ohne weiter Platon bemühen zu wollen: Er­zähltes ist die Abstraktion einer Abstraktion; sozusagen eine Idee 2. Grades. Der Le­ser kann nie das sehen, was der Autor erblickte – und wer weiß schon, ob die Augen des Schriftstellers wirklich die gleichen Dinge wie sein Publikum sehen. Viel­leicht ist seine Welt so weit von der seiner Leser ent­fernt, dass nur mehr die Sprache eine unzulängliche, wacklige Brücke zwischen ihm und ihnen bilden kann. Das ist ein wenig wie die Kluft zwischen Mann und Frau; die ist genauso tief und nur durch Worte oder Liebe kurzfristig überbrückbar.

Trotzdem ist die Erzählung des Autors auf einer an­deren Ebene ebenso wahr, wie sie – objektiv! – falsch ist. Wahrheit kann auch durch Lügen entstehen; zum Beispiel, wenn es darum geht, über die eigene Kind­heit zu berichten. Zu unzulänglich sind die Erinne­rungen, zu groß die Lücken. Zu oft täuschen uns auch die Berichte älterer Menschen, die ebenfalls wahrlügen, Zeiten und Orte vermischen sich, wichtige Personen verlieren sich zu undeutlichen Konturen und jeder Befragte erinnert sich anders. Manche unserer Erinnerungen bilden wir uns nur ein, wie die Gehirnforscher heute wissen. Sie können gemacht werden, wenn man sie nur oft genug eingeredet bekommt.

Ein Beispiel: Der – von mir mal abgesehen – einzige Künstler in meiner nahen und auch ferneren Ver­wandtschaft war ein äußerst erfolgloser Kunstmaler, der Werner Nebler hieß und dessen Atelierwohnung in der Annastraße in Augsburg ich als Fünf- oder Sechsjähriger gegen Ende der 60er Jahre – näher lässt sich das nicht mehr einschränken – mit meiner heute schwer de­menzkranken Mutter besuchte. Es ist außer dem einen oder anderen Familienfest das einzige nähere Zu­sammentreffen mit ihm, an das ich mich erinnere. Er ist nur wenige Jahre später verstorben.

Ich musste den dürren, kleinen und kahlen Mann mit den spitzen, rosigen Ohren „Onkel Nebler“ nen­nen, obwohl ich sein Großcousin 2. Grades war und ihn sonst nur zum Geburtstag meines Vaters sah, zu dem er immer eingeladen wurde. Der „Onkel Nebler“ eben. Das wurde nicht hinterfragt. Die abgehakten, dabei ausufernden Bewe­gungen des kleinen Mannes erinnerten mich an einen Kakadu, den ich aus dem Vogelhaus des Augsburger Zoos kannte. Überhaupt war er eine heitere, flaumige und vollbär­tige Persönlichkeit, der Haarbüschel aus den Ohren, aber nur wenige auf dem Kopf wuch­sen. Nebler war ein klassischer Hungerkünstler, der zu Familienfeiern kleine See- und Waldstücke ver­schenkte, die er zu diesem Zweck eigens anfertigte. Jeder in meiner Familie hat noch den einen oder an­deren „echten Nebler“ in der Wohnung hängen oder verschämt hinter Kisten auf dem Dachboden verbor­gen. Wertvoll werden diese Bilder allerdings nie mehr; sie sind nicht einmal besonders geschickt ge­malt.

Eine Zeitlang pinselte unser Familienkünstler für das Capitol-Kino hinter dem Merkurbrunnen großformatige Filmplakate auf Sperrholzgrund, die über dem Kinoeingang in einem eigenen Rahmen weithin sichtbar Werbung für den gezeigten Streifen machten. Obwohl das Capitol in­zwischen den Multiplexkinos gewichen und zuerst in eine Tanzbar, dann in ein gutbürgerliches Lokal um­gewandelt wurde, gibt es diesen von steinernen Grazien eingefassten Rahmen über den Türen noch immer, auch wenn inzwischen ein Fenster in ihn eingepasst wurde. Nebler benutzte für seine Plakate die Standfotos aus den Filmen, ergänzte sie durch exotische Hintergründe eigenen Entwurfs, den Film­titel, die Hauptdarsteller und die Vorführzeiten. Of­fenbar machte er jedoch Mitte der Fünfziger den Feh­ler, Gordon Scott als Tarzan nur mit einem Lenden­schurz bekleidet darzustellen. Die Moralvorstellun­gen der Augsburger ließen das damals nicht zu und so verlor er diesen Beruf als Kinomaler. Also dilettierte er weiter seine röhrenden Hirsche, seine schönen Zigeunerinnen, die Bergidyllen und seine heimlich trinkenden Mönche, die sich allesamt kaum verkauften.

Onkel Nebler, den die Erwachsenen grundsätzlich „der Nebler, Werner“ nannten, mit einer kurzen Pau­se nach dem Familiennamen und das “Werner” wie eine Frage formuliert, wohnte während des Krieges im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Als Opa als Soldat an der Front war, gebar meine fröhliche und überaus lebenslustige Großmutter nach zehn Monaten meinen Onkel Rolf, der 17 Jahre jün­ger ist als mein Vater. Onkel Rolf sieht ihm und auch dem Großvater nicht ähnlich …

Die Atelierwohnung war im Dachjuchhe und eng und niedrig; angefangene Bilder lehnten gegen die Dachschrägen. Für mich als Kind war das Beein­druckendste in dem Atelier eine H0-Dampflock mit drei Waggons, die auf ihren Schienen direkt auf dem schmutzigen Parkett eine große Ellipse um die Staffe­lei zog.  Das Werk, an dem er im Brennpunkt der Gleise malte, war eine Ansicht des Hamburger Ha­fens. Ich wurde eine Weile mit ihm im staubigen Ate­lier allein gelassen, während meine Mutter mit seiner Frau in der Nähe ins Café Bertele ging. Große, hohe Fenster ge­währten einen wunderschönen Blick über die bunten Dächer der Innenstadt und auf die strenge evangelische Moritzkirche. Das war ein Ausblick, den er merkwürdigerweise nie gemalt hat, der mich aber mehr faszinierte als die flachen Ölgemälde, die penetrant nach Petroleum und Ölfarben stanken, ein Geruch, der auch an Onkel Nebler hing, als wäre er ein Teil von ihm. Ich setzte mich zu ihm an einen über und über mit Farbresten bekleckerten Tisch, machte mich dabei ordentlich schmutzig und sah ihm beim Malen  und der Dampflok beim Rundenziehen zu oder folgte mit meinen Blicken den Schwalben, die draußen vor dem Atelier pfeifend ihre kühnen Runden drehten. Mir war langweilig, aber ich blieb still, denn ich wollte nicht stören. Irgend­wann drehte er sich zu mir, mich gleichsam wieder entdeckend, legte seine Palette und den Pinsel zur Seite und wühlte in den Taschen sei­nes grauen Malermantels. Lange kramte er, förderte Kreide­stückchen, Radierer, Kohlestummel zu Tage. Schließlich drückte er mir ein kleines Geldstück in die Hand und vergaß mich wieder. Er wandte sich zurück zu dem winzigen Kirch­turm im Hintergrund seines Bildes, den er mit ein paar flüchtigen Farbpunkten skizzierte. Ich fand es erstaunlich, wie es ihm gelang, diesem Turm mit so wenigen Stri­chen eine glaubwürdige Existenz zu ge­ben.

Als wir später die enge Holztreppe hinunterstiegen, die ebenfalls nach dem Atelier und dazu noch nach Bohnerwachs stank, fragte meine Mutter, was der Onkel Nebler mir denn geschenkt hätte. Erst jetzt öffnete ich meine schwitzige Kinderfaust, in der sich ein silb­riges 50-Pfennig-Stück befand. Meine Mutter sagte: „Das musst du in Ehren halten, für den Onkel Nebler ist das sehr viel Geld. Er ist so ein armer Mann. Das kann er sich als Künstler eigentlich überhaupt nicht leis­ten.“ Ich war beeindruckt und schloss meine Faust wieder. Ich entschied mich, auf keinen Fall Künstler zu werden. Und am nächsten Tag kaufte ich mir für die 50 Pfennig fünf Päckchen mit Klebebildern für mein Tiersammel-Album. Die meisten hatte ich leider schon.

*

Diese Geschichte aus meiner Kindheit habe ich noch nie jemandem erzählt. Aber ist sie auch wahr?

Nun, der Onkel, der bereits 1974 verstarb, hieß nicht Werner Nebler, so, wie ich selbstredend nicht Nikolaus M. Klammer heiße. Er war zwar Kunst­maler und er hatte auch ein Atelier in Augsburg in der Annastraße, aber ich kann mich nicht an den Be­such erinnern, von dem mir einmal meine Mutter be­richtet hat. Sie trank übrigens niemals Kaffee. Ich kann sie leider auch nicht mehr fragen, denn sie wird mir ja nicht mehr antworten. Das mit der Eisenbahn auf dem Boden hat mir meine äl­tere Schwester M. erzählt. Was ich mit dem Geldstück machte? Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich wur­de es in meinem rosa Plastiksparschwein für später verwahrt und landete am Weltspartag auf meinem Konto. Nebler und seine Frau, die putzen ging, waren arm, nahe am Bettelstab und mein Vater hat tatsächlich noch ein paar der unsäglich öden Ölschinken von ihm auf dem Dachboden aufbewahrt, die er ihm aus Mitleid abgekauft hat. Wie der Maler aussah? Ich habe keine Vorstellung, denn ich habe kein Foto von ihm gefun­den. Die anderen Geschichten? Mein Onkel, das Kino, Tarzan? Das waren Familiensagen, teilweise nur leise hinter vorgehaltener Hand geraunt. Die habe ich ir­gendwann gehört, ich habe sie nicht erlebt. Ob sie wahr sind? Ob ich jetzt die Wahrheit erzählt habe? Wer weiß … Denn schließlich gilt ja:

Dennoch, trotz all der Ungenauigkeiten und Vereinfachungen, ist die obige Geschichte aus meiner Jugend nicht einfach nur gelogen und damit nichts weiter als Literatur: Sie spiegelt die Zeit, das Denken und nicht zuletzt mich selbst als das Kind, das ich einmal war, wieder. Und sie erzählt viel über mich, warum ich so bin, wie ich heute bin.

Es ent­stand ein Wahrlü­gen.

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(1) Ich weiß durchaus, dass man davonkommen in der Regel zusammenschreibt. Aber der – wenn er alleine steht – ein wenig missglückte Titel sollte ein Wortspiel und bewusst zweideutig sein; er sollte auch ausdrücken, ich sei noch einmal von den Blogtexten her gekommen. Das ist leider nicht ganz deutlich geworden. Vielleicht schafft ja der Titel des neuen Blogsammelbandes hier etwas Klarheit.

(2) Selbstverständlich gibt es hier auch Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Wenn sich z. B. Autoren, wie sich das unlängst ein paar angemaßt haben, selbst zum Holocaust-Opfer zu stilisieren, obwohl sie nie eines waren, nur um das Interesse und den Verkauf des Buches zu befördern, dann pervertiert dies das Ziel, durch Lügen Wahrheit entstehen zu lassen, und ist eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer.

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