Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Selin sträubten sich die Nackenhaare, während Semira und er sich erschocken abmühten, Jalahs Beispiel zu folgen, ohne sich die Zeit zu nehmen, einen Blick zurück zu der Gefahr hinter ihnen zu werfen. Sie stellten sich dabei wesentlich ungeschickter an als die Diebin, zu deren nächtlichen Gewohnheiten es seit ihrer frühen Jugend gehörte, über Zäune und Mauern, Blitzableiter und Regenrinnen oder nah beieinanderstehende Säulen, schmale Simse und Balkone in schwindelerregenden Höhen zu erklimmen und die mit ihren nackten Füßen viel besser als die anderen Halt an den rostigen Eisenstangen fand. Auf halber Höhe wagte Selin endlich einen Blick über die Schulter und bei dem, was er sah, gefror ihm das Blut in den Adern und es ließ ihn seine Anstrengungen verdoppeln, Höhe zu gewinnen.
Was da knapp über dem Boden in schlängelnder Bewegung fauchend wie eine Armee auf sie zustampfte und er vorhin für Baumstämme gehalten hatte, waren zehn oder mehr riesige Marat-Gaviale; es waren die Schoßtierchen des „Unterwerfers“, in deren Mägen der geflüsterten Gerüchte nach all jene landeten, die seinen Zorn erregt oder ihn auch nur gelangweilt hatten. Diese ausgewachsenen und offenbar ausgehungerten Krokodile waren über zwanzig Fuß lang, wogen eine Tonne und aus ihren dünnen und langezogenen Mäulern, die die Muskelkraft besaßen, ihren armen Opfern mit einem Ruck ein Bein aus dem Leib zu reißen und ganze Rinder unter Wasser zu ziehen, ragten hundert spitze und lange Zähne.
Die M‘Gaviâ, wie sie in der Wüstensprache der Bendâh-Nomaden genannt wurden, waren bis zur Reformation während der Adin-Dynastie heilige Tiere gewesen, die von den Priesterinnen der Allerbarmerin in ihren eigenen Tempeln wie Halbgötter verehrt und gezüchtet worden waren. Die heiligen Schriften erzählten, die M‘Gaviâ hätten sich aus den salzigsten und kummervollsten Tränen geformt, die nach der Großen Welle aus den Augen der Göttin in das sumpfige Delta des Marats gefallen waren. Doch Selin wusste es besser, denn im Rahmen seiner Studien für das Al-Beqír hatte er erst vor kurzer Zeit über diese Krokodile in Lurd Windbrehms grundlegender „Exotischer Tier- und Pflanzenkunde“ gelesen, dass es diese gewaltigen Echsen schon im Zeitalter der Vorgänger gegeben haben muss, denn sie würden in mehreren Büchern des Verne-Kodex‘ erwähnt. Deshalb wurden sie in den heutigen, aufgeklärten Zeiten nicht mehr angebetet, sondern wegen ihrer Häute und ihrer Duftdrüsen, aus denen man in den Werkstätten an der Rosenblattbrücke ein unbezahlbar teures, aber in allen Überlebenden Landen begehrtes Moschus-Parfum herstellte, im Marat-Delta gejagt und von den Namlosen als besonders grausames Hinrichtungsmittel gehalten. Das machte diese Monster jedoch nicht weniger gefährlich.
Selin brachte seinen Fuß gerade noch vor einem nach ihm schnappenden, stinkenden Maul in Sicherheit und starrte fasziniert auf die grüngrauen Krokodile hinab, die er aus dieser Nähe noch nie gesehen hatte. Ihren Rückenpanzer, hieß es, könne nicht einmal eine Flintenkugel aus Zwergenerz durchdringen und ihre einzige angreifbare Stelle sei ihre kaum erreichbare Bauchseite. Das Dutzend Ungeheuer erschien ihm allerdings träger, als er erwartet hatte. Er vermutete, dies könnte an der Kälte des Kavernensees legen, die die wechselwarmen Echsen langsam machte. Sie waren jedoch noch immer flink genug, dass niemand von der Gruppe eine Chance hatte, ihren Fangzähnen zu entkommen, falls er von der Stange, an der er sich verzweifelt festklammerte, abrutschte. Als wäre es den M‘Gaviâ bewusst, dass ihnen ihre Beute irgendwann von selbst wie überreife Früchte vom Apúlsbaum in den Schoß fallen würde, unternahmen sie bald keine Anstalten mehr, nach den Menschen zu schnappen, sondern machten es sich unter ihnen gemütlich und sperrten genüsslich ihre Mäuler auf. Doch die kalten, hellgelben Reptilienaugen betrachteten aufmerksam jede ihrer Bewegungen. In ihnen funkelte die Sicherheit, dass ihnen ihre Opfer nicht mehr entkommen konnten, sondern sich durch ihre Kletterei nur eine kurze Frist verschafft hatten.
Ein Poltern ertönte. Jenseits des Zauns, an den sich die drei Verzweifelten klammerten, an der Stelle, an der das Boot in der tiefschwarzen sanften Dünung des Sees dümpelte, tauchte ein kleiner Mann auf, der eine kleine, aber offenbar recht schwere Truhe in den Händen hielt. An seinen Gürtel hatte er einen riesigen, fast brusthohen Säbel geschnallt, dessen Spitze er hinter sich her über den Boden schleifte. Er blieb erstaunt stehen, als er die merkwürdigen Früchte am Gitter hängen sah. Selin erkannte den Vezir Ómer sofort, auch wenn er nicht wusste, wie dieser hierher gekommen war und warum er vor Dreck starrte. Ómer stellte die Schatulle ab und trat interessiert näher.
»Das ist ja eine nette Überraschung«, sagte er mit beißendem Tonfall, »ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dass endlich mal jemand in meine kleine Falle tappen würde, die ich nach dem Attentat der ketzerischen Mönche von Italmar auf den Namenlosen errichten ließ. Und dies geschieht ausgerechnet in dieser Nacht, die so übervoll war, dass ich das Wundern beinahe verlernt habe. Nun, wer auch immer ihr seid, ihr kommt mir gerade höchst ungelegen, denn ich habe keine Zeit, mich länger mit euch zu beschäftigen – und es interessiert mich inzwischen auch nicht mehr. Aber die Krokodile wird es erfeuen. Der M‘Gavia-Pasha hat sie lange hungern lassen. Aber ich würde meinen, ihr seid vielleicht ihre erste, aber ganz bestimmt nicht ihre letzte Beute dieses Tages.“ Damit wollte sich Ómer wollte schulterzuckend abwenden.
»Habe Erbarmen, hoher Herr, und lass uns hier heraus aus dieser Falle!«, rief Selin. »Wir haben dir nichts getan!« Seine Hände schmerzten bereits unter dem Gewicht seines Körpers und er würde sich nicht mehr lange oben festhalten können. Ebenso erging es Semira, die schon ein Stück abgerutscht war, sich aber noch einige Füß über den Ungeheuern befand. Allein Jalah schien in ihrer misslichen Lage noch Ewigkeiten ausharren zu können; sie klammerte sich an die nach innen gebobenen Gitterstäbe wie ein Dibbuk an die Seele eines armen Sünders. Wenn sie nicht vorher verhungerte, würde sie wohl bis Mánis Rückkehr dort ausharren können. Selin biss sich auf die Lippen. Wie konnte er sie alle retten? Selbst wenn er sich jetzt opferte und sich fallen ließ, verzögerte er für die beiden Frauen nur das Unvermeidliche. »Du hast dir doch noch nie eine gute Gelegenheit entgehen lassen, gewaltiger Herr über den Serail! Rette uns und es wird nicht dein Schaden sein.«
Der gestürzte Vezir drehte sich noch einmal herum. »Nun, warum sollte ich das tun? Was könntet ihr besitzen, was mir von Nutzen ist?«, fragte er gleichgültig. Doch seine Stimme verriert ihn: Sein Interesse war geweckt. Wenn es etwas gab, auf das man sich in Karukora verlassen konnte, dann war es die Habgier von Ómer.
»Weil wir dir etwas anbieten können, das dich reicher machen wird, als du es dir auch nur vorstellen kannst. Es wäre doch schade, wenn dieser Schatz in den Mägen der M‘Gaviâ landen würde, oder?«
»Schweig, du Narr!«, zischte Jalah, die ahnte, worauf Selin anspielte, dazwischen, »Was sagst du da?«
»Besser, die Augen des Falken landen in den Händen des gnädigen Vezirs als in den Mägen der Krokodile«, rief ihr Selin zu. »Für die Gilde sind sie doch so und so verloren; aber vielleicht können wir uns mit ihnen freikaufen.«
Alis schmunzelte und kam näher an das Gitter heran. »Sieh einmal an! Ihr seid Diebe und habt das Chaos im Palast ausgenutzt und das Allerheiligste der Bişra gestohlen. Ich neige beeindruckt mein Haupt vor soviel Frechheit. Pech für euch, dass euch euer Fluchtweg ausgerechnet in meine Falle lockte, mit der ich eigentlich ein ganz anderes Wild fangen wollte. Gestern hätte ich euch hier oben wie faules Obst hängen lassen, aber jetzt kommt mir euer Angebot gelegen und ich will euch Gnade erweisen. Doch nun lasst mich zuerst die Brillanten sehen, die ihr im Thronsaal erbeutet habt – nicht, dass ich euch nicht trauen würde.«
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 3. Kapitel (5)“
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