Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
3. Kapitel
Ómers Falle
»Das mag stimmen, aber der Tag ist noch nicht vorbei. Lass uns besser aufmerksam und misstrauisch bleiben. Auf mein Pech ist immer Verlass, auf mein Glück eher selten. Wenn ich zum Beispiel den Aufruhr im Palast richtig deute, dann ist es mir nicht gelungen, den Regno vor dem Mordanschlag der Druşba es Sakr zu schützen. Und noch ist die Sonne nicht aufgegangen und wer weiß, wohin uns dieser dunkle Weg führt …« Er blieb stehen, fasste Juel an der Schulter. „Ich habe keine Ahnung, was seit meiner Verwundung mit mir geschehen ist, aber etwas hat sich in mir verändert. Ich spüre mit einem Mal, dass da weiter vorne im Gang eine Gefahr auf uns wartet. In den blutigen Eingeweiden dieses Palastes lauern die ungeheuerlichsten Nachtmahre auf den Tag ihrer Rache.«
»Du hast Vorahnungen? Kannst du plötzlich nicht nur durch Wände, sondern auch durch die Netze sehen, die die Spinnerinnen der Zeit geflochten haben?«
»Nenne meine Empfindungen wie du willst. Das ist auch für mich ganz neu. Du weißt, früher hätte ich jeden, der mit Vorahnungen zu mir gekommen ist, zu einem Heiler geschickt. Aber mit mir ist etwas geschehen, das ich noch nicht ganz begreife und nicht richtig beschreiben kann. Ich spüre ein körperliches Unwohlsein. Und ich denke, dass wir besser nicht weitergehen sollten. Dieser Weg ist nicht gut.«
»Mit einem unguten Gefühl werden wir Jalah kaum überzeugen können, kehrtzumachen. Auch mir erscheint übrigens dieser hier als der vielversprechendste der drei Gänge. Und aus unseren gemeinsamen Unternehmungen weiß ich, dass man den Weg, für den du dich entscheiden würdest, niemals gehen soll. Er führt immer direkt in eine Katastrophe. Ich erinnere dich nur an die Gruft von Aldyr. Wie du sagtest: Auf dein Unglück ist immer Verlass.« Juel sah den immer nervöser werdenden Mönch forschend an. »Es ist entschieden. Wir gehen weiter, aber ich werde vorsichtig sein. Ich verspreche es.«
Er wollte den anderen schon folgen, da nahm ihn Adelf schnell am Arm und hielt ihn auf. »Du magst recht haben. Doch noch etwas anderes, bevor wir den anderen folgen. Du hast wie ich Uland Gosbergs Ausführungen zu den beiden apokryphen Büchern Baruchs gelesen und weißt bestimmt, dass die Augen des Falken nicht irgendwelche Edelsteine sind, sondern eine ungeheure Macht besitzen.«
Juel nickte zustimmend. »Wenn die Legende stimmt, war einer der Steine – der rosafarbene -, die „Träne des Unglückseligen“, also einmal das Eigentum von Máeriqas Rex. Der andere gehörte einstmals König Launin und zierte seine Krone. Man nennt ihn den „blauen Stern von Lux“. Zusammen mit dem grünen Brillanten von Turini Sud, den der Vezir Ómer auf seinem Turban trägt, bildeten sie früher das „Trigon der Macht“, mit dem man angeblich den größten Schatz der Welt finden kann. Das sind doch alte, dumme Geschichten.«
»Ich weiß nicht, aber auch hier habe ich so ein Gefühl … Ist es ratsam, die legendären Edelsteine der Diebesgilde, die nur ihren materiellen Wert schätzt, zu überlassen?«
Juel überlegte, dann hob er die Schultern. »Haben wir eine Wahl?«, fragte er. »Doch nun komm, bevor der Vorsprung der anderen zu groß wird. Wir müssen sie einholen, bevor wir sie verlieren.«
Und so kam es, dass es allein Juel war, der nicht vollkommen unvorbereitet in die Falle tappte, die der Großvezir Ómer für diejenigen vorbereitet hatte, die es wagten, diesen Gang, der zu seinem Fluchtboot führte, zu betreten.
Schon eine ganze Weile begleitete die Flüchtenden das anfänglich kaum hörbare, aber mit jedem Schritt anschwellende Rauschen und Gurgeln eines unterirdischen Wasserlaufs, dem sie immer näher kamen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen der Abwasserkanäle des Palastes, was in ihnen die Hoffnung weckte, dass der gewählte Pfad sie tatsächlich zu der großen Kaverne führte, und sie damit ihrem endgültigen Entkommen näherbrachte. Dann geriet nach einer scharfen Kurve ein hölzerner Steg in ihren Blick, der über einen reißenden und schäumenden, in einem gemauerten Bett eingefangenen Bach führte, der von der einen Seite in einem niedrigen Wasserfall von einer Stufe herabfiel und sich nach einigen Fuß in ein scheinbar bodenloses, gähnendes Abflussloch stürzte. Dahinter endete der Gang vor einer aufwändig geschmiedeten, stählernen Gittertür, die an diesem Ort unpassend erschien. Ihre Stäbe waren so eng, dass sie den Blick auf die dahinterliegende Fortsetzung des Weges verbarg.
Die Brücke sah nicht allzu vertrauenserweckend und recht morsch aus. Semira und Selin zögerten, sie zu betreten, aber Jalah trat mit ihrer Laterne dennoch mutig auf sie, ging bis zu ihrer Mitte und stapfte dort mehrmals mit dem Fuß auf. Die durch den Wasserdampf der Kaskade schlüpfrigen Bohlen erschienen ihr fest genug und nicht allzu sehr von der hohen Luftfeuchtigkeit hier unten angegriffen. Sie winkte dem jungen Paar, ihr zu folgen. Die beiden liefen zu ihr, während Juel und Adelf wegen des kurzen Gesprächs, das sie eben geführt hatten, noch etwas Abstand zu ihnen hatten und gerade erst um die Biegung kamen.
Etwas knackte hässlich und dieses Geräusch war so laut, dass man es trotz des Brüllens des Wassers deutlich hören konnte. Dann teilte sich plötzlich die Brücke in ihrer Mitte, ihre beiden Hälften sackten schräg nach unten ab. Die drei Unglücklichen hatten in ihrer Überraschung keine Gelegenheit mehr, sich noch irgendwo festzuhalten. Sie schlitterten über die Planken und fielen schreiend hinab in das wirbelnde Wasser des Kanals, wurden sofort hilflos von der Strömung mitgerissen und gleich darauf von dem Abfluss verschluckt. Anschließend schwang die Brücke an ihren verborgenen Gelenken zurück in ihre ursprüngliche Lage. Das alles geschah blitzschnell und unerwartet. Juel rannte zwar sofort los, aber die beiden fassungslosen Übriggebliebenen konnten nicht mehr eingreifen.
»Selin! Jalah!«, rief er, doch ihm wurde keine Antwort gegeben. Seine Gefährten waren so plötzlich verschwunden, als hätten sie sich durch einen Zauber in Luft aufgelöst. Hoffentlich war Lärm des Wassers so laut, dass er seine Rufe und die Antworten einfach übertönte und die Abgestürzten waren noch am Leben und nicht schon längst ertrunken. Vielleicht war ja unter dem Abflussloch schon die Kaverne und sie waren nur in den See gefallen. Gleichzeitig war ihm klar, wie gering diese Chance war.
»Bludiqe Hennagreph!«, fluchte der Dicke im nur schwer verständlichen Dialekt seiner Heimat im Nordwesten des Wendlands. »Das wäre auch zu einfach gewesen, wenn wir einfach aus diesem von Inet verdammten Palast spaziert wären. Zefiq!« Was sollte er tun? Den Gefährten hinterherspringen und ihr ungewisses Schicksal teilen? Zurückgehen und einen anderen Weg hinab suchen? Welche Möglichkeiten gab es noch?
Juel hob seine Lampe. Er schätzte die Breite des Kanals ab, aber dieser war viel zu breit, um ihn mit einem Sprung zu überwinden, damit er auf die andere Seite zu der Gittertür gelangte. Selbst wenn er kein dicker, kurzatmiger Mann in mittlerem Alter, sondern noch ein junger Hüpfer gewesen wäre, wäre der Abstand zu groß gewesen. Der Dicke hatte in seiner Jugend trotzdem einige solcher Sprünge gewagt, um den Stadtbütteln von Garda zu entkommen und war prompt jedes Mal nass geworden. In jener fernen Stadt,die an der Mündung des Tryas in die Bucht von Tudasgart lag und deren hölzerne Pfahlbauten auf einem wasserreichen Untergrund standen und von hunderten von Kanälen umflossen wurden, war er in einem Waisenhaus des Ordens der leidenden Gene aufgewachsen. Er zwang sich, diese Erinnerung an seine traurige Jugend, die ihn hinterrücks wie ein Meuchelmörder überfiel, wieder zurück in die sonst so sorgsam verschlossene Truhe zu legen, aus der sie ihm unversehens entkommen war. Dies war nicht der Moment für solche Gedanken. Nein, diesen Sprung traute er sich nicht zu und dem hinfälligen Adelf schon gar nicht. Ihm musste etwas besseres einfallen – und dies so schnell wie möglich!
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 3. Kapitel (2)“
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