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Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – 2. Kapitel (8)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

Die Pupillen von Alis weiteten sich. Er blickte durch den Mönch hindurch in eine unbestimmte Ferne. Was er dort sah, blieb sein letztes Geheimnis, das er mit sich nahm. Aber ein Lächeln spielte auf seinen dünnen Lippen. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge, Die Falten verschwanden auf der Stirn, denn der Tod hatte zwar sein Leben mit sich fortgetragen, aber seinem Antlitz die Unschuld der Jugend zurückgegeben. Sahar legte den Leichnam vorsichtig neben sich und sagte ein paar Worte in der hohen Kirchensprache von Italmar, bevor er sich aufrichtete. Er atmete seufzend ein und wandte sich mitleidig zu Muhar, der sein Gesicht in seinen Händen barg.

»Ich kenne die Art eurer Beziehung nicht und ich habe auch nicht alles verstanden, was er da erzählte, aber Alis hat dir und mir einen Auftrag erteilt, stummer Mann. Wir sollten ihn ehren, indem wir ihn ausführen.«

Muhar nickte schluchzend und kritzelte angelegentlich auf seinen Block, während seine Tränen wie ein unversiegbares Rinnsal auf das Papier tropften. Sahar nahm sein Blatt, das er abriss und ihm entgegenstreckte jedoch nicht an. Er lehnte sich über die Brüstung und suchte unten im Kampfgetümmel nach Galves, der „Schwalbe von Avríl“, dem er dringend den wahren Schuldigen am Mord am Regno mitteilen musste, dessen Namen er gerade durch den greisen Märchenerzähler erfahren hatte. Vielleicht gelang es ihnen gemeinsam, diese sinnlose, blutige Schlacht zu beenden. Denn nachdem Sahar jetzt den Namen der Assassinin kannte, war es hoffentlich noch nicht zu spät, sie einzufangen, bevor sie aus dem Palast flüchten konnte, und sie den Kämpfenden als die wahre Täterin zu präsentieren. Er entdeckte Galves unweit von der Galerie auf einem der langen Tische zwischen den exquisiten Speisen stehend, wo er in arger Bedrängnis war. Mit einem Säbel in der Hand, den er einem seiner Gegner entrissen hatte, kämpfte er mit gleichmütiger Todesverachtung und seinem berühmten Lächeln im Gesicht gegen ein halbes Dutzend Treuwächter gleichzeitig. Sie versuchten vergebens, mit ihren Piken zu ihm durchzudringen und liefen dabei ständig Gefahr, dass ihnen bei einem zu leichtsinnigen Vorstoß von ihm der Schädel gespalten wurde. Sahar nickte Muhar noch einmal zu und rannte dann die Galerie hinab, um Galves zu Hilfe zu eilen.

Der Stumme rutschte näher an den toten Alis heran; nahm seinen kahlen, kleinen und überraschend leichten Kopf in die Hände und barg ihn vorsichtig in seinem Schoß, als würde er einen Säugling hüten und ihn beschützen. Dann bewegte er seinen Oberkörper leicht nach vorne und zurück und summte rau die Melodie eines Wiegenlieds, mit dem man nicht nur in Karukora, sondern in allen Überlebenden Landen kleine Kinder zum Einschlafen brachte, auch wenn kaum mehr jemand die uralte Vorgänger-Sprache verstand, in der es verfasst war:

Philomel, with melody,
Sing in our sweet lullaby;
Lulla, lulla, lullaby; lulla, lulla, lullaby:
Never harm,
Nor spell nor charm,
Come our lovely lady nigh;
So, good-night, with lullaby.

Auf dem Zettel, den Sahar achtlos und ungelesen zu Boden hatte fallen lassen, stand:

»Alis’ Flucht ist gelungen. Um alles weitere werde ich mich nun kümmern. Die Rache ist nicht ganz vollbracht, denn noch sind Radik und der Namenlose am Leben.«

»Wohin so eilig, Miladí da Hiver? Wolltest du wirklich schon vor dem Nachtisch aufbrechen?«

Die schöne Frau, die es sehr eilig gehabt hatte, eine hinter Geißblatt und Efeu verborgene alte Assassinen-Pforte in der Mauer des rückwärtigen Palastgartens zu erreichen, blieb stehen. Sie senkte resignierend den Kopf und ihre langen Haare verbargen kurz ihr bleiches, auf eine herrische Weise atemberaubend schönes Antlitz. Dann drehte sich die Botschafterin der Fünf Städte langsam zu Idrichson Galves und Sahar um und ein eisiger Blick aus ihren großen Augen traf die beiden wie ein Schwerthieb. Sie hatten Miladí ge­rade noch rechtzeitig eingeholt, nachdem sie glücklich dem verzweifelten Kampf der lamargischen Soldaten mit den Treuwächtern im Speisesaal entkom­men waren, der sich langsam zugunsten der karakorischen Armee entschieden hatte. Miladís Bewegungen glichen denen eines Murlons, das sich bereit macht, sich im nächsten Au­genblick auf seine Opfer zu stürzen. Hier, unter den ho­hen Weiden und zwischen den in geometrische Formen geschnittenen Büschen, war die Nacht noch dunkel und schattig. Dem Licht der großen Fa­ckeln auf den Haupt­wegen gelang es kaum, die schwarze, wie ein Netz verwobene Düster­nis kurz vor der morgendlichen Dämmerung aufzuhellen. Trotzdem sah Sahar, wie die grünen Augen der Diplomatin zornig auffunkelten. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, denn vor Sonnenauf­gang war die Nacht empfindlich kalt, wenn man wie sie nur einen tief ausgeschnittenen, seidenen Sarê trug. Ihren unhandlichen, langen Schal hatte sie längst auf ihrer Flucht verloren.

»Ihr zwei habt mir gerade noch gefehlt!«, keuchte sie und rang um Atem. Galves kam ihr einen Schritt entgegen und köpfte dabei lässig mit einer spieleri­schen Be­wegung seines eroberten Säbels eine langstielige Rose, die er auf­hob und sich unter die Nase hielt.

»Ein wenig spät für einen Spaziergang allein im Gar­ten, Gnädigste, findest du nicht? Wir würden uns gerne als deine Begleitung anbieten«, sagte er und sein von seiner Narbe in seine Gesichtszüge geschnittenes Lä­cheln verstärkte sich. Wer ihn kannte, wusste, dass er sich nun in Acht nehmen musste. »Wir stehen zu deiner Verfügung, Miladí Clarick da Hiver. Oder sollte ich dich besser Druşba es Sakr nennen?«

»Ich hätte gut darauf verzichten können, euch zwei Hampelmännern noch einmal zu begegnen«, gab die schöne Frau wütend zur Antwort. Auf die Anschuldigung von Galves ging sie mit keinem Wort ein. Sie hob nicht einmal eine Augenbraue, als der Name der Anführerin der Kalten Hand erwähnt wurde.

»Kein Grund, so unhöflich zu sein, Miladí. Fahre dei­ne Krallen ein. Ich hatte von dir mehr Klasse erwartet. Aber so ist das manchmal: Da blüht eine wunderschöne Rose an meinem Weg, aber sie duftet leider nicht und ihre Dornen sind spitz und giftig. Sie stinkt nach dem kotigen Untergrund, dem sie ent­sprungen ist.«

»Wenn ich dein Niveau nicht erreiche, Schwalbe von Avríl, warum gibst du dich dann weiter mit mir ab?«, erwiderte Miladí spöttisch. Die Beleidigung perlte an ihr ab wie ein Wassertropfen an einem Lotosblatt. »Gehe deines Weges, solange du es noch kannst. Für dich habe ich keinen Auftrag.«

»Dazu ist es längst zu spät.« Galves ließ die Rose acht­los fallen und nahm seine Kampfposition ein. Sahar stellte sich neben ihn und berührte ihn beschwichti­gend an der Schulter.

»Sie scheint nicht bewaffnet zu sein und wir sollten wirklich in Erfahrung bringen, welchen Grund sie hat­te, einen Anschlag auf den Regno zu verüben«, sagte er. Er wandte sich an Miladí, die die beiden nun nachdenklich von der Seite mus­terte. »Ich meine den wahren Grund, nicht diese Fehde von Alis. Ich nehme an, deine vermummte Dienerin hat den Bären vergiftet? Sie stand während des Banketts die ganze Zeit hinter dir.«

»Wen stellst du eigentlich dar, Jüngelchen?«, erwider­te die Botschafterin grob, ohne auf die Anschuldigungen einzugehen. Sie war das Gespräch nun endgültig leid. »Ein einfa­cher Märchenerzähler bist du doch nicht, oder? Bist du vielleicht der Lustknabe von Galves?«

Nun zog auch Sahar seinen schmalen, kurzen Degen, der zwar wie ein Spielzeug aussah, aber in seiner Hand eine tödliche Waffe war. Er schwang den Degen über sei­nem glatten Schädel nach vorne und deutete mit seiner gut geschliffenen Spitze auf die Frau.

»Ich stelle mich dir gerne vor. Ich heiße Sahar Roda Seliman von Italmar, weißer Adept und Eingeweihter der Gemeinschaft der leidenden Gene. Merke dir diesen Na­men gut. Er wird ab heute immer genannt, wenn der deine fällt. Ich suche im Auftrag meines Abbas nach Adelf von Südermar, dem Gesand­ten des Kirchen­staats. Er ist vor einem Monat spurlos verschwunden. Ich will meinen, dass du auch an seinem Verschwinden nicht ganz unschuldig bist, Druşba

[Zum 9. Teil …]

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