„Der Weg in die Hölle ist mit Sofas, Computerspielen, Sudokus, Fernsehen, der Familie, Einkaufen, Essen, mit Faulheit, Verpflichtungen, Müdigkeit, Urlaub, Gartenarbeit, Sprachlosigkeit, dem fehlenden treffenden Wort, Ideenlosigkeit, Kaffeepausen, vollen Mülleimern und leeren Bierkästen, Waagen und Gewichtstabellen, Terminen und ein wenig auch dem Brotverdienst, mit Augenkontakten, Angst vor leeren Blättern, vor Häme, vor Qualitätsmängeln und Qualitätsverlust, vor Kritik und vor Alzheimer, aber auch mit Verdauung, Krankheit, Alter, Kopfschmerz (gleichgültig, ob psychosomatisch oder echt), Geschlechtsverkehr und der Vorbereitung auf denselben, innerer Leere, Bewegungslosigkeit, roten Ampeln, Vojeurismus und vor allem mit Büchern, Büchern und Büchern gepflastert.
Kein Wunder, dass ich auf diesem meinem Weg kaum vorwärtskomme.“
Vorbemerkung des Autors
Haare lassen
Aus dem Leben eines Tunichts
11.03., 10:15 Uhr
Café St. Anna
Die Uhr über dem Eingang kennt kein Zurück, lustig schreitet sie voran, scheint sich selbst überholen zu wollen. Der letzte Rest Schnee dieses Winters tröpfelt eifrig von den schrägen Dächern. Spatzen tummeln sich aufgeregt zwischen den leeren Bistrotischen und Stühlen draußen auf der Terrasse vor dem Café; ich sitze hinter dem großen Fenster allein an meinem Tisch und die Sonne strahlt mir warm ins Gesicht. Eine Tasse Cappuccino steht vor mir und ich wische mir den Schlaf aus den Augen. Mir wäre recht wohl an diesem ersten Frühlingstag, wenn da nicht ein Termin auf mich warten würde.
Es gibt kein Zurück mehr. Gestern noch, als ich den Termin unter dem sanften und zugleich zwingenden Druck meiner Mutter vereinbarte, war ich noch sicher gewesen, irgendwie heil aus der ganzen Sacher herauszukommen. Schließlich lag eine endlose Nacht lag vor mir und ich würde problemlos eine gelungene Ausrede finden. Das ist schließlich meine Spezialität, meine unangefochtene ‚Superheldenkraft’. Ich erzähle Ihnen jetzt mal etwas, aber das bleibt unter uns: Ich bin der Meister der Ausrede, Herr der ausweichenden, wohlgesetzten Worte, der Seitenpfade und versteckten Abkürzungen, der zwar absonderlichen, aber gerade daher umso wahrer klingenden Gespinste. Meine Kunst ist so groß, dass ich, selbst wenn ich tatsächlich einen gewichtigen Grund habe, etwas nicht zu tun, mich lieber mithilfe einer erfundenen lustigen Geschichte rechtfertige, als die langweilige und traurige Wahrheit kundzutun. Ich weiß, wie angeberisch das klingt – und wenn ich das schreibe, klingt es wohl nicht nur so -, aber ich bin bei meinen Lügengespinsten, durch die ich mich von allen möglichen Arbeiten, Verantwortungen, Terminen und Aufträgen drücke, noch nie ertappt worden.
Es gibt den einen oder anderen, der etwas ahnt, meine Eltern natürlich, und auch mein Bruder Lukas; am hartnäckigsten auf meiner Fährte ist mein Seminarleiter, Herr Hubertus Wandelbauer, der seit zwei Jahren, seit er die Kollegstufe übernommen hat, meine Ausreden fürs morgendliche Zuspätkommen sammelt und daraus einen eigenen Ordner erstellt hat, den er ‚Leitfaden zum kreativen Schuleschwänzen’ nennt und nur noch keinen Verlag gefunden hat, ihn zu veröffentlichen. Ich weiß davon, weil er dieses recht umfangreiche Vademecum der Redaktion der Abiturzeitung zur Verfügung gestellt hat, wo ich zwar ein zwangsrekrutiertes Mitglied bin, mich bislang aber erfolgreich davor gedrückt habe, die von mir versprochenen Artikel auch abzuliefern. Wenn die rothaarige Jeanette aus dem Physikkurs nicht ebenfalls mitmachen würde, würde ich auch bei den Redaktionssitzungen nicht mehr auftauchen.
Ich weiß, Sie stellen sich jetzt die Frage, was ich mit dem ganzen Freiraum mache, den ich mir so mühselig – unter Aufwendung meiner ganzen Leistungskraft und Phantasie – verschaffe, jener Zeit, die ich gewinne, indem ich den Dingen aus dem Weg gehe, die ich eigentlich erledigen sollte. Nun, in aller Regel mache ich dann nichts, ruhe von der erschöpfenden Flucht vor der Verantwortung aus. Das mag nicht sehr aufregend klingen, ich weiß, aber es ist genau das, was mir zukommt. Ich bin überzeugt, dass mich Gott zu diesem Zweck geschaffen hat, dass es der Urgrund meines Seins ist, als bewegungslose, lässig am Bildrand im Gras hingestreckte Genrefigur zu wirken, eine auf den ersten Blick unwichtige, schemenhafte Gestalt zu sein, deren Fehlen dem Gesamtbild ein schmerzliches Ungleichgewicht geben, die Komposition zerstören würde.
Kennen Sie zum Beispiel das Gemälde ‚Der Mittag’ von Caspar David Friedrich? Sie haben doch einen PC!; ‚googlen’ Sie es, es gibt gute Abbildungen davon im Internet. Sehen Sie neben der Gruppe Kiefern da links einen Mann, auf seinen Spazierstock gelehnt, im Gras neben den Maulwurfshügeln stehen? Das bin ich. Stellen Sie sich nun vor, jemand hätte mich übermalt oder meinetwegen entfernen Sie mich mit einem Bildbearbeitungsprogramm selbst. Da wäre nur diese weite brandenburgische Landschaft, die feuchte Wiese, ein paar Bäume; auch der Wanderer rechts auf dem Weg hätte das Bild bereits verlassen – wie leer und bedeutungslos wäre das alles, das Auge glitte ohne Anhaltspunkt über den Ölschinken, Achselzucken – langweilig!
Bei den unzähligen Milliarden Individuen auf dieser unter ihrem Gewicht stöhnenden Erde muss es eben auch solche wie mich geben, Nebenfiguren, die niemandem weiter ins Auge fallen, von denen man sich auch nicht vorstellen kann, sie je zu vermissen, die aber eine wirbelnde und schwindelerregende Leere hinterlassen, wenn sie fehlen. Ich fülle eine Lücke aus, an der die Welt auseinanderzuklaffen und ins Chaos zu stürzen droht. Ohne meine Anwesenheit an genau diesem Ort würde alles zerreißen und untergehen. Ich bin der Faden, mit dem Gott den Kosmos zusammengenäht hat, ich allein verhindere die Entropie! Wenn das nicht alle Anstrengung wert ist, zu der ich schwacher Mensch fähig bin, dann nennen Sie mir einen besseren Grund, um zu leben. Ich für meinen Teil habe keinen gefunden und verteidige daher das Nichtstun mit aller Kraft; es ist das Lohnendste und zugleich Schwerste überhaupt; ich packe den Stier an den Hörnern und zwinge ihn in den Staub!
Reicht es da nicht schon, dass ich oft genug den ermüdenden Konventionen und Regeln folgen muss, die mir mein soziales Leben aufzwingt und die mir mein für die Welt so wichtiges Nichtstun sauer machen? Wenn ich also in die Schule gehe, einen Alltag im Rahmen meiner Rolle als Sohn, Bruder oder Freund nachgehe, mich mit lästigen Dingen wie Waschen, Schlafen, Essen, Zähneputzen, An- und Ausziehen, im Haushalt helfen, Lernen, am öffentlichen Nahverkehr und am Unterricht teilnehmen – dort zumindest körperlich anwesend sein -, wenn ich also all diese Dinge betrachte und noch tausend andere dazu; denn ich habe noch nicht die zeitraubenden Sozialkontakte erwähnt: Dann fühle ich mich von mir selbst getrennt und ausgehöhlt, verliere ich mich. Daher muss ich mir die wichtigen Freiräume durch meine Ausflüchte schaffen. Wenn ich also irgendwo – im Winter zumeist in meinem Zimmer oder in einem Café, im Sommer in einem Stadtpark (Ich präferiere den Hofgarten) – sitze und nichts mache, fühle ich mich geborgen, identisch, echt. Manchmal, wenn meine Augen vom Sehen vollgefüllt sind, kurz bevor sie sich ermattet zum Schlafe schließen, gelingt es mir, mein Empfinden in ein paar Gedichtzeilen zu fassen oder – seltener – einen Text wie diesen zu beginnen. Vielleicht greife ich auch zu meiner Gitarre, falle aber bald in einen leichten und traumlosen, dabei erfrischenden Schlaf, der mir die Kraft schenkt, meinen schweren Alltag weiter zu bestehen.
Leider wird dieses Leben, das so wichtig ist, immer wieder von unvorhergesehenen Ereignissen unterbrochen, die meine ganze Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Kraft erfordern, um ihnen auszuweichen. Das sind Besonderheiten, die mein ordentlich eingerichtetes Leben zwischen sozialem Funktionieren und Nichtstun unter den wohlwollenden Blicken des Herrgotts gefährden. Als da zum Beispiel sind: Verwandtenbesuche, Kleidungskauf, die ein- bis zweimal im Monat zu Tage tretende Zwangsneurose meine Eltern, sich und ihre Söhne bewegen zu müssen, sie auf Berge zu ziehen oder in Museen zu drängen. Dies ist übrigens für meinen degenerierten Bruder ebenso lästig wie für mich. Er will sein Leben ausschließlich vor seinem Computer hockend verbringen, ist aber aufgrund seiner geistigen Defizite nicht wie ich in der Lage, den massiven Angriffen auf seine Lebensweise durch seine rhetorischen Fähigkeiten auszuweichen. Denn er besitzt keine. Lukas folgt daher wesentlich häufiger als ich den kulturellen Pfaden der Eltern, wo er doch lieber Horden von Orks niedermetzeln oder seinen privaten 2. Weltkrieg gewinnen oder via Snapchat mit seinen Kumpeln in rudimentärem und stümperhaftem Deutsch Belanglosigkeiten über Deutschrockgruppen und Fotos von knapp gekleideten Mädchen austauschen würde.
Von all diesen Angriffen auf meinen weise geordneten Alltag ist die schlimmste vielleicht – neben einem Zweiwochenaktivurlaub in Niederbayerischer Bäderlandschaft -, die plötzlich aus dem Nichts auftauchende Anmutung meiner Mutter, ich müsse mir nun mal endlich wieder die Haare schneiden lassen. Auf der einen Seite wäre es sicherlich praktisch, wenn meine Haare immer kurz bleiben könnten, schnell trockneten und nicht fettig in die Augen und sich in einer Außenwelle lockend auf die Schultern fielen, aber da der Herrgott das Vergehen der Zeit nicht mit der Uhr, sondern mit dem Wachsen der Haare und Nägel seiner Geschöpfe misst, ist der Ausbruch meiner Mutter, meist Sonntagmorgens am Frühstückstisch geäußert, nahezu blasphemisch:
„Herrgott, deine Haare! Du musst nächste Woche unbedingt zum Friseur.“
Hier ist es das Beste, nickend Zustimmung zu heucheln und darauf zu hoffen, dass sie über den Drangsalen ihrer geschäftigen Woche alles wieder vergessen würde – was übrigens nach ihrem ersten Ausbruch noch recht wahrscheinlich ist. Aber nun ist die Sache auf der Welt, der Gedanke ausgesprochen, auf Wittgensteinsche Art denkbar geworden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich wieder auf ihrer Zunge manifestieren wird und diesmal um so nachdrücklicher und apodiktisch. Nun ist meine ganze Geschicklichkeit im Erfinden von Ausreden gefordert, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, den partiellen Verlust meiner prächtigen Haartolle in einer demütigenden Foltersitzung, einer Form von waterboarding mit Verstümmelung, die dazu unverschämt viel Geld kostet, zu verlieren. Mit Douglas Adams bin ich der Meinung, dass Friseure und Steuerberater zu den nutzlosen Berufen zählen – ich würde noch Autohändler und Soldaten dazuzählen. Die verzichtbarsten unter diesen Professionen sind zweifelsohne die ausgebildeten Haarschneider, die sich selbst mit einem Apostroph-s schreiben. Was ist das für eine Welt, in der ich leben muss und in der es mehr Coiffeure als Buchhändler gibt? In meiner Not habe ich sogar schon einmal versucht, mir selbst die Haare zu schneiden, aber das Ergebnis war zumindest in den Augen meiner Mutter so zweifelhaft, dass sie mich persönlich zu einem Haircutter schleppte, der mir einen Archipel-Gulag-Bürstenkopf verpasste, der meine Klassenkameraden zu einem wochenanhaltenden Hohngelächter provozierte, das ich manchmal aus einem lusziden Traum aufschreckend noch heute vermeine dröhnen zu hören. Mir war nicht einmal die Gnade eines zweifelhaften Wetters und damit eine Mütze vergönnt, nein, die Sonne beschien fröhlich meinen kahlen Kopf, bis die Zeit auch diese Wunde heilte und der Herrgott Haare über der ganzen Sache wachsen ließ.
Und nun sitze ich in einem Café neben der St. Anna-Kirche und warte auf meinen Termin beim Friseur. Diesmal hat keine Ausrede gewirkt. Und schlimmer: Ich weiß nun keine mehr.
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