Heute ist der Todestag des Weimarer Geheimrats, dessen Haus am Frauenplan auf dem Foto zu sehen ist. Aus diesem Anlass gibt es einen Ausschnitt aus dem 3. Teil meiner “Dr. Geltsamers erinnerte Memoiren”, in dem E. A. Poe und sein Freund C. Auguste Dupin versuchen, Goethes Ermordung zu verhindern. Viel Vergnügen!
‚Mit solchem Rätselkram verschone mich!
Und kurz und gut: was solls? Erkläre dich!’
Goethe, Faust II
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Die Zufalls-Theorie oder, wie die Mathematiker sie exakter benennen, die Wahrscheinlichkeits-Rechnung, hat eine bemerkenswerte Eigenthümlichkeit an sich: Ihre Richtigkeit im Allgemeinen steht in direkter Proportion zu ihrer Unrichtigkeit im Besonderen. Und was an Geheimnisvollem auch den ruhigsten Denker gelegentlich mit einem vagen, den Schrecken weckenden Halbglauben an das Übernatürliche durchschauert, ist trotz offensichtlichem Wundercharakter oft nicht mehr als ein Zusammenkommen bloszer Zufälle, die im Kleinen doch Beweis sind für das vom Herrn Bernoulli formulierte Theorem der groszen Zahlen. Deshalb muss ein präziser, mit klarem Verstande begabter Mann namentlich in den Dingen der Logik immer auch das Unwahrscheinlichste und Absurdeste in Rechnung stellen und den gröszten Teil der Wahrheit wird er aus dem scheinbar Irrelevanten gewinnen.
An einem recht sturmwindigen Abend Anfangs März des Jahres 1832 kehrte ich im Auftrage des New Yorker Mercury nach Paris zurück, um dem amerikanischen Publikum in einer Artikelserie von dem neuen Frankreich unter Louis Philippe Mitteilung zu machen. Freilich führte mich mein erster Weg nicht zur Dependance der Wochenzeitung in der Rue de Vermicelle, sondern zu meinem alten Freund C. Auguste Dupin, den ich, wie ich erwartet hatte, in seiner kleinen, nach hinten hinaus gelegenen Bibliothek, au troisième, No. 33, Rue Dunôt, Faubourg St. Germain antraf. Da ich ihn von meiner Ankunft nicht benachrichtigt hatte, erwartete ich, ihn beim zwiefachen Genusse einer Meditation und einer Meerschaumpfeife zu überraschen.
Zu meinem nicht geringen Verstaunen traf ich ihn jedoch bei den Vorbereitungen zu einer Reise an, die ihn, nach der Grösze des Schrankkoffers zu urteilen, in dem er seine Bücher verstaute, mindestens bis zur Insel Sumatra führen musste. „Ah, Edgar, da sind Sie ja endlich! Ich habe Ihre Ankunft schon für heute Nachmittag erwartet. Die Post wurde wohl aufgrund des Wetters aufgehalten?“, rief Dupin seltsam erregt aus und umarmte mich so flüchtig, als hätten wir uns nicht vor Jahren, sondern erst vor Stunden getrennt.
„Aber Dupin“, erwiderte ich ernstlich verstaunt, „dies geht über mein Begreifen. Ich stehe nicht an zu sagen, dass ich bestürzt bin, und mag meinen Sinnen kaum trauen. Wie war es möglich – wie konnten Sie von meiner Ankunft wissen?“ Hier hielt ich inne und musterte ihn scharf. Erneut war es ihm gelungen, mich mit seiner analytischen Begabung zu überraschen. Er lächelte mich freundlich an; er schien wie früher ein ausgesprochenes Vergnügen an ihrer Übung – wenn nicht gar ihrer pomphaften Zurschaustellung – zu finden.
„Nicht jetzt“, hob er abwehrend die Hand, „wir werden in den nächsten Tagen zur Genüge Gelegenheiten finden, uns auszutauschen. Und ich will nicht zurückstehen, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich darüber freue. Aber nun drängt uns Wichtigeres!“ Er griff in seine weinrote Hausjacke. Obgleich Dupin durch die Affaire um den stibitzten königlichen Brief zu einigem Wohlstand gelangt war, hatte er sich noch immer nicht von diesem fadenscheinigen und häszlichen Kleidungsstück trennen können, in dessen unergründlichen Taschen er den gröszten Teil seines Hausrates aufbewahrte. Und wirklich beförderte er nach kurzer Suche einen Brief zu Tage, den er mir überreichte. „Es steht mir fern, dramatisch klingen zu wollen, aber es geht für dieses Mal wohl um Leben und Tod. Deshalb finden Sie mich auch in einer aufgelösten und Ihnen noch nicht angemessen erscheinenden Eile. Aber lesen Sie selbst, mein lieber Edgar, lesen und urteilen Sie“, drängte er mich. Ich öffnete den Brief, der nur aus einem einzigen Blatt bestand und erstaunte mich über den Absender:
‚treu angehörig – Weimar am Freitag den 17. Februar 1832 – J. W. v. Goethe’, las ich auf Deutsch am Ende der Seite in einer unruhigen, aber gut leserlichen Handschrift.
„Goethe? Dupin, Sie überraschen mich aufs Neue. Sie befinden sich im Briefwechsel mit dem Deutschen Dichterfürsten!“
„Nun, der alte monsieur conseiller ist ein fleißiger Briefeschreiber“, erwiderte Dupin ruhig, während er erneut das Kofferpacken aufnahm. “Zumalen er seine correspondence schon seit Jahren seinem Sekretär John diktiert. Obgleich meine Wenigkeit ebenfalls eine dichterische Ader pochen fühlt, ist es doch eher die gemeinsame Liebe zur Wissenschaft, die unseren Gedankenaustausch förderte.“ Ich nickte verwirrt. Wie wenig wusste ich von diesem Menschen, mit dem ich während meines ersten Parisaufenthalts die Wohnung geteilt hatte und der zu den wenigen Freunden zählte, die ich auf der Welt hatte. Umso mehr interessierte mich daher, welcher Natur der Briefwechsel zwischen Dupin und Goethe war. Ich öffnete also erneut das Blatt und las:
‚Nach einer langen unwillkürlichen Pause habe ich auf Ihr sehr wertes Schreiben, mein Teuerster, wahrhaftest zu erwidern, dass ich in unsrer gemeinsamen Sache einige Fortschritte getan.
Wir sind einig, Dupin, es war nicht Schillers Sache, mit einer gewissen Bewusstlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren, vielmehr musste er mit mir über jedes, was er tat, reflektieren; woher es auch kam, dass er über seine Ideen nicht unterlassen konnte, sehr viel hin und her zu reden, so dass er alle seine Stücke mit mir durchgesprochen hat. Dies gilt auch für die von Ihnen in Erwähnung gebrachte abgebrochne Erzählung, die in der Tat, wesgleichen Sie insistierten, auf einem Zeitungsbericht beruhte, der Schillern in Jena um 1790 begegnete.
Es ist ein eignes Ding mit der Erinnerung, sie erweiset sich wie ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es fassen und zu besitzen glauben, unseren Armen doch wieder entschlüpft. Ich teilte Ihnen noch in meinem letzten Briefe mit, ich hätte kein Gedächtnis von der Geschichte und ihrer Fortsetzung, so wenig als ich vom Abschluss der Geisterseher wüsste – habe mich jedoch geirrt. Tatsächlich ist mir bei einer Durchsicht meiner grenzenlosen Papiere der Name der Gräfin wieder eingefallen und ich weiß plötzlich auch erneut ob der Mutmaszungen, die Schiller um den gewaltsamen Tod ihrer Ehegatten angestellt und wen er dieser ruchlosen Taten verdächtig machte.
Verzeihen Sie, Dupin, einem alten Manne, wenn seine Erinnerungen ein wenig sprunghaft erscheinen; verzeihen Sie ihm abermalen, wenn er einer Grille, die ihm durchs Gehirn lief, nachging und in seinen Akten ein wenig Polizeicommissar spielte; denn der Mensch will immer tätig sein und kann und soll seine Eigenschaften weder ablegen noch verleugnen. Gar selten tut er sich selbst genug, desto tröstender ist es, andern genug getan zu haben:
Daher darf ich Ihnen die Mitteilung weiterreichen, die verwitwete Gräfin Bianca von Hohenlohe – da steht nun endlich ihr Name –, lebe noch und erfreue sich guter Gesundheit. Sie habe sich nach dem so tragischen wie rätselhaften Tode ihres vierten Gatten nicht mehr verheiratet und lebe von der Welt geschieden auf dem Gute ihres sel. Vaters, des Grafen Ludewig von Metzenstein, im Thüringischen. Bei einem unserer wöchentlichen Treffen gelang es mir nun, die Groszherzogin Maria Pawlowna zu bereden, die Gräfin zum Frühlingsfest an den Hof zu laden. Ich bin überzeugt, aus dem Munde der Hauptperson Näheres über unseren Fall und darüber zu erfahren, ob denn Schillern mit seiner Verdächtigung betreffs der Morde recht dachte oder ob es ihm an den Kräften fehlte, die eigenthümlichen und wahren Motive zu finden.
Verzeihung diesem verspäteten Blatte! Ohngeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich die Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag.
treu angehörig – Weimar am Freitag den 17. Februar 1832 – J. W. v. Goethe’
Ich legte das wertvolle Papier vorsichtig auf den Büchertisch. „Ein interessanter Brief, Dupin, in der Tat! Auch wenn ich nicht behaupten kann, alles verstanden zu haben. Aber aus welchem Grund meinen Sie denn, es ginge hier um Leben und Tod? Und weshalb packen Sie? Sie fahren doch wohl nicht nach Deutschland -“
„- direkten Wegs ins Groszherzogtum von Sachsen-Weimar-Eisenach, an den Frauenplan zu Weimar, zu dem Herrn Geheimen Rat Goethe, um explizit zu sein. Ich habe eine Privatpost abonniert, die uns noch heute Nacht gen Frankfurt befördert. Ach, was gäbe ich für eine Personenbahn, wie sie eben zwischen Manchester und Liverpool eröffnet wurde. Die Zeit läuft uns davon! Wenn ich den Brief nur eher bekommen hätte!“ Mit diesen zornigen Worten warf mein Freund ein letztes Buch in seinen Koffer und schloss ihn mit Nachdruck. Nun erst sah er auf und mein Erstaunen. Er seufzte leise und kramte aus der abgründigen Jackentasche seine Uhr hervor. Dann setzte er sich in seinen Ohrensessel und wies auf meinen Platz ihm gegenüber, der mir nicht danach aussah, als habe ihn Dupin in den Jahren, in denen ich ihn nicht mehr beansprucht hatte, jemals verrutscht. Und während ich mich ebenfalls setzte, war mir, als wäre ich in der Zeit zurückgegangen zu jenen Abenden, an denen wir hier nur mit der Hilfe der Verstandeskraft – Dupins, versteht sich – die rätselhaftesten Verbrechen aufzuklären vermochten. „Einige Minuten werden uns noch bleiben, teurer Edgar. Sie haben doch, wie ich vermute, Ihr Gepäck noch bei sich“, sagte Dupin und führte mich zurück in die Gegenwart dieses unfreundlichen Märzabends. Wie immer blätterte er in meinen Gedanken wie in einem geöffneten Buche.
„Da ich direkten Weges von der Kutsche zu Ihnen eilte – ließ ich die Koffer unten bei der Concierge unterstellen – hoffte ich doch wieder bei Ihnen Wohnung und Logis zu finden. Aber ist denn der Herr von Goethe krank? Sein Brief rechtfertigt ein solches Vermuten nicht.“
„Nach dem plötzlichen Tode seines Sohnes August vor zwei Jahren in Rom schien es schon mit ihm zu Ende zu gehen, aber nun erfreut sich der Geheimrat – soweit mir bekannt – wieder einer für sein hohes Alter ordentlichen Gesundheit; wenngleich mir sein Herz angegriffen erscheint. Er meidet Tod und Leiden jedoch wie der Teufel das Weihwasser. Nach seinem Brief muss ich allerdings besorgen, dass er sich eben jenen ins Haus geholt hat.“
„Sie sprechen von der Witwe, Dupin, jener Gräfin zu Hohenloh“, vermutete ich.
„Oder von ihrem Umfeld – wir wollen da keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die objektive Tatsache ist nun: Diese wahrhaft ‚schwarze Witwe‘ hat alle ihre Ehemänner überlebt und jeder von ihnen wurde aufs Grausamste ermordet.“ Dupin legte wie in einem Gebet die Finger aneinander und hob sie an seine Lippen. Er genoss diese dramatischen Pausen. „Ja, ich fürchte auf das Schlimmste“, folgerte er dann besorgt und schien gewillt, weitere Mitteilungen zu machen. In diesem Moment wurde er jedoch in seinen interessanten Ausführungen von der Concierge gestört, die an die Tür der Lesestube klopfte und die Ankunft der bestellten Extrapost meldete. Dupin sprang auf.
„Die Gräfin wird zum Frühlingsfest in Weimar erwartet. Folglich müssen wir unbedingt vor ihr beim alten Goethen sein“, rief er. „Helfen Sie mir mit meinem Koffer, Edgar? Was stehen Sie denn da herum? So kommen Sie, jede Minute ist kostbar. Hätten Sie sich nicht verspätet, könnten wir morgen früh schon in Reims sein.“ Gehorsam trat ich vor.
„Aber, Dupin, denken Sie an meine Arbeit. Ich kann doch nicht einfach –“, fiel mir ein. Ich liesz den Koffer wieder fallen. Dupin stolperte mit seinem Gewicht nach vorn.
„Mache Sie sich keine Gedanken, dafür ist längst eine Lösung gefunden. Ich habe kürzlich die Bekanntschaft eines jungen Deutschen gemacht, der gleich Ihnen vor Ort ist, für seine Zeitung über die Französischen Zustände zu berichten. Er wird Ihnen seinen Artikel für den März überlassen; sie brauchen ihn dann nur mehr ins Amerikanische zu übertragen. Und seien Sie versichert, dieser Herr Henri Heine denkt so republikanisch wie Ihr Publikum in den Staaten.“ Was konnte ich noch sagen, welche Ausflüchte vorbringen? Bin ich doch immer leicht formbares Wachs in den Händen meines Freundes gewesen und – ich gestehs! – nur allzu leicht zu solch einem formidablen Abenteuer zu überreden, das mich zudem der Bekanntschaft eines bewunderten Dichters nahebrachte –, spielte ich doch nach meiner unglücklichen Militärzeit ernsthaft mit dem Gedanken, ebenfalls Schriftsteller und berühmt zu werden. So darf es nicht Wunder machen, dass ich entschlossen Dupins Schrankkoffer wieder aufnahm und uns der Dämmer eines windigen und regnerischen Märzmorgens bereits etliche Meilen hinter Paris über aufgeweichte und holprige Landstraszen eilend fand, mit dem Ziel, das Leben des Herrn von Goethe zu retten.
Schauerliche Stunden lagen hinter uns, in denen ich keinen Moment Ruhe gefunden hatte. Doch obgleich der mutige Kutscher die Gefahren solch einer Reise in den schwärzesten Farben ausgemalt und allein durch ein beträchtliches Zugeld überredbar war, die Nacht hindurchzufahren, hatte er die Miet-Chaise treulich durch Sturm und düsterste Finsternis gebracht. Allein durch das unsichere Licht der beiden Sturmlaternen beschienen ging die Fahrt über verwirrende Waldwege und Wiesenstrecken. Mehr als einmal näherten sich die Räder gefährlich dem Straßengraben und schlitterten in Kurven schmatzend zur Seite. Aber die Pferde griffen tüchtig aus, angefeuert von den mal schmeichelnden, mal drohenden Schimpfwörtern des Kutschers. Dupin schlief bereits, bevor wir die Pariser Vororte hinter uns gelassen, lehnte gegen sein kleines Felleisen, des einzigen Gepäckstücks, das er neben dem Bücherkoffer mit sich führte und sah so geborgen aus wie in seinem Sessel in der Rue Dunôt, wenn ihn der Schlaf über einer Lektüre überrascht hatte. Natürlich brannte ich auf weitere Informationen, aber ich liesz ihn ruhen. Da wir in Etwa fünf bis acht Tage bis Weimar unterwegs waren, hatte ein klärendes Gespräch keine Eile.
Mit dem trüben Licht des Morgens ging dem Sturm die Wut verlustig, aber es regnete nach dem ersten Pferdewechsel noch immer fleiszig und unverdrossen, wie sittsame Mädchen des Nachmittags unaufhaltsam spinnen: Die Räder der engen Chaise schnurrten, die Tropfen klatschten an die Fenster, es war aschgraues, französisches Wetter. In solch schmutzigem Reitermantel lagen die brachen Felder der Ile de France auf dem Wege; da tat ich ebenfalls die Augen zu und rekapitulierte mein ganzes Leben, wie ich das immer mache, wenn ich auf Reisen gehe. Erschöpft von meinem Leben und von Frankreich, schlief auch ich und hatte einen gar seltsamen Traum:
Mir war, ich stünde im engen Hof eines brennenden Schlosses. Die Flammen brüllten im ersten Stock, ein heiszer Wind trieb mir glühende Funken ins Gesicht. Voller Angst suchte ich inmitten des wirbelnden Chaos dieses sturmverworrenen Feuers nach einem Ausgang, nach dem rettenden Tor. Da war es! – und es barst auseinander. Blutige Flammengarben stoben in alle Richtungen – und in der Mitte erblickte ich ein Ross und auf ihm, barhäuptig und wüst zugerichtet, einen Reiter. Es war Dupin! Er vermochte dem Galopp keinen Einhalt zu gebieten. Seine schmerzverzerrten Züge, seine ganze, krampfhaft zuckende, kämpfende Gestalt erweckten mein Mitleiden. Er öffnete die zerrissenen Lippen, welche im Entsetzen durchgebissen waren, rief ein Wort. Es war deutsch, aber ich vermochte ihn nicht zu verstehen. Das Hämmern der Hufe erscholl scharf auf dem Pflaster. Das Ross bäumte sich auf und sprengte über mich hinweg.
Ich schrie und erwachte – blickte in Dupins lächelndes Gesicht, das keineswegs ruszverschmiert und verbrannt war. Die Hufe donnerten noch immer, aber sie gehörten den Pferden, die unsere kleine Post eilig durch Regen und Wind gen Teutschland trugen.
„Das war ja wahrlich ein Teufelspferd, das ich da ritt, Edgar“, sagte Dupin spöttisch und reichte mir ein Glas mit Wein, den er während meines unruhigen Schlafes geöffnet hatte. Ich nahm es noch zitternd in die Hand, verschüttete ein paar Tropfen, als ich es zum Munde führte. Erst dabei wurde mir bewusst, was Dupin gesagt hatte.
„Woher, zum Teufel! – wussten Sie jetzt, was ich träumte? Es reicht mir mit Ihren sybillinischen Offenbarungen, legen Sie endlich die Quellen ihrer Weissagungen blosz. Oder können Sie meine Gedanken lesen? Mein Gott, Dupin, ich bin es leid“, redete ich mich in eine Rage, die durch die Tatsache, dass ich meinen Reiserock mit wertvollem süszem Bordeaux ruinierte, noch wuchs.
Mein Freund lachte auf und prostete mir zu. „So ist es recht! Garde! Dabei war es nachgerade die Einfachheit der Sache, die Ihnen den Blick verstellte, Edgar. Ihre romantische Ader und Ihre Beschäftigung mit Mesmerismus und Magnetismus führt Sie schnurstracks von dem Pfad der Wahrscheinlichkeit in den Sumpf der Spekulation. Das Wunderbare ist Ihnen überzeugender als das Offensichtliche. Sie erwarten jederzeit von mir nichts geringeres als den Beweis meines sagenhaften analytischen Vermögens. Ein Mirakel ist Ihnen dabei lieber als eine langweilige und einfache Begründung, die auf schlichter Beobachtung beruht. Sehen Sie, mein lieber amerikanischer Freund, auch deshalb liebe ich Schiller: Er hält nichts von Flüchen, die Adelshäuser vernichten, von teuflischen Mächten und finstren Gestalten in düstrer Nacht, von mesmerschen Offenbarungen und von Geistererscheinungen, dieser ganzen Seuche, mit der Mr Walpoles ‚Schloß Ortranto’ die Literatur infizierte …“
„Ich erinnere Sie jedoch an Schillers unvollendeten Roman, die ‚Geisterseher’, ein Buch, das ich gerne und oft gelesen habe“, warf ich ein.
„Eben – ich betrachte den Prinzen von …d… als ein Vorbild. Erinnern Sie sich, Edgar: Der Prinz erklärt die geheimnisvolle Seance auf einfachste Weise als das, was sie war – nur ein gerissener Taschenspielertrick eines Gauners.“
„Und Ihre Weissagungen, sind das auch nur geschickte Gaunereien?“ Dupin nickte und lachte erneut.
„In gewisser Weise … Sie sprachen im Schlaf, Edgar. ‚Oh, was für ein schreckliches Ross. Oh, Dupin! Schnell – steigen Sie herab! Reiten Sie nicht in den Feuerschlund!’ Die letzten Wörter habe ich allerdings nicht verstanden. Sie klangen deutsch, so ähnlich wie ‚Metzger‘ und ‚Stein‘.“ Er tippte sich an die Nase. „Ich frage mich manchmal, was solche Traumgesichter zu bedeuten haben, welches Band sie an die Wirklichkeit fesselt. Vieles bleibt uns Heutigen in der Psyche des Menschen verborgen. Es ist an der Zeit, dass auch die Seele ihren Napoleon findet und einen Linné, um sie zu katalogisieren.“
„Das beiseite – weshalb Sie mich gestern des Abends bereits erwarteten –, ist die Erklärung ebenso einfach?“
„In der Tat. Mich wundert, dass Sie nicht selbst darauf stieszen. Ich lese doch Zeitungen, fürwahr die lohnendste Lektüre in dieser Zeit. Ich bin auch auf den Mercury abonniert, der es sich nicht nehmen liesz, Ihre Europafahrt in zwei Spalten anzukündigen. Die Zeitung wurde mit dem gleichen Schiff wie Sie über den Atlantik gebracht. Ich hielt das Blatt allerdings bereits am Morgen in Händen, da es nicht gleich Ihnen über Nacht in Calais verblieb. Also brauchte ich nur mehr einige kleinere Erkundigungen einzuziehen und wusste, wann sie planmäszig eintreffen würden – das Pariser Büro von Lloyd`s ist sehr zuverlässig. Es hat mir schon häufig gute Dienste erwiesen. Ich erhoffte Sie allerdings schon etwas früher …“
„Die Post wurde bedauerlicherweise durch den Sturm aufgehalten.“
„Um wieviel mehr freut mich deshalb Ihre rasche Bereitschaft, mich auf diesem Abenteuer zu begleiten, Edgar. Es ist nun aber wohl an der Zeit, Ihnen ein wenig mehr über den düstren Fall mitzuteilen. Lesen Sie zuerst diesen Balladenentwurf und dann diese Dichtung von Schiller und sagen Sie mir, was Sie davon halten.“ Dupin griff in seine abgründige Weste und reichte mir zwei Bögen, auf die er mit seiner eigenartig nach links geneigten Handschrift einen kurzen deutschen Text und auf das andere ein Gedicht abgeschrieben hatte. Wie gewünscht las ich zuerst den abgebrochnen Plan Schillers für eine Ballade:
„Bianca, eine reiche und edle Gräfin von …, war dreimal vermählt worden, und allemal hatte man den Bräutigam getötet am anderen Morgen gefunden. Die allgemeine Sage ging, dass ein Geist, der in der Burg hause und dem nicht zu entfliehen sei, dieses getan. Kein Freier wollte sich mehr zeigen, so schön, reich und edel auch die Gräfin war und so geneigt auch ihr Vater gewesen sein würde, seine Einwilligung zu geben. Sie hatte von ihren Männern keinen geliebt und blosz den Willen ihres Vaters vollzogen. Ein junger Edelmann, mutig und verliebt, hörte von dieser Geschichte. Er sah die Braut, sie bezauberte ihn, und er beschloss, sein Glück zu versuchen. Man will ihn abschrecken, er spottet über den Aberglauben und trägt sich ihrem Vater an. Diesem gefällt er auszerordentlich, aber eben darum will der Vater die Heirat nicht zugeben. Don Leira wendet sich an die Schöne selbst, die für ihn die erste Liebe empfindet, aber eben darum davor schaudert, ihm ihre Hand zu geben, weil sie ihn für unrettbar verloren hält. Er bringt es aber doch zuletzt dahin, dass in die Vermählung gewilligt wird, er führt sie zum Altar und fühlt sich als den glücklichsten Menschen im Besitz s. schönen Geliebten.
Die Nacht kommt heran …“ Kopfschüttelnd legte ich das erste Blatt zur Seite und beschäftigte mich mit dem Gedicht auf dem zweiten:
„Der Gräfin von H.
W.o du bist und wo dich hingewendet,
wie dein flücht’ger Schatten mir entschwebt?
Hast du nicht beschlossen und geendet,
hast du nicht geliebt, gelebt?
da werd ich dich wiederfinden,
wenn mein Leben unserm Lieben gleicht;
dort ist auch der Vater, frei von allen Sünden,
dorT ihn blut’ger Mord nie mehr erreicht.
ächzend stöhnt, dass ihn ein Wahn betrogen,
stumm er aufwärts zu den Sternen sah,
sieh, wie jeder wiegt, wird ihm gewogen.
Herr! – du glaubst, so ist der Morgen nah.“
Ich legte auch den zweiten Bogen zur Seite und geriet in starke Versuchung, mit meinen Schultern zu zucken. Was war mir entgangen, das Dupin in den beiden Texten gefunden haben mochte und ihm so auszerordendlich erschien? – Auf mich wirkten sie doch höchst gewöhnlich und – frisch und ehrlich gesagt – hielt ich sie auch nicht von allzu hoher dichterischer Qualität. Mein Freund betrachtete mich mit wachsender Spannung.
„Und …? Was sagen Sie dazu, Edgar?“, fragte er schließlich, da ihm mein Schweigen nun doch zu lang wurde. Beteiligt beugte er sich zu mir und legte eine Hand auf die Blätter.
„Nun, gut“, entschied ich mich, „ich kann mit Verlaub nicht erkennen, was daran Ihr professionelles Interesse und Ihren Verdacht erweckt haben mag, Dupin. Der Einfall für die Ballade erscheint ein wenig schauerlich und sehr deutsch – ich habe ihm die Einwände entgegenzubringen, die Sie gegen mein eigenes Denken aussprachen; zu romantisch sei es – falls ich mich recht erinnere. Zu schade jedoch, dass dieses Bruchstück endete, als es mir spannend zu werden schien. Aber vielleicht mag Schiller die Fehler selbst bemerkt und deshalb abgebrochen haben. Was die Verse betrifft: Zu ihnen möcht ich mich nicht gerne äußern. Mein Deutsch ist doch zu schlecht, mich an ihnen zu delektieren. Jedoch schien mir der Reimfluss ein wenig holpernd – als wäre Schiller beim Schreiben mit uns hier in der Chaise gesessen und dabei ordentlich durchgeschüttelt worden, da er sie niederschrieb. Darf ich vermuten, beide, die Lyrik und das Balladenkonzept wären eher frühe Werke des Meisters?“
„Weit gefehlt, wenn auch gut bemerkt“, erwiderte Dupin und wirkte enttäuscht. Offenbar hatte er sich eine andere Antwort von mir erhofft. „Beide Blätter sind nicht der ungelenken und unerfahrenen Feder der Jugend entflossen, sondern der zitternden, fiebrigen Hand des Kranken, der weisz, dass seine Tage gezählt sind. Sagen Sie mir! – Ist Ihnen denn auszer den verunglückten Alexandrinern nichts weiters mehr aufgefallen? Ich dachte, Sie sind ein Liebhaber von geheimen Nachrichten und Codetexten. Versuchen Sie ihr Glück und finden Sie das Verborgene; es ist nicht schwer.“ Bei meinem Stolz ergriffen nahm ich den Bogen, auf dem sich das Gedicht befand, erneut zur Hand.
„Beide, das Gedicht und der Entwurf … sie gehören zusammen. Das sehe ich. Sodann fällt mir bei zwei Wörtern in der ersten und in der dritten Strophe die Merkwürdigkeit ihrer Schreibweise ins Auge. – Der Punkt hinter dem „W“ am Anfang und das groszgeschriebene „T“, hingegen ein kleingeschriebendes „d“ zu Beginn der zweiten Strophe. Da ich vermuten will, es handle sich dabei nicht um einen Flüchtigkeitsfehler, der Ihnen beim Kopieren unterlief … was Ihrer sonstigen Art vollkommen entgegenstünde, Dupin …, dann stammen diese Markierungen aus der Hand des Dichters.“
„Sie sind auf der richtigen Spur. Das Geheimnis liegt offen vor Ihnen, Edgar. Sie müssen nur verstehen, es zu lesen und zu deuten“, munterte mich mein kluger Freund auf und da sah ich des Rätsels Lösung deutlich vor mir! – Es war eine recht simple Geheimschrift, die Schiller sich da ausgedacht hatte und gerade ihre Einfachheit hatte mich für sie blind gemacht. Las man von oben nach unten jeweils den ersten, dann den zweiten, den dritten und schließlich den vierten Buchstaben und dies in jeder der drei Strophen, dann ergab sich folgende Botschaft:
„W. ist der Täter!“
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