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Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 7)

[Zum 1. Teil]

 

Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 7)

Szczesny steht auf dem Bürgersteig vor dem Ein­wohnermeldeamt. Es ist kühl. In der Nacht fiel ein wenig Schnee. Längst hat er sich in einen dickflüssi­gen, braunen Brei verwandelt, der wie Klebstoff auf dem Asphalt liegt. Szczesny weiß nicht, in welche Richtung er gehen soll. Er lässt sich von eiligen Menschen anrempeln.

Ein Fels in der Brandung bin ich. Allein mit mir.

Weder die Stöße der anderen, noch das Lärmen der Geschäftsstraße dringen bis zu ihm vor. Nur ein dünnes Pfeifen steht in seinem Ohr. Szczesny senkt den Kopf. Ich bin erschöpft, denkt er und macht einen Schritt zur Seite. Er rutscht aus, fällt aber nicht. Damit reiht er sich willig in den Strom ein, taucht in die Menge. Es ist schön, mit ihr zu gehen, dorthin, wo­hin alle gehen. Sich treiben lassen. Aufgehen. An­onym und ohne Selbst. Szczesnys aufgewühlter Geist wird eins mit der Menge, ist Menge und ver­liert seine Gedanken in dem Fluss aus Leibern, der ihn mitreißt. Doch die Straße mündet bald, der Strom ergießt sich in einen großen Platz und die Menge, in der er sich so geborgen fühlte, verläuft sich. Hier steht Szczesny noch einmal still. Er kramt aus seinem Mantel einer Zigarette hervor. Erst als er sie in den Mund steckt, kommen ihm Zweifel.

Das ist die zweite in kurzer Zeit. Das habe ich nicht nötig. Er schiebt die Zigarette zurück in die Tasche, dort zerkrümelt er sie langsam zwischen den Fin­gern. Szczesny sieht sich dabei um. Jetzt hindert mich nichts mehr, heimzugehen, Clara zu begeg­nen. Wie soll ich ihr das erklären, was der Arzt gesagt hat? Er hat seine Frau schließlich gedrängt, sich untersuchen zu lassen. Damit ging es los. Er will das Kind. Unbedingt Sein Schwager Henry hat drei, zwei Jungs, ein Mädchen. Ein potenter Mann. Alle sind sie gesund: Henry, sei­ne gedrungene Frau, die lauten und rücksichtslosen Kinder, sogar ihr Familienhund. Sie tragen ihre Gesundheit wie einen Orden. Jeder muss sie bewundern. Nur sie allein wissen, wie man richtig lebt.

Ein einziges Mal hat Szczesny seinen Schwager be­siegt. Das war an Claras Geburtstag vor knapp ei­nem Jahr. Es ging wie immer los: Henry erzählte, was für ein toller Hecht er sei und dass ein intensives Lauftraining nur Vorteile habe, solange man nicht der Idee verfal­le, es zu übertreiben oder irgendwelches Zeug zur Muskelbildung fresse. „Du weißt nicht, was das für ein Körpergefühl ist. Da, fühl’ mal: Ich habe auch ohne Proteine meinen Oberarmumfang fast verdoppeln können. Das ist der Bizeps. Und hier der Trizeps, hier. Ich bin jetzt auch viel ausdauernder. Weißt schon – auf jedem Gebiet.“ Henry zwinkerte seiner Frau zu, die verlegen lächelte. Szczesny ver­zog nur einen Mundwinkel. „Meine Gesundheit ist jetzt viel stabiler als früher. Ich habe seit zwei Jah­ren keine Erkältungen. Und was Kopfschmerzen sind, weiß ich schon gar nicht mehr.“ Henry machte eine bedeutsame Pause, sah zu, wie sich Szczesny ein Bier öffnete. „Ich vertrage jetzt auch wesentlich mehr Alkohol als andere, ist mir aufgefallen. Ich kann jeden unter den Tisch saufen.“

„Bravo, du bist mein Held!“ Das kam von Clara, die mit einer Schüssel Kartoffelchips ins Wohnzimmer kam. Szczesny sah dankbar zu ihr. Da schlug ihm sein Schwager mit der flachen Hand auf die Schul­ter.

„Wetten?“ fragte er. Szczesny sah ihn erstaunt an. Hatte er richtig verstanden? „Na, wollen wir es nicht mal ausprobieren? Wir bei­de, gegeneinander?“ Henry nahm sich ebenfalls ein Bier, öffnete es, stellte es vor sich hin.

„Ich dachte, du hättest die Pubertät inzwischen hin­ter dir. Aber bei Männern dauert das ja etwas län­ger, sagt man“, bemerkte Clara und Henrys Frau lachte. „Ich glaube auch nicht, dass Norbert diesen Unsinn mit­macht. Ja?“

Clara wandte sich zu ihrem Mann. Einen Moment war er verwirrt, sein Blick wanderte zwischen der Bierflasche und seiner Frau hin und her. Dann sah er zu Henry, der die muskulösen Arme verschränkt hatte und ihn überlegen anlächelte. „Wenn du willst“, Szczesny nahm seine Bierflasche in die Hand und leerte sie in wenigen Zügen. „Das war zum Warmwerden. Ich hole den Schnaps.“

Henry lachte. Er klopfte sich dabei auf die Ober­schenkel. Szczesny bemerkte Claras missbilligende Augenbraue. Auch die Schwägerin schien nicht gera­de begeistert. Aber jetzt konnten die beiden Männer keinen Rückzieher mehr machen.

Szczesny denkt nicht gerne an diese Wette zurück. Beide soffen sich nahe an die Bewusstlosigkeit, aber er, Szczesny, trug den Sieg davon. Sie tranken gleich viel Alkohol und waren auch im gleichen Stadium der Trunkenheit, aber ihm war nicht schlecht gewor­den. Henry kotzte den Gang voll. Clara war zwei Wochen böse mit ihrem Mann und nahm nun seltsa­merweise ihren Bruder in Schutz, betrachtete ihn als das Opfer.

Jemand rempelt Szczesny an. Es ist eine junge, gut­aussehende Frau, die ebenso gedankenverloren über den Königsplatz geht. Sie lächelt flüchtig und entschuldigend, dann ist sie weiter. Szczesny sieht ihr hinterher. Das wäre doch gelacht, denkt er.

Später geht Szczesny langsam eine Treppe in einem Haus in der Jakober Vorstadt hinauf. Er ist nicht erwartungsvoll, nichts zittert in seinem Körper. Er spürt keine Lust. Er sieht sich auch nicht nach der Prostituierten um, die er unten vor dem Stundenhotel in der Hasengasse angesprochen hat. Trotzdem: Er ist hier …

„Wir sind da“, sagt die Frau wie zur Bestätigung, drängt sich, in ihrer Tasche nach dem Zimmer­schlüssel kramend, an ihm vorbei. Sie trägt hohe, schwarze Stiefel und einen Pelz. Szczesny mustert abschätzend ihre Beine. Was will ich hier? Träge tritt er hinter der Frau in das Hotelzimmer und schließt hinter sich die Tür. Endgültig ...

Die Hure dreht sich zu Szczesny um, schlüpft aus ihrem Pelz. Sie faltet ihn und legt ihn vorsichtig auf den Sessel neben dem Bett. Diese Geste erinnert ihn an Clara. Sie hat nur ein kurzes Kleid an. Szczesny bemerkt einen Kaffeefleck unterhalb des Ausschnitts. Ihr war si­cher kalt da draußen. Im Schnee … in dieser Sackgasse. Er sieht der Frau ins Gesicht, versucht, sie hinter der dicken Makeup-Schicht und den gefärbten Haaren zu erkennen. Er schätzt sie auf Mitte vierzig, mindestens. Aber sie bleibt puppenhaft und unwirklich: Ihr Blick ist leer, ab­wartend. Sie sehen sich an, dann senkt sie ihren Au­gen.

„Willst du was trinken?“, fragt sie. „Der Empfang kann uns Sekt ‘raufbringen.“ Szczesny schüttelt den Kopf. Er langt in seinen Mantel und holt die Briefta­sche hervor. Umständlich zieht er zwei Geldscheine heraus und reicht sie ihr. Sie nickt, nimmt das Geld vorsichtig mit zwei Fingern, schiebt es ihn ihre Handtasche. Die Nägel sind grün lackiert. Sie lä­chelt und legt den Kopf schief. Szczesny reagiert nicht. Die Hure zuckt mit den Schultern, öffnet sie ihr Kleid, lässt es zu Boden fallen, steigt aus ihm heraus und legt es sorgfältig über den Pelz. Sie ist mager. Die Hautlappen ihrer Brust senken sich, als sie den BH abnimmt. Szczesny sieht eine Gänsehaut auf ihren Schultern. Interessiert mich nicht, denkt er. Darf mich nicht interessieren.

„Komm, zieh dich aus“, sagt sie, kommt einen Schritt näher.

„Lass die Strümpfe an“, sagt er, beginnt sich auszu­ziehen. „Und die Stiefel.“ Er lauscht dabei seiner Stimme. Sie klingt normal. Die Hure gehorcht und entledigt sich nur ihres Slip. Beide legen sich auf das Bett. Sie greift an sein Geschlecht, das sofort re­agiert.

„Willst du französisch?“, fragt sie. „Das kostet aber zusätzlich.“ Nein, das will er nicht. Jetzt ist Szczes­ny doch erregt. Die Hure fischt aus der Nachttisch­schublade ein Kondom, das sie ihm geschickt über­streift. Sie legt sich neben ihn, die Beine gespreizt. Szczesny wälzt sich herum, über die Frau, dringt in hektischer Eile in sie. Für einen Augenblick hat er das Gefühl, das er suchte, wegen dem er hier ist. Er betrachtet das Gesicht der Hure aus der Nähe, ihre durch die Puderschicht porenlose, fettglänzende Haut, die halbgeschlossenen Lider, das verkrampfte Lächeln ihres schmalen, lippenstiftverkleisterten Munds. Er presst seinen Kopf in ihre Halsbeuge, konzentriert sich keuchend auf seine Bewegungen, auf ihr weiches, breiartiges Nachgeben und die klat­schenden Berührungen der Leiber. Wie der alte Schnee auf der Straße. Dann denkt Szczesny an Clara. Die Frau unter ihm stöhnt. Es ist ein künstliches Stöhnen, es stört ihn.

„Sei still“, zischt Szczesny atemlos, wühlt weiter. Die Nutte verstummt sofort. Das Ende kommt schnell. Er hat einen Erguss, spürt das Vibrieren seines Geschlechts, Aufbäumen. Sein Herz schlägt wild, die Adern pochen, ein kurzes Ächzen dringt aus seinem Mund. Doch er hat nichts dabei gefühlt, es war ein Überlaufen, eine Reaktion. Nur Leere ist in seinem Schädel. Szczesny kippt zur Seite. Die Hure steht sofort auf, geht ins Badezimmer, um sich zu reinigen. Die Handtasche nimmt sie mit. Szczes­ny hört Wasser rauschen. Jetzt sollte er aufstehen, sich anziehen, gehen, aber dazu ist er nicht fähig. Er befreit sich angeekelt von dem schmierigen Kondom, das er achtlos zur Seite schleudert. Szczesny hält die Augen weit geöffnet und starrt zur niedrigen De­cke. Er hat Mitleid mit sich selbst. Wie eine Welle überflu­tet es ihn, wirbelt ihn herum, nimmt ihm die Luft zum Atmen. Druck ist auf seinen Lidern. Fast muss er weinen.

[Zum 8. Teil …]

 

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