Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 4)

[Zum 1. Teil]

 

Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 4)

„Ich weiß nicht. Es kam mir so vor.“ Gitta zuckte mit den Schultern und setzte sich an den Esstisch, auf dem Claras Laptop aufgeklappt stand. Sie spähte neugierig auf weiße Oberfläche des Textprogramms, in die ihre Freundin vorhin ein paar Sätze getippt hatte.

Einmal sah ich einen Baum, dessen Äste der Wind herabgerissen und der Straße geschenkt hatte. Der Baum war nackt und kahl und so einsam. Ich verachtete diesen Baum; dafür, dass er hart und unnachgiebig war. Deshalb musste er sterben, musste seine Blätterschönheit herab in den Dreck tränen und sie dem grausamen Wind ausliefern, der das buntfleckige Laub über dem Asphalt drehte. Warum war er nicht weich wie ein Grashalm, der sich nach dem Wind wieder aufrichtet?, las sie und wunderte sich. Das war an­ders als alles, was sie bislang von ihrer Freundin kannte. War das Ausdruck einer Krise, privat oder in ihrem Schaffen?

„Kommst du voran mit deinem neuen Werk?“, fragte Gitta unschuldig. Clara trat flink zu ihr und drehte den Computer eilig her­um, damit der Bildschirm aus dem Sichtfeld von ihrer Freundin kam.

„Eigentlich nicht, nein“, erwiderte Clara streng. Darüber wollte sie nicht reden; dafür hatte Gitta keinen Sinn.

Der Tee! Wenn Clara sich be­eilte, würde sie den Aufgussbeutel gerade zur richti­gen Zeit herausnehmen können. Noch blieben ihr ein paar Sekunden Zeit. Sie machte einen Schritt in Richtung Küchenzeile. Da klingelte es erneut. Clara seufzte. Die mutwillige, wahrscheinlich blutjunge Gottheit, die für die Dinge ihres Alltags zuständig war, wollte sie heute anschei­nend ein wenig ärgern. Seufzend überließ sie ihren Tee sei­nem bitteren, dunklen Schicksal und trat erneut an die Haus­tür. Vielleicht kam sie heute ja doch dazu, es einmal mit einem zweiten Aufguss zu versuchen. Vor der Haustür stand diesmal wirklich der Briefträger. Genau wie Clara es sich vorhin ausgemalt hatte, hielt er den ersehn­ten Umschlag in seiner nach vorn gehaltenen Hand und strahlte sie mit einem übertrieben freundlichen Lächeln an. Doch diesmal überwand er seine Furcht:

„Guten Morgen. Ich habe diesen Brief für Sie, Frau Szczesny. Das sind sie doch, oder? Clara Szczesny, die bekannte Schriftstel­lerin?“ Er stolperte mit der Zunge über die geballte Konsonantenanhäufung ihres Nachnamens. Clara hatte nie daran gedacht, sich ein Pseudonym zuzulegen. Nun kam ihr in den Sinn, dass das vielleicht ein Versäumnis war. Sie nickte und nahm verwundert und geschmeichelt den Umschlag mit ihrem Manuskript in die Hände, presste ihn jedoch sofort schützend gegen ihre Brust. Es geschah ihr nicht oft, dass sie in ihrem privaten Bereich auf ihre Berufung angesprochen wur­de. Schließlich war sie alles andere als berühmt und hatte erst zwei Romane veröffentlicht, die sich allerdings recht ordentlich verkauften, weil es ihr ausschließlich weibliches Publikum durch Mundprobagande verbreitete. Clara spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Hoffentlich bemerkte der junge Mann nicht ihr Erröteten. Zum Glück war es ein recht dunkler Tag.

„Ja, die bin ich …“, gab sie zögernd zu.

„Ich finde Ihre beiden Romane wirklich … wirklich großar­tig“, platzte der langhaarige und bärtige Briefträger heraus, der auf Clara einen etwas schmuddeligen Eindruck machte. „Ganz ehrlich. Ich habe nicht geglaubt, dass in dieser Stadt solch … geniale Literatur entstehen kann. Kann ich viel­leicht ein Autogramm bekommen, hier …“ Er fischte aus seiner Umhängetasche die Taschenbuchausgabe von Das Lavendelbett heraus, ihres Erstlings, dessen Ti­telblatt ein übertrieben kitschiges Südfrankreichmotiv zierte: Eine weiße Marmorterrasse, auf der unter tiefblauem, wolkenlosen Himmel eine schöne Frau in Grün sehnsuchtsvoll in die Ferne sah, wo sich lila Lavendelfelder bis zum Horizont erschreckten. Ein geschmackloses Bild, das nur wenig mit dem Inhalt ihres Buchs zu tun hatte, aber geschickt auf eine bestimmte Käuferschicht zielte. Dass auch Postboten zu ihr gehörten, war Clara neu. Aus seiner Jacke holte er seinem weißen Zu­stellerkugelschreiber. Es gab also auch Männer, die ihre Bücher lasen? Dass machte Hoffnung. Und so standen sie sie sich eine Weile gegenüber: Clara in ihre Gedanken versunken und dabei die korrigierten Druckfahnen gegen den Oberkörper gepresst und der Postbote unsicher mit dem dargebotenen Buch und dem Stift. Gitta kicherte im Hintergrund. Schließlich entschied sich Clara. Das ging ihr doch alles zu weit. Sie bemerkte, wie unpassend und peinlich ihre Situation war.

„Ein anderes Mal vielleicht. Ich habe Besuch …“, sagte Clara abweisend und entschied sich dann doch zu einem freundlichen Lächeln, um die Abfuhr etwas abzumil­dern. „Einen schönen Tag noch!“

Anschließend schlug sie eilig die Haustür vor der Nase des verblüfften Aushilfszusteller Georg Hauser zu, der dem verschlossenen Eingang noch eine ganze Weile Das Lavendelbett entgegen streckte, bis er dazu in der Lage war, sich seine Nie­derlage einzugestehen und seinen erniedrigenden Job fortzusetzen, von dem sich der erfolglose Maler gerade ernährte.

Ämter sind für Szczesny niederdrückend, gewalttä­tig, Faschismus in Reinkultur. Er fühlt sich dort in einem rechtsfreien Raum, wittert hinter jeder Tür eine niederträchtige, gegen ihn gerichtete Intrige und hinter jedem der gleichmütigen Beamtenge­sichter Bosheit und Hass. Auf dem Amt zeigt der Staat für ihn sein wahres Gesicht. Die Verachtung, die er für seine Untertanen empfindet. Norbert ist deshalb nur schwer zu überreden, in eine Behörde zu gehen. Clara musste diesmal ihre sämtlichen Überredungskünste anwenden.

Es erstaunt ihn, dass er nicht lange warten muss. Kaum, dass er am Automaten eine Nummer gezogen hat, leuchtet sie schon über einem der Schalter auf. Er kam noch nicht einmal dazu, sich zu setzen. An denen sollte sich mal mein Arzt ein Beispiel nehmen. „Guten Tag“, sagt er übertrieben freundlich, reicht seinen Personalausweis über den Tresen. „Ich hat in diesem Jahr noch keine Lohnsteuerkarte bekom­men. Man hat mich an meinem Arbeitsplatz deswe­gen ermahnt.“

Der Beamte nickt langsam, sieht sich die abgenutz­te, in Plastik eingeschweißte Karte aufmerksam an, vergleicht dann die Abbildung mit zur Seite gelegtem Kopf mit dem Original. Das Ergebnis seiner Überprüfung scheint ihn vorerst zufriedenzustellen. Mein Ausweis ist seine Bibel. Als würde er dort die Antwort auf jede Frage finden.

„Einen Augenblick.“ Der Beamte nickt wieder und wendet sich zu seinem Computer, tippt mit zwei Fin­gern. Nach einer Weile kratzt er sich am Kopf, hebt ihn dann unwillig. Ein unfreundlicher, abweisender Blick trifft den sofort schuldbewussten Szczesny. Quatsch, komme ich wegen ihm oder sitzt er für mich da? Beamten sind nicht mehr die Halbgötter aus Adolfs Zeiten. Dienstleister sind das, nicht mehr. Sie haben es nur vergessen. „Ihnen wurde bereits eine Lohnsteuerkarte mit der Post zugeschickt, vor etwa zwei Wo­chen“, sagt der Beamte entschieden.

„Nein, das ist nicht wahr. Die kam nie bei mir an“, stottert Szczesny er­tappt, „sonst wäre ich doch nicht hier bei Ihnen.“

„Ich habe alles hier in meinen Daten“, unterbricht ihn der Beamte. Er tippt mit dem Finger auf den Bildschirm, den Szczesny nicht einsehen kann. „Sie haben die Karte bereits zugeschickt bekommen. Sind Sie vielleicht umgezogen und haben vergessen, das zu melden?“ Der Blick des Pfarrers bei der Beichte. Der Computer ist Gott und Szczesny leug­net ihn. Ketzer gehören verbrannt.

„Nein, wir sind selbstverständlich nicht umgezogen. Da hat sich nichts geändert. Ich habe nur in diesem Jahr keine Lohn­steuerkarte bekommen und ich brauche natürlich eine. Das …“ Es ist so weit. Szczesny verwickelt sich in seine hilflose Wut.

„Das ist nicht möglich“, entscheidet der Beamte apodikitsch. Das Amen in der Kirche; jedes Widerwort ist Blasphemie und Rebellion gegen die herrschende, gottgewollte Ordnung. Der Mann öffnet seinen Schreibtisch, entnimmt ihm ein engbe­drucktes Papier. „Falls Sie die Karte verloren haben und eine neue beantragen wollen, muss ich eine Bearbei­tungsgebühr erheben. Wenn Sie dieses Formular ausgefüllt haben, können Sie direkt hier an der Kas­se einzahlen und Ihre neue Karte wird Ihnen inner­halb von zwei Wochen zugesendet. Aber vielleicht se­hen Sie doch noch einmal Zuhause nach. Wahr­scheinlich haben Sie sie nur verlegt.“

[Zum 5. Teil …]

 

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