Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung (Teil 3)
Clara Szczesny starrte schon seit geraumer Zeit in die geöffnete Holzkiste, in der sie ihre Teebeutel-Sammlung aufbewahrte. Es waren in der Hauptsache biologische Kräuter- und ayurvedische Gewürztees, die sich ihr in farbenfrohen Papierhüllen verführerisch darboten und geduldig darauf zu warten schienen, dass ihre suchenden Finger sich endlich entschieden und die richtige Mischung für diesen Tag herauspickten. Ihre Aufschriften versprachen Glück, Harmonie, Gesundheit und Wohlbefinden, aber die meisten der Tees schmeckten sich zum Verwechseln ähnlich bitter und scharf, denn Ingwer war die bevorzugte Geschmacksrichtung der jungen Frau und diese fernöstliche Zutat fand sich in jeder ihrer Yogi-Mischungen. Clara war jedoch während ihrer allmorgendlichen Teezeremonie nicht ganz bei der Sache, denn sie wartete voller Ungelduld auf den Briefträger, der pünktlich wie ein Uhrwerk montags um diese Zeit – früher als an den anderen Wochentagen – die Post brachte und sie geräuschvoll in den amerikanischen Briefkasten steckte, den Norbert draußen vor dem Reihenhaus auf einem wackligen Pfosten aufgestellt hatte. Clara hoffte auf den braunen Umschlag mit der überarbeiteten Fassung ihres neuen Romans darin, die ihr ihr Verlagslektor am Wochenende telefonisch angekündigt hatte. Er war seltsam einsilbig bei dem kurzen Anruf gewesen und hatte sie auf diese Postsendung vertröstet. Aber dann würde sie ja sehen, was er alles anzumerken und zu beanstanden hatte …
Clara schüttelte den Kopf und sich auf diese Weise selbst aus ihrer Selbstversunkenheit und sah auf. Nein, die große Küchenuhr ließ sich nicht betrügen. Je mehr Clara sich auf ihren Gang konzentrierte, um so länger schienen ihr die Abstände zwischen einem Tick und einem Tack und desto gemächlicher kroch der Minutenzeiger wie ein ermüdeter Bergsteiger dem Gipfelkreuz seiner Wanderung entgegen. Kurz kam ihr der Gedanke, sie müsste diesen Satz, der ihr so wundervoll ausformuliert auf der Zunge lag, aufschreiben, damit sie ihn nicht wieder verlor, denn er war ein wunderbarer Einstieg in eine der Geschichten, an denen sie im Augenblick schrieb. Sie wusste, wenn sie den ersten Satz hatte, dann erledigte sich der Rest fast von alleine. Allerdings griff sie dann doch anstatt zu einem der Kugelschreiber, die zusammen mit Notizzetteln überall in der Wohnung griffbereit verteilt waren – einer lag direkt neben ihrer Teekiste auf der Küchenanrichte – zu einem der bunten Beutel, den sie an seinem Faden in die bereitgestellte Tasse hängte. Sie hatte ihrem Unterbewussten die Entscheidung überlassen und las nun den Spruch, der auf seinem Anhänger stand: Das Leben schenkt dem Wissenden Tiefe. Sie lachte ironisch auf und stellte den Wasserkocher an. „Altindische Weisheit oder Chai“, dachte sie, „was davon schmeckt bitterer?“
Dann wartete sie erneut ungeduldig und sah aus dem Küchenfenster hinaus. Aber noch war es nicht so weit; ausgerechnet heute ließ sich der verräterische Postbote Zeit. Das Teewasser begann zu dampfen, zu zischen und zu sprudeln. Schließlich erklang ein durchdringendes Pfeifen und der Kocher schaltete sich mit einem zufrieden klingenden Klicken aus, als wäre er auf seine Tätigkeit stolz. Clara beobachtete noch eine Runde lang den Minutenzeiger der Küchenuhr, anschließend goss sie das wieder etwas abgekühlte, heiße Wasser ganz langsam in die Tasse, wo der Teebeutel begann, gelbe Farbfäden zu bluten. Sie nahm den Anhänger in die Hand, wickelte ihn mit seinem Faden und um den Griff der Tasse. Dabei schmunzelte noch einmal über den weisen Spruch. Unter ihm war die Ziehdauer für ihren Aufguss angegeben. „Fünf bis acht Minuten“, murmelte Clara und ärgerte sich über die ungenaue Zeitangabe, die sie verunsicherte. Die Frau mochte klare, exakte Vorgaben, mit Ungefährem konnte sie nichts anfangen. Halbierte sie für sich und ihren Mann die Vier-Mann-Rezepte aus Kochbüchern, benutzte sie einen Taschenrechner und kämpfte über die Küchenwaage gebeugt mit jedem Gramm.
Vor kurzem hatte sie in der Sonntagsbeilage der Zeitung gelesen, dass der wahre Teekenner nur den zweiten, manchmal gar den dritten Aufguss trinken würde, da sich erst dann der volle Geschmack der Aromen entwickeln würde. Sie kannte nur eine Person, die das auch im echten Leben tat und das war ihr geiziger Onkel Siegmund, der sein altes Badewasser zum Toilettenspülen benutzte und das Klopapier durchnummerierte, weil er den Verdacht hatte, seine bei ihm lebende alte Mutter würde zu viel davon verbrauchen. Nein, Clara würde sich nicht dazu durchringen können, ihren Tee zweimal aufzugießen, egal, ob er dann weicher und intensiver schmecken würde. Da würde sie sich schäbig vorkommen. Das war ihr zu exzentrisch, zu, ihr fiel kein anderes Wort ein, zu … verschwommen.
Es klingelte an der Haustür und Clara zuckte zusammen, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. „Das ist endlich der Postbote“, dachte sie. „ausgerechnet jetzt! Der Umschlag mit meinem Text passt nicht in den Briefkasten. Er muss ihn mir persönlich übergeben.“ Ein Bild von dem jungen Mann, der ihr seit ein paar Wochen die Post brachte und offenbar eine Aushilfe war, weil er keine Uniform trug, tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Er grüßte immer sehr höflich und klingelte häufig, um ihr die großen Umschläge ungeknickt übergeben zu können. Er war nicht ganz ihr Typ, aber er wirkte sympathisch und schien immer ein wenig zu zögern, wenn er ihr die Post überreichte; ganz so, als würde er sie ansprechen wollen und traue sich nicht. Hatte sie einen heimlichen Verehrer in ihm?
Noch drei Minuten, 10 Sekunden und es klingelte erneut. Clara war vollkommen aus dem Konzept gebracht. Sollte sie sofort zur Tür gehen oder zuerst den Teebeutel aus der Tasse entfernen? Damit hatte sie die Wahl zwischen einem zu bitteren und einem zu geschmacklosen Aufguss – Scylla und Charybdis, zwischen denen sie Schiffbruch erlitt. Es gab keinen richtigen Weg – egal, was sie tat. Wie sie solche Situationen hasste! Clara entschied sich für das Türöffnen und eilte aus der Küche nach vorn. Es war jedoch nicht der Briefträger, der ihr mit sehnsüchtigem Blick die ersehnte Sendung überreichen wollte. Ungeduldig mit den Absätzen wippend stand stattdessen auf dem Fußgitter vor der Haustür ihre Freundin und Nachbarin Gitta Mammensohn-Sapher, die zwar vage für den Vormittag ihren Besuch angekündigt hatte, aber für ihre Verhältnisse erstaunlich früh am Morgen vorbeikam. Entweder war etwas Schlimmes geschehen oder sie hatte etwas unheimlich Wichtiges zu berichten.
„Und … lässt du mich rein?“, fragte Gitta strahlend und ohne auf eine Antwort der noch zögernden Clara zu warten, schob sie sich an ihrer Freundin vorbei in den Gang, wo sie sofort ihren Mantel ablegte, ihn achtlos zusammenknüllte und halb über einen nahen Stuhl warf. Er rutschte auf den gefliesten Boden. „Ist das kalt heute! Ist er auch da?“ Offenbar war keine Katastrophe geschehen, Gitta kam zum Plaudern vorbei. Clara schüttelte den Kopf und hob mit einem Hauch von Missbilligung in der Miene den Mantel auf und hängte ihn ordentlich an einen Garderobenhaken, nachdem sie ihn über einen Kleiderbügel gezogen hatte.„Norbert hat sich zwar einen Tag freigenommen, aber er ist in die Stadt gegangen, um ein paar Erledigungen zu machen. Ich erwarte ihn erst am Nachmittag zurück.“ Clara und ihre Freundin Gitta, die sich herabbeugte, um aus ihren hohen Stiefeln zu schlüpfen, lächelten sich in stummem Einverständnis zu. „Aber komm doch rein. Willst du einen Tee? Ich mache mir gerade eine Tasse Chai.“ Gitta kannte sich aus. Sie öffnete den Garderobenschrank und entnahm ihm ein Paar von Claras selbstgefilzten Hausschuhen, die dort vorbereitet auf ihre Besucher warten. Erst dann trat die Nachbarin ins Wohnzimmer, das zusammen mit der offenen Küche eine Einheit bildete und beinahe die gesamte Fläche des kleinen Reihenhauses in Anspruch nahm.
„Ach, ein Kaffee wäre mir eigentlich lieber, wenn es nicht zu viele Umstände macht“, sagte sie und sah sich aufmerksam um. „Habt ihr die Möbel umgestellt?“
„Nein, wie kommst du denn darauf?“
Eine Antwort auf „Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 3)“
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