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Eine andere Art der Liebe – Erzählung (Teil 1)

[Wie gesagt: Endet die Arbeit an einem Buch, beginnt ein neues Buch. Nachdem ich auf meine Umfrage kürzlich keine Antwort erhielt, werde ich weiter nach Plan verfahren: Im nächsten Jahr möchte ich den 3. Band meines “Jahrmarkt in der Stadt”-Zyklus mit längeren Erzählungen veröffentlichen. Neben der Titelgeschichte “Stromausfall” werden das “Heilende Wasser” und “Eine andere Art der Liebe” sein. Mit der Überarbeitung der letzteren Erzählung will ich heute beginnen. Sie wird etwa 75 Buchseiten lang werden. Über kritische Anmerkungen und Hinweise auf Fehler würde ich mich freuen.]

Eine andere Art der Liebe
Eine Erzählung

Norbert Szczesny klopft seinen Oberkörper ab. Er senkt die Arme und schüttelt den Kopf. Seltsam, ich hätte wetten können … Er stößt sich von der Wand ab, an der er lehnt und tritt zu seinem Man­tel. Er hat ihn vorhin an einen aufdringlichen Kleiderhaken neben der Eingangstür gehängt, der wie ein aufgerichteter Phallus geformt war. Szczesny findet in der Innentasche die Zigaretten und das Feuerzeug. Ich darf nicht rauchen. Das ist der Grund für die schlecht durch­bluteten Beine. Das hat der Arzt gesagt. Und ich weiß es eigentlich auch ohne ihn. Die Raucherei wird mich noch einmal umbringen. Szczesny ist neununddreißig. Mit vierzig ist Schluss mit dem Rauchen, hat er sich vorgenommen. Vierzig ist die Hälfte des Lebens. Das wäre doch etwas. Jetzt ein Krebs, nachdem er die Stelle von Kerner hat und gutes Geld verdient. Clara muss nicht mehr den Halbtagsjob in der Boutique machen. Sie kann zu Hau­se bleiben. Ihre Bücher schreiben. Szczesny hat gesund zu sein. Das ist er Clara und dem Büro schuldig. Er raucht nur noch in Ausnahmesituationen. Der Gedanke ist ein gutes Alibi: Nur noch in Ausnahmesituationen rauchen. Auf jeden Fall weniger rauchen. Zwei Schachteln am Tag waren einfach zu viel. Das ist mir schon klar. Das erzählt mir schließlich Schwager Henry bei jedem Treffen. Der isst nur noch vegetari­sche Vollkost und macht Jogging. Gut, das ist nicht schlimm. Jeder hat das Recht, den Tag auf seine Weise kaputt zu machen. Was Norbert stört, ist das Sen­dungsbewusstsein, das Henry hat. So penetrant! Er käme mit seinem Schwager gut aus, wenn diese Unart nicht wäre. Ihm gefällt Henrys Lächeln. Szczesny sieht dann Clara. Wie sie früher war, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte.

Jetzt ist eine Ausnahmesituation. Wenn das keine ist! Szczesny bringt sein Anzünderitual ruhig hinter sich. Niemand hier im Wartezimmer braucht zu bemerken, wie nötig er seine Nikotinration gerade hat. Das geht nur ihn und seine Beine et­was an. Er wird beobachtet. Das spürt er, ohne auf­zusehen. Dafür hat er einen Sinn entwickelt. In dem Großraumbüro, in dem er bisher arbeitete, wurde er immer beobachtet und kontrolliert. Szczesny spürt ein Ziehen über der Nasenwurzel, genau in der Mitte der Stirn. An der Stelle, die seine als Schutz vor der Flamme des Feuerzeugs hochgezogenen Augenbrauen erreichen. Es ist ein kaltes Zielen eines Blicks, das er tief im Schädel spürt. Es kitzelt ihn. Aber noch sieht er nicht auf. Das wäre eine Blöße. Szczesny überlegt, ob ihn eine der Frauen im Wartezimmer betrachtet. Der Gedanke gefällt ihm. Obwohl er meist treu ist, mag er kurze, erwartungslose Flirts. Er versucht, sein Feuerzeug mit einer lässigen Handbewegung zu schließen. Mein Name ist Bond. Dabei bemerkt er Unruhe. Sein Körper zittert. Der Unterleib ist kalt. Szczesny nimmt einen tiefen Zug. Da ist ein beifälliges Nicken in seiner Lunge, als könne sie nur mit diesem Rauch richtig atmen.

Szczesny sieht auf und seiner Beobachterin in die Augen. Er hat recht mit seiner Vermutung. Es ist eine Frau, die ihn anstarrt. Leider nicht die, auf die er gehofft hat. Die kümmert sich nicht um ihn. Ist in ein Modeheft vertieft. Die andere, die Fette, ist es. Sie sieht allerdings sofort weg, runter auf ihre Oberschenkel. Jetzt ist Szczesny am Zug. Er kneift die Augen ein wenig zusammen und beobachtet. Er ist der Meinung, dass er das gut kann, das Beobachten. Bei der Stasi hätten sie solche wie mich mit Handkuss aufgenommen. Die Fette ist in seinem Alter, vielleicht ein wenig jünger. Trotzdem sieht sie verbraucht aus, aufgedunsen, speckig. Das lockige, blonde Haar ist unvorteilhaft, verlogen. Wahrscheinlich gefärbt. Ihre Bluse spannt über der beachtlichen und sehr tief auf dem Bauch aufliegen­den Brust. Sie trägt eine Jersey-Leggings in schreien­den Farben. Soll wohl das Fett verbergen. Aber Szc­zesny glaubt eher, es ist die einzige Sorte Hose, die dehnbar genug ist, um ihr ein bequemes Sitzen zu ermöglichen. Er mag keine Leggings. Er verbindet mit ihnen penetranten Schweißgeruch. Szczesny ekelt sich. Der schlechte Geschmack auf der Zunge kann aber auch von der Zigarette kommen. Es ist die erste an diesem Montag. Aber noch sieht er nicht weg. Etwas fehlt ihm. Szczesny nimmt noch einen Zug und wartet. Diese Zigarette schmeckt über­haupt nicht. Der erste Zug war wunderbar gewesen, aber jetzt schmeckt der Rauch abgestanden, ranzig. Da ist ein widerlicher Belag auf der Zunge. Endlich blickt die Fette auf. Das musste kommen, darauf hat Szczesny gewartet. Sie muss kontrollieren, ob er sie noch beobachtet. Nun ist sie ertappt. Er hat sie erwi­scht. Ein kurzer Augenaufschlag, ein schnelles Wen­den des Kopfes, Hilfesuchen im Raum. Alle sind mit sich und den Zeitschriften beschäftigt. Das war doch ein gelungener Abschluss! So muss das sein. Szezensny lächelt.

Sie ist rot geworden, bildet er sich ein. Sie schämt sich. Er tritt nahe an die Frau heran, drückt seine halb gerauchte Zigarette in einem Aschenbe­cher auf dem niedrigen Tisch vor ihr aus. Sie re­agiert nicht, starrt auf ihre fetten Oberschenkel, die von der Leggings zusammengequetscht sind. Ruhig lehnt sich Szczesny wieder an die Wand, schließt halb die Li­der. Seine Unruhe ist nicht vergangen. Sie ist nicht einmal kleiner geworden. Aber jetzt tritt die Lange­weile neben sie. Beide gemeinsam erzeugen eine zer­fahrene Leere in seinen Gedanken. Szczesny ist nun Körper und spürt. Der schwache Harndrang und das flaue Krampfen des Magens treten wie Musiker, die eine Bühne betreten, nach vorn und beginnen ein Duett. Er lehnt, hört zu und bildet sich ein, unmittelbarer Zeuge des Entstehens seines ers­ten Magengeschwürs zu sein. Szczesny hat genau den Punkt, in dem sich die sanfte Übelkeit fast zum Schmerz verdichtet. Er erinnert sich flüchtig an ein Molièrestück, das er mit Clara kürzlich im Augsburger Stadtthea­ter gesehen hat. Er hat den Titel vergessen.

Er kehrt zurück von seinem Ausflug in den eigenen Körper und entscheidet sich, zornig zu werden. Der Warteraum ist voll, abgefüllt wie der Vorortzug, mit dem er Morgens von Gessertshausen in die City zur Arbeit fährt. Szczesny ist nicht der einzige, der steht. Auch die anderen Wartenden wer­den langsam unruhig. Szczesny kontrolliert mit ei­nem schnellen, ungeduldigen Blick seine Uhr. Drei, vier Leute im Raum ahmen sofort diese Geste nach. Er wartet jetzt beinahe eine Stunde. Wieder zählt er die Personen, die vor im da waren, es sind noch im­mer drei Leute. Ich hätte zu Hause frühstücken können. Ich nehme mir einen Tag frei und stehe mir im Wartezimmer die Beine in den Bauch. Dabei muss ich noch wegen der Lohnsteuerkarte meiner Frau ins Einwohnermeldeamt. Die schließen Mit­tags. Ich will doch nur einen Befund abholen, den kann mir auch die Kleine am Empfang geben! Ein Gedanke hebt sein Haupt, wird beherrschend. Deut­lich löst er sich aus dem wirren Knoten der anderen. Diesen Gedanken verdrängt er schnell. Von ihm will er nichts wissen.

Und wenn sie etwas Ernsthaftes gefunden haben? Das ist der Gedanke, den er nicht brauchen kann. Die Tür neben ihm öffnet sich ein wenig. Die Arzt­helferin streckt schüchtern ihren Kopf durch den entstandenen Spalt, muss den Namen wiederholen, bis Szczesny bemerkt, dass er gemeint ist. Er hebt er sich von der Wand, sieht kurz und entschuldigend in die Runde. Szczesny geht hinter dem Mädchen her. Sie sieht gut aus. Dieser Arzt wählt seine Sprech­stundenhilfen nicht gerade nach sachlichen Ge­sichtspunkten aus. Das ist ihm sympathisch, erin­nert ihn an seine eigene Sekretärinnen-Auswahl im Büro. Das Mädchen öffnet eine Tür, verzieht den Mund zu einer eingeüb­ten, freundlichen Maske.

„Nehmen Sie doch bitte schon einmal Platz“, sagt sie, „der Herr Doktor kommt sofort.“

[Zum 2. Teil]

 

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