Auf der anderen Seite konnte man die Wintherbrüder auf keinen Fall ignorieren oder vor den Kopf stoßen, da sie doch in der Kunstszene der Stadt eine gewisse, ich bin versucht, zu sagen, Macht darstellen; sich als örtlich anerkannte Künstler im Laufe der Zeit einen Status erobert hatten, der ihnen und ihren Verrücktheiten Unangreifbarkeit verliehen hatte. Außerdem konnte man, wenn man es schaffte, Frieden mit ihnen zu halten, sicher sein, dass sie zu einem standen und einen im Rahmen ihrer nicht unbedeutenden Möglichkeiten unterstützen. Da ich es mir also nicht mit den beiden verscherzen wollte, litt ich still und ergeben vor mich hin, ließ mich auf den sinnlosen Schlagwortdisput um ihre Kunst ein und hoffte, dass die Autofahrt bald vorbei war.
Es war längst dunkel geworden, als wir endlich in München ankamen. Keiner von uns wusste so genau den Weg zu der Galerie und die Passanten, die wir fragten, schienen in dieser Stadt ebenso fremd zu sein wie wir. Wir wären wahrscheinlich noch eine ganze Weile weiter umhergeirrt, wenn wir nicht zufällig Paulis großen Wagen am Straßenrand und damit die Seitenstraße, in der die Galerie lag, entdeckt hätten. Dass der Kulturreferent nach den Ereignissen des Nachmittags an der Vernissage seines Neffen teilnahm, erstaunte mich. Die üblicherweise aufwendige Suche nach einem Parkplatz kürzte MBB in ihrer unnachahmlichen Weise rigoros ab, indem sie einfach auf den Bürgersteig hochfuhr und dort stehenblieb.
Wir mussten eine Weile warten, bis sich die beiden Winther aus den Rücksitzen gearbeitet hatten. Jochen-Maria stauchte sich dabei etwas seinen Hut, was er als eine mittlere Katastrophe nahm und ihn, ohne ihn abzunehmen, von seinem Bruder richten ließ. Ich vergnügte mich inzwischen mit Gedankenspielen, was er wohl unter dieser Haube hatte, einen Haarzopf wie Ernst Fuchs wohl kaum. MBB und ich sahen uns an und in unseren Blicken lag all die verzweifelte Müdigkeit, die unser Los manchmal in uns erwachen ließ.
Die Galerie Nasolt & Haschek trug über die gesamte Länge der Vorderfront eines breiten Gebäudes zwei langgezogene Fenster zur Schau und war eine der renommiertesten Galerien von München. Sie stand in dem Ruf, Künstler zu machen. Wer es als Maler oder Bildhauer fertigbrachte, hier ein paar Bilder unterzubringen oder gar wie Nix eine eigene Ausstellung zu bekommen, war auf dem Sprung: Angebote aus Zürich, London und New York würden mit der Sicherheit einer physikalischen Gesetzmäßigkeit folgen. Nix war also dabei, endgültig aufzusteigen. Bald konnte ihn das mittelmäßige, kleinliche Geplänkel in seiner Heimatstadt gleichgültig lassen, bald würde er sich in Kreisen bewegen dürfen, in denen zwar mit Sicherheit die gleichen Spiele gespielt wurden, aber die Einsätze ungleich höher lagen. Wer wohl der nächste war, den er mit Jauche übergoss? Oder war er bald so etabliert, dass er selbst besudelt wurde?
Ich weiß heute nicht mehr, ob ich Nix diesen Erfolg neidete, als ich in die hell erleuchteten und goldglänzenden Schaufenster der Galerie spähte und im Inneren bereits viele elegant gekleidete Menschen mit gediegenen Sektgläsern in den Händen umherschlendern sah. Zwischen ihnen standen wie bunte Farbflecken verschüchterte Künstler und deren Freunde, ihnen war merklich unwohler in der noblen Umgebung. Von Nix Bildern war von der Straße aus wenig zu erkennen, sie wurden meist von den Leuten verdeckt, die sich in Trauben vor ihnen drängelten. Beim Eintreten duckte ich mich eng in den gewaltigen Schatten meiner Begleiterin und versuchte eine gewichtige und dabei selbstsichere Miene aufzusetzen. Ich rechnete nicht damit, mangels Einladungskarte Schwierigkeiten beim Einlass zu bekommen. Ich hatte mich mal wieder geirrt. Ich war noch nicht einmal halb in der Tür, als mich eine Hand schwer am Kragen packte und brutal zurückriss. Jemand schleppte mich zur Seite und drückte mich grob gegen ein parkendes Auto.
»Ich glaube es nicht«, konstatierte mein Gegner. »Was tust du denn hier? Gerade dich wollen wir hier nicht. Du hast so etwas von sicher keine Einladung erhalten!« Ich erkannte mein Gegenüber. Der Türsteher war einer der schwachsinnigen Kerle, die mich vor einem guten halben Jahr mit Lackfarbe besprüht hatten; einer von dem „dreckigen halben Dutzend“ gewalttätiger Epigonen von Nix, die im Rücken seiner Genialität wie Hunde umherstreunten, um ein Stück seines Ruhmes zu erhaschen. Er war sicher auch bei der Aktion bei der Weissensteiner-Lesung dabei gewesen. Mir ging ein Licht auf: Natürlich, er war es gewesen, der das Fass Odel zu früh ausgekippt hatte! Ich erinnerte mich an seinen feixenden Gesichtsausdruck. Das war ein Privatkrieg, den er mit mir führte. Ich überlegte kurz, ob ich hier vor der Galerie mit ihm eine handgreifliche Auseinandersetzung beginnen sollte, aber er war doch wesentlich stärker als ich und der Griff, mit dem er mich noch immer hielt, war fest und bestimmt. Die brutalen Kerle gewinnen doch immer … Ich wand also nur schwach ein:
»Ich bin mit Nix längst versöhnt und muss ihn sprechen, es ist sehr wichtig. Frag ihn.« Er schüttelte nur den Kopf, durchschaute meine ungeschickte Lüge sofort. Da trat die MBB, die mein Missgeschick bemerkt hatte, näher und rettete den Tag. Sie erkundigte sich streng, was hier denn überhaupt los sei. Durch ihre dominante Leibesfülle und den walkürenhaften Ton ihrer Stimme erschreckt, ließ mich mein Gegner endlich los.
»Er hat keine Einladung …«, erklärte er merklich unsicherer, aber er richtete sich doch drohend vor der Vorsitzenden des BBK auf, um seine einzige Überlegenheit, nämlich seine Größe, auszuspielen.
»Georg ist mit mir hier. Ich halte die Laudatio. Hast du damit ein Problem, sag?«, fragte MBB kalt. Die beiden maßen einander kurz. Schließlich kam MBB zu einem offensichtlich nicht sehr schmeichelhaften Ergebnis, denn sie verzog verächtlich lächelnd ihren Mund. Dabei wog sie warnend das gerollte Manuskript ihrer Eröffnungsrede in der Rechten. Ich setzte mich halb auf die Kühlerhaube des Wagens hinter mir, verschränkte vergnügt die Arme und genoss die Szene, die sich mir nun bot. Die Augenschlitze von MBB wurden noch enger, dann schnaubte sie plötzlich einmal wie ein wütender Stier, machte einen überraschenden Schritt nach vorn. Sie sah in ihrem hinreißend gut gespielten Zorn wirklich erschreckend aus. Der Kerl stolperte tatsächlich entsetzt zurück und fiel hin: Erst strauchelte er zurück, dann kippte er halb nach vorn, auf seine Knie und Hände. MBB beugte sich drohend über ihn und er machte sich ganz klein am Boden.
»Hast du damit ein Problem?«, wiederholte sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich höre dich nicht«, drohte sie.
»Nein!«, rief er laut und gedemütigt. »Ihr könnt beide rein.«
MBB wollte noch etwas sagen; wahrscheinlich sollte er ihr jetzt noch die Füße küssen. Aber ich fand, dass es genug war und drängte die Frau zurück. Es fiel uns beiden schwer, ernst zu bleiben und ein Lachen zu unterdrücken. Ich konnte mir selbstverständlich nicht verkneifen, zu ihm herab: »Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein«, zu sagen und dann triumphierend bei der mannhaften Verteidigerin meiner Ehre untergehakt die Galerie zu betreten.
Glücklich innen angelangt, bedankte ich mich artig bei ihr und machte mich sofort auf die Suche nach Nix, von dem ich vermutete, dass er, von einer Menschentraube umgeben, irgendwo bleich und aufgeregt in einem Winkel stand und nervös an den Fingernägeln kaute. Aber ich konnte ihn nicht finden. In den drei großen Räumlichkeiten mochten sich überschlagsmäßig sicherlich zwei- oder dreihundert Leute aufhalten, die sich, einander auf die Füße tretend, in unterschiedlich großen Gruppen lautstark unterhielten oder sich an den ausgestellten Bildern und Collagen vorbeischoben. Ich hätte Nix dennoch finden müssen, wenn er sich hier aufgehalten hätte. Ich nahm an, dass er sich gerade in einem Nebenraum auf seinen großen Auftritt vorbereitete. Also entschloss ich mich, auf ihn zu warten und reihte mich in den Strom ein, der sich im Kreis langsam und kunstbeflissen an den Wänden entlang bewegte. Zum ersten Mal bekam ich einen genauen Überblick von der erstaunlichen Bandbreite der Kunst von Nix zu sehen, auch wenn ich mich natürlich nicht intensiv mit den Gemälden beschäftigen konnte. Es hingen vielleicht fünfzig meist großformatige Bilder an den Wänden, durch geschickte Beleuchtung gelangten sie bemerkenswert eindringlich und plastisch zur Geltung. Viele der Collagen waren genau so, wie ich sie erwartet hatte. Es waren düstere Schlachtfeste aus unappetitlichen Materialien, die in diesem geballten Auftreten die Magenschleimhäute erheblich strapazierten. Aber dazwischen gab es immer wieder Bilder, die ich als echte Meisterwerke empfand. In diesem Text ist ihr Genie nicht annähernd beschreibbar und das Heranziehen von Vergleichen kann ihnen unmöglich gerecht werden.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 36)“
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