Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 34)

[Zum ersten Teil]

»Da siehst du, wo er unter anderem sein Geld ge­lassen hat. Schau nur hin, Resa! Die Stereoanlage von Bang & Olufsen hat er sich für das Preisgeld des regionalen Kunstpreises gekauft, nicht so wichtig. Aber die Plat­ten …, weißt du, wie viele das sind?« Theresa stand stumm und staunend, wie erstarrt. Sie war anscheinend wirk­lich zum ersten Mal in die­sem Zimmer. Der An­blick hatte sie vollkommen überrascht. »Der Herr Künstler mag keine CDs, es mussten unbedingt Schallplatten sein. Ich habe mir die Mühe gemacht, sie überschlagsmäßig zu zählen«, fuhr Pauli fort. »In ei­ner Reihe sind es etwa zweitaus­end Alben und er hat fünf Regalreihen übereinander. Er be­wahrt hier übrigens nur klassische Musik auf. Die vier-, oder fünftausend Alben mit moderner Musik im Wohn­zimmer, die du sicher kennst und in dem er ja auch eine Stereoanlage hat, wollen wir mal unter den Tisch fallen lassen. Er hat die Sammlung hier alpha­betisch sortiert, es ist nicht zu fassen. Dort oben links be­ginnt er mit Tomaso Albinoni und der Fami­lie Bach, hier unten schließt es mit Vivaldi, Wagner und Ziehrer. Er besitzt allein siebzehn verschiedene Interpretationen von Rachmaninoffs zweitem Kla­vierkonzert. Siebzehn! Und zehnmal hat er das Deutsche Requiem. Wenn er hintereinander alle Platten hören wollte, wäre er zwei ganze Jahre be­schäftigt. Hast  du eine Vorstellung, wie­viel Geld da an der Wand hängt, weißt du das, Resa? Mit den Platten im Wohnzimmer zusammen hängt da ein Mittelklassew­agen!«

Theresa schwieg. Bleich und krank starrte sie auf die endlosen Reihen von Plattenhüllen und es schien, als würde sie sich von diesem Anblick nie mehr losreißen. Ich konnte in diesem Augenblick nachvollziehen, was in ihr vorging: Etwas zerbrach, ein weiteres Kettenglied, das sie mit ihrem Freund verbunden hatte. Viele waren wahrscheinlich nicht mehr übrig. Pauli hatte ihr eine klinische Facette ihres Freundes gezeigt, die für sie absolut neu und da­bei erschreckend war. Nix hatte diese krankhafte Sam­melwut vor ihr ge­heimgehalten, sie fühlte sich von ihm betrogen und allein gelassen und fragte sich be­stimmt, was sie noch alles nicht von ihm wusste. Sie tat mir leid, aber ich wusste nicht, wie ich sie trösten konn­te. Pauli, der ebenfalls bemerkte, was Theresa emp­fand, riss sie mit beiden Händen an den Schul­tern herum. Er war noch nicht fertig mit ihr.

»Das hast du nicht gewusst, nicht wahr, wie mein sau­berer Neffe sein Geld verschwendet hat?«, sagte er und rüttelte sie, damit sie aus ihrem Tagtraum erwachte. »Ich hat­te bis heute auch keine Vorstellung von diesem Ab­grund. Aber das ist noch nicht alles. Schau dich um. Hast du eine Ahnung, was eine Wohnung in dieser Lage und Größe monatlich kostet? Ich selbst könnte sie mir nicht leisten. Jürgen wohnt hier seit über einem Jahr und wirtschaftet sie völlig herab. Er hat noch nie daran gedacht, auch nur eine müde Mark als Miete zu bezahlen.«

»Nix hat mir erzählt, er könne hier mietfrei woh­nen«, warf ich ein, wollte ihn von Therea ablenken, die er längst waidwund geschossen hatte. Pauli widmete mir einen müden ‚Was, du bist auch noch hier‘-Seitenblick.

»Das war eine Lüge. Er hat einen Mietvertrag mit der Follia-Immobiliengesellschaft wie jeder andere auch. Niemand hat Geld zu verschen­ken, auch mein Vater nicht. Ich habe eine Aufstel­lung der Kosten bei mir, sie belaufen sich, abgerun­det versteht sich, auf 45.000 Mark. Heute habe ich es endlich geschafft, Jürgen abzupassen und ihm diese Rechnung vorzulegen. Es ist ein verwandt­schaftlicher Gefallen von mir, seine Bilder in Zah­lung zu nehmen. Ein anderer hätte ihn längst ver­klagt.«

»Nix ist gerade in München, oder?« fragte ich nach, be­müht, ihn zu einem anderen Thema zu ziehen. Ich hatte Erfolg: Pauli ließ The­resa endlich los und wandte sich zu mir. Ich sah be­sorgt, wie sie etwas zurück gegen das Regal mit den Schallplatten schwankte und sich unsicher an den Kopf fasste.

»Ja, natürlich, schon seit gestern. Er überwacht die Auf­bauten für die Eröffnung seiner Vernissage bei Nasolt & Habek. Wo soll er denn sonst sein? Ich hatte heute Morgen in Schwabing zu tun und da­durch die Möglichkeit …«

»Wie sah er aus?«, unterbrach ich ihn. Pauli zog eine Braue in die Höhe, denn er war daran gewöhnt, dass man ihn respektvoll aussprechen ließ. Aber er antwortete friedlich:

»Wenn Sie mich schon fragen: Ganz schrecklich. Er war unrasiert, übernächtigt, er roch nach Schweiß und war sehr gereizt und unfreundlich. Er scheuch­te die Be­leuchter wie eine Hammelherde herum. Ja, die Herren Künstler …« Er seufzte wissend. »Stellen Sie sich vor, er hatte an beiden Händen einen dre­ckigen Verband, als hätte er sie sich an einer Herd­platte verbrannt.« Ich war nicht so sehr mit Paulis Geschwätz be­schäftigt, um nicht auch gleichzeitig auf Theresa zu achten. Bei der Erwähnung des Verbandes bekam ihr Gesicht die Farbe einer Käseku­chenfüllung. Sie ruderte hilflos und abwehrend mit ei­ner Hand, dann verließ sie die Kraft. Ich trat rechtzeitig einen Schritt auf sie zu und fing die Fallende auf. Merk­würdig schlaff und weich hielt ich sie in meinen Armen. Sie war zwar bei Bewusstsein und betrachtete mich mit einem starren, erstaunten Blick, dennoch konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten, sie atmete flach und hektisch. Ich strich ihr sanft über das Haar, um sie zu beruhigen. Ihre Stirn glühte. Pauli verstumm­te und be­trachtete uns beide wie eine anstößige Skulptur.

»Das wird dieser Gestank hier sein!«, stellte er bei­nahe mitleidig fest. »Weshalb muss dieser Idiot von einem Neffen auch ausge­rechnet echte Knochen aus dem Schlachthof für seine Collagen benutzen?« Theresa stöhnte mit­leiderregend und verdrehte die Augen, das war keine Replik auf Pau­lis Bemerkung, sondern ein Zei­chen, dass es ihr noch schlechter ging. Ich nahm sie in die Höhe. Theresa war erstaunlich leicht. Ich trug sie hinaus in den Gang, hin­über zu Nix‘ Atelier, das ich als den lichtesten und freundlichsten Raum der Wohnung in Erinnerung hatte. Ich stieß die Tür auf. Es fehlte nicht viel und ich hätte vor Überraschung meine Last fallen gelassen. Ich keuch­te entsetzt auf. Es war grauenvoll:

Alle Wände und Fenster waren rot beschmiert, wie von blutigen Händen besudelt. Und in der Mitte des Rau­mes lag auf dem Parkett ein ausgeweidetes Kalb; die grünliche, verwesende Eingeweide war be­deckt von Fliegen und Maden. Es roch schrecklich nach Leim und Urin. Theresa schrie und wurde ohn­mächtig.

Pauli und ich brachten Theresa sofort in seinem Wagen zu ihren entsetzten Eltern, die die Erschöpfte, die nun ein fiebriger Schüttelfrost quälte, sofort zu Bett brachten. Sie hielten sie auf Anraten des Hausarztes dort über eine Woche fest, was sich nachträglich als das Beste heraus­stellte, was sie hätten tun können. Pauli ließ mich vor der Vorstadtwohnung ihrer El­tern stehen. Er dachte überhaupt nicht daran, mich wieder in die Innenstadt mitzunehmen. Er stieg grußlos in seinen Wagen und fuhr einfach davon.

Ich schimpfte ein wenig. Dann machte ich mich er­geben auf den langen, trübsinnigen Heimweg. Nicht zu­letzt durch die Stimmung des grauen, kühlen Herbstta­ges fand ich immer deutlicher zu der Ah­nung, dass et­was Unangenehmes, Gefährliches in der Luft lag. Ich hatte die Vorzeichen einer heranna­henden Katastrophe erlebt, die nun wie eine drohen­de Gewitterfront in der Atmo­sphäre hing. Ich kann nicht sagen, woher diese Empfin­dung kam, aber sie verstärkte sich während mei­nes tris­ten Fußmar­sches durch die leere Vorstadt. Und es war nicht nur die Kälte in der Luft, die mich frösteln ließ. Ich wusste, das letzte Kapitel stand unmittelbar bevor.

[Zum 35. Teil …]

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