Dennoch bleibt etwas zurück

Kunst1

Nikolaus Klammer, Blauer Schmetterling – Acrylfarbe auf handgeschöpftem Papier, 1984

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„So zwingt das Leben uns,
zu scheinen, ja, zu sein wie jene,
die wir kühn und blind verachten konnten.“
Goethe, Torquato Tasso

Dieses Gemälde habe ich heute unter einem Stapel von alten Texten, die ich schon seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen habe, begraben gefunden. Ich suchte eigentlich nach der Fortsetzung der Kriminalerzählung Das schwarze Urteil. Den Text fand ich leider nicht mehr vollständig (ich werde den Rest wohl nachdichten müssen, falls Interesse besteht), aber einige meiner Jugensünden, die ich der Welt ersparen und wahrscheinlich demnächst im Altpapiercontainer entsorgen werde – falls meine Sentimentalität das zulässt.

Dieses Bild jedoch –  auf von mir auf selbst geschöpftem Papier gemalt – an das ich ich keinerlei Erinnerung mehr hatte, löste eine Vielzahl von Gefühlen in mir aus – in der Hauptsache Bedauern. Es ist mit Sicherheit kein Meisterwerk, das ich da zwischen den grauen Ausdrucken meines ersten Theaterstücks auf „Umweltpapier“ (1), Gedichten und einem frühen Romanentwurf gefunden habe, aber es weist weit in die Vergangenheit in eine Zeit zurück, als ICH ein anderer war. Ein weit entferntes und fremdes ICH. Freilich, diese ICH-Schicht von damals gibt es noch, aber sie ist verborgen unter anderen Persönlichkeitsschalen, die über die Dekaden darüber wuchsen wie die Häute einer Zwiebel oder die Jahresrinden eines Baums. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mir heute mein unausgegorenes und arrogantes Vergangenheits-ICH von damals sympathisch wäre. Mein früheres ICH wäre jedenfalls von meinem heutigen maßlos enttäuscht; da hatte es sich von seiner Zukunft mehr erwartet als den einigermaßen gutsituierten, aber vollkommen desillusionierten älteren Mann, der ich heute bin. Er hätte mich kühn und blind verachtet.

Mit Anfang 20 hatte ich für mich einen imaginären Anzug geschneidert, den ich für den Rest meiner Tage tragen wollte, den des „romantischen, larmoyanten und zynischen Künstlers“, des Hemingway-Schriftstellers. Der Anzug passte nirgendwo und zwickte beim Tragen. Am Bauch war er zu eng, an den Ärmeln zu kurz, an den Hosenbeinen zu lang. Sehr schnell wurde der Stoff an Knie und Ellbogen fadenscheinig und seine breiten Schulterpolster kamen aus der Mode. Aber ich konnte mich glänzend in ihm verstecken, selbstgefällig und überlegen auftreten, mich als das Genie ausgeben, das ich zwar nicht war, aber unbedingt und bald werden wollte. Wie viele „romantische Künstler“ besaß ich eine Doppelbegabung: Neben dem Schreiben hatte ich mich der Malerei verschrieben und dilettierte in beiden Kunstrichtungen fröhlich und von der Weltbedeutung meiner Werke überzeugt vor mich hin (Jonas Nix aus Die Wahrheit über Jürgen ist meinem damaligen ICH nachgebildet). Nicht von ungefähr zeigt das Gemälde oben einen „blauen Schmetterling“, weist auf Novalis hin und auf die Schönheit eines flüchtigen Moments. Auf die Wiedergabe des seltsamen Gedicht-Prosa-Zwitters, den ich auf der Rückseite des Kunstblattes fand und den ich damals für echte, tiefempfundene Lyrik hielt, verzichte ich an dieser Stelle voller Scham (2).

Doch schon bald kam in meinem Leben der Augenblick, an dem ich mich zwischen der Malerei und dem Schreiben entscheiden musste. Es waren die Jahre, in denen ich gezwungen wurde, mich mit der „braunen“ Schuld meines Vaters auseinanderzusetzen, der Frage, ob er ein Mörder war: „Die Väter genießen die Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“ Ich schrieb über die Vergangenheitsbewältigung in der Nazi-Söhne-Generation meinen Roman Das Spiel, von dem ich hier bislang nur ein paar Bruchstücke veröffentlicht habe. Das Buch und sein Thema beschäftigten mich viele Jahre, ließen mich reifen. Die Literatur ist eine eifersüchtige Geliebte. Sie duldet keine andere Muse neben sich. Sie will den ganzen Menschen mit Haut und Haar und ich war ihr seit unserer ersten Begegnung leidenschaftlich verfallen. Das wollte ich wirklich und das will ich auch heute noch: In und mit und vielleicht auch von der Literatur leben. Danach habe ich mein ganzes Leben ausgerichtet, Schreiben ist mein Lebensziel und -zweck. Ich hatte keine wirkliche Wahl – die Literatur entschied sich für mich.

Dennoch (hier bewusst das weiche, bedauernde „dennoch“, nicht das trotzige, zornige „trotzdem“), dennoch bleibt etwas zurück, wenn ich meine frühen Versuche auf dem Gebiet der Malerei betrachte. Es ist eine nachgiebige, melancholische Stimmung; eine Nachdenklichkeit, die Erkenntnis, dass alles auch anders hätte werden können, mein Leben und damit ich selbst ein völlig anderer hätten werden können. Was wäre geschehen, wenn ich mich damals für die Malerei und die Lyrik entschieden hätte? Oder wenn ich einfach aufgehört hätte, Kunst zu machen? Wäre alles besser verlaufen? Das ist ein nutzloser Gedanke, wie das bunte Herbstblatt eines alten Baumes, das der Sturm endlich herabgezerrt hat und das nun wie ein toter Schmetterling im feuchten Dreck der grauen Straße liegt.

Ein kurzer bedauernder Blick sei mir jedoch vergönnt, dann gehe ich auch brav meinen einsamen Weg weiter …


(1) Gibt es das überhaupt noch, graues Umweltschutzpapier? Wahrscheinlich ist sie ausgestorben wie die Jutetasche und die Anti-Atomkraft-Buttons. Manchmal glaube ich, es sind mehr Dinge aus meinen jungen Jahren verloren gegangen, als neue in den späteren dazu kamen. Heute bekam ich von meinem Bruder eine Urlaubspostkarte vom Bodensee; er ist wahrscheinlich der letzte Mensch auf Erden, der kein Instagram oder Whats-App hat. Wann habe ich eigentlich die letzte Postkarte geschrieben? Vor fünf, vor zehn Jahren? Merkwürdig, man erinnert sich meist, wann man etwas zum ersten Mal getan hat, aber nie, wann man es zum letzten Mal tat. – Und ich habe jetzt überhaupt keine Ahunung, was diese Gedanken mit meinem Text oben zu tun haben …

(2) Also gut, weil ich so nett gefragt wurde:

Blauer Schmetterling

Heute schneit es direkt in mein Herz.
Heute ist die Straße glatt, die mich zu dir führt.

Heute dampft Nebel über den Böden.
Heute verliere ich meinen Weg im Schnee.

Heute liegt Kälte wie ein Leichentuch auf den Feldern.
Heute friert meine Seele, liegt nackt vor dir.

Doch schon morgen wird das anders sein.
Morgen bin ich dein Schmetterling,
tanze wie Staub in der Sonne,
flattere wie ein Lachen durch die Luft.

Morgen.

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