Kalvin setzte sich wieder in seinen Sessel. Seine Hand mit dem Foto zitterte; jetzt erst kam der Schock. Während er die unbewussten Reflexe seines Körpers beobachtete, suchte er sich zu beruhigen. Diese Sache allerdings wuchs ihm allerdings bereits jetzt über den Kopf. Kalvin sehnte sich danach, jemanden ins Vertrauen zu ziehen, der ihm helfen könnte. So sehr er auch in seiner Erinnerung wühlte: Niemand fiel ihm ein. Schon lange nicht mehr war ihm in den Sinn gekommen, wie einsam es in den letzten Jahren um ihn herum geworden, wie alleine er war. Die Beziehung zu Eli hatte ihn davon abgelenkt. Mit dem Unfalltod von Barbara, seiner Frau, hatten auch die meisten Freundschaften geendet, weil er sich in seinem Schmerz in ein Schneckenhaus zurückgezogen und Annäherungsversuche fast panisch von sich gewiesen hatte. Die längste und engste Freundschaft zu seinem ehemaligen Studienfreund Klaus Bilde hatte vor drei Jahren ihr Ende gefunden, als Kalvin der Berufung an die Uni gefolgt war und dafür seine Arbeit in der Wirtschaft aufgab und sich von Klaus aus der gemeinsamen Beratungsfirma auszahlen ließ. Er dachte nicht gern daran, es war eine unangenehme Erinnerung, denn das Ganze hatte mit einem Streit geendet. Zu den Professoren und Dozenten war er von Anfang an auf Abstand gegangen. Ihre Art zu leben entsprach nicht der seinen. Nein, er wusste niemanden, der ihm im Moment beistehen konnte. Er hatte die Situation allein zu meistern und jetzt blieb Kalvin nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Kalvin kam am Pförtnerhaus neben dem breiten, mit eisernen Ketten verschlossenen Osttor der ehemaligen Maschinenfabrik um dreiviertel neun Uhr an. Von der Bushaltestelle einige Parallelstraßen entfernt war es ein Fußweg von nur fünf Minuten gewesen. Er war nicht mit dem Auto gefahren, weil er während der Wartezeit den restlichen Rotwein aus der Flasche, die ihm normalerweise eine ganze Woche reichte, getrunken hatte. Der verfallene Gebäudekomplex lag inmitten eines alten Industriegebiets und zu dieser Tageszeit war kaum jemand unterwegs. Die Rubensstraße lag völlig still vor ihm und sie war eine der am wenigsten vertrauenerweckenden Straßen des Viertels. Auf der Seite, auf der Kalvin stand, zog sich schier endlos eine kahle Ziegelsteinmauer hin, die das alte Wessingsche Industrieareal umgrenzte. Nur wenige, trübe flackernde Lampen erhellten sie unzureichend. Gegenüber lag ein vollkommen in Schwärze getauchter, ungepflegter Park. Kalvin spähte angestrengt durch die rostigen Gitterstäbe des Tores und versuchte dahinter in der verwaschenen Düsternis zwischen den heruntergekommenen Gebäudeleichen etwas zu erkennen.
“Ein geschickt ausgewählter Treffpunkt”, dachte er, “das muss man dem Kerl lassen. Unübersichtlich, abgelegen, einsam; geeignet, einen verängstigten Menschen noch mehr einzuschüchtern.” Doch darauf würde er nicht reinfallen, mit solch billigen Tricks war er nicht zu fangen. Zudem konnte er die ganze Entführung noch immer nicht ganz ernst nehmen, viel zu surreal erschien ihm diese Situation. Kalvin versuchte die Klinke. Das Tor war versperrt, zusätzlich mit dem Kettenschloss gesichert. Er pfiff leise durch die Zähne. Stellten sich diese Entführer etwa vor, er würde über die Mauer klettern? Er sah sich um und entdeckte an dem kleinen Pförtnerhaus an der Seite eine hölzerne Tür. Sie ließ sich ohne Probleme öffnen. Kalvin griff in seine große Manteltasche und holte eine Stablampe hervor, die er von Zuhause mitgenommen hatte, weil er nicht wie ein blinder Hase in den Fabrikhallen umherirren wollte. Dann stieß er mit zwei Fingern seiner behandschuhten Rechten die Tür an, die ohne Geräusch nach innen schwang. Mit dem kalten Lichtkegel der Lampe aufmerksam den Boden vor sich prüfend, trat er vorsichtig hinein. Glasscherben knirschten unter seinen Schritten. Er ließ sein Licht wandern. Bis auf einen verrosteten und verbogenen Stahlstuhl in der Ecke und einigem Unrat war das Häuschen leer. Den Ausgang auf das Fabrikgelände bildete eine halb aus den Angel gerissene Glastür, die längst nur noch aus ihrem Holzgerüst und ein paar im Rahmen steckenden Scherben bestand. Dennoch musste Kalvin einige Kraft aufwenden, um den Durchgang für sich frei zu machen. Hier war vor ihm schon lange niemand mehr durchgegangen. Wenn die Entführer nicht nach ihm kamen – was er für wenig wahrscheinlich hielt -, bedeutete es, dass es noch einen zweiten Durchgang zu dem abgesperrten Areal geben musste.
Kalvin stand nun auf einem gepflasterten Weg, zwischen dessen Steinen hohe Grasbüschel wuchsen, die im Schein der Lampe karg und winterbleich wirkten. Der Weg führte auf ein hohes Gebäude zu, wohl den ehemaligen Verwaltungstrakt. Links und rechts standen langgezogene Fabrikhallen. Kalvin lauschte. Nur das ferne Summen der Autobahn und sein eigener, unruhiger Atem drangen ihm zu Ohren. Eine taube Stille lag über den alten Industrieanlagen und die Gänsehaut, die sich kurz in seinem Nacken bildete, kam nicht von der Kälte der Februarnacht, die hier draußen viel frostiger als in der Stadt in der Luft hing. Den Anweisungen folgend wandte sich Kalvin nach links zu einem vermutlich nur ebenerdigen Gebäude im Ziehharmonikastil. Dere Personendurchlass in dem hohen Eingangstor stand offen. Damit war es sicher: Er wurde erwartet. Für einen Moment verharrte Kalvin unsicher. Seine Erregung nahm zu und drückte ihm stark auf die Blase. Er kämpfte mit dem Drang, sich noch Erleichterung zu schaffen und verwarf ihn. Dann überwand er sich und betrat die Halle. Dass Licht in seiner Hand zitterte unruhig. Das Gebäude bestand nur aus einem einzigen, großen Saal unter einer hohen, von Säulen getragenen Decke. Kalvins Stablampe reichte längst nicht aus, die leere Halle auszuleuchten. In regelmäßigen Abständen waren Rinnen und große Schrauben im Boden verankert; die übriggebliebenen Spuren und Verankerungen von längst fortgeschafften Maschinen. Er stolperte über eines der aus dem Zement ragenden Eisenstücke. Vorsichtig ging er weiter zu der Stelle, an der er die Mitte der Halle vermutete, dabei spähte er aufmerksam nach beiden Seiten, ohne eine Person zu Gesicht zu bekommen.
Er blieb stehen und wollte sich durch einen Ruf bemerkbar machen. Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Die Tür fiel zu und das Tor dröhnte blechern. Kalvin wandte sich herum um und schloss geblendet die Augen. Zwei helle Scheinwerfer leuchteten ihm direkt ins Gesicht. Sie standen links und rechts der Eingangstür und waren ihm eben in der Dunkelheit entgangen. Nach ihrer extremen Lichtausbeute zu urteilen, mussten sie zu einer Foto- oder Filmausrüstung gehören. Kalvin hob schützend eine Hand und konnte blinzelnd eine Gestalt ausmachen, die sich zwischen den Lichtern näherte. Er steckte seine nutzlos gewordene Lampe in die Tasche, hielt sie aber weiterhin umklammert, um sie im Notfall als Schlagwaffe benutzen zu können. Ungeduldig wartete er auf das langsame, fast provokative Näherschlendern der Gestalt, von der er, obwohl er sich an die Helligkeit gewöhnte, im grellen Gegenlicht nur den Schattenriss wahrnehmen konnte. Trotzdem war zu erkennen, dass es ein Mann war und er in seiner Rechten eine Pistole trug. Sie hing zwar mit seinem Arm an seiner Seite herab, aber Kalvins Herz machte bei ihrem Anblick einen erschreckten, zitternden Schlag. Vielleicht zehn Schritte vor ihm blieb der Mann stehen, dann hob er lässig seine Waffe und zielte auf Kalvin. Kalvin spürte ein bohrendes Ziehen über der Nasenwurzel und zog den Kopf ein. Instinktiv sah er sich nach einem Versteck um. Es gab keines in seiner Nähe; er war dem Gegenüber ausgeliefert. Zudem war der Kerl wahrscheinlich nicht allein.
“Nehmen Sie die Hände hoch, Dr. Kalvin”, hörte er die Stimme des Mannes und gehorchte sofort. Im gleichen Augenblick begann jemand, ihn von hinten abzutasten. “Sehen Sie sich nicht um.” Kalvin ließ die aufmerksame Untersuchung schweigend über sich ergehen, während er versuchte, die Gesichtszüge seines Gegenübers zu erkennen. Die Person hinter ihm nahm seine Lampe aus der Manteltasche und ließ sie unachtsam zu Boden fallen, dann fuhren die tastenden Hände seine Hose empor unter den Mantel. Kalvin zuckte zusammen: Das war eine Frau, die ihn untersuchte, er war sich ganz sicher. Für einen Moment kam ihm eine schmerzende, weil schreckliche Gedankenverbindung, doch er wagte nicht, gegen den Befehl den Kopf zu wenden und nachzusehen, ob es vielleicht Eli war.
“Er ist sauber”, sagte nahe an seinem Ohr eine weibliche Stimme. Sie klang nicht nach seiner Freundin; er hätte ihre Stimme, obwohl sie verstellt war, mit Sicherheit erkannt.
“Gut”, dachte er, “es sind also zwei Entführer, möglicherweise auch drei, ein oder zwei Männer, eine Frau, alle, nach den Stimmen zu urteilen, jung, noch keine dreißig.” Sein Verdacht, es wären Studenten von ihm, erhärtete sich. Die Frau forderte ihn auf, die Hände auf dem Rücken zu verkreuzen. Kalvin gehorchte und er spürte das kalte Metall der Handschellen, die sie ihm anlegte. Die beiden wollten anscheinend keinerlei Risiko eingehen. Warum legten sie so viel Vorsicht an den Tag? Fürchteten sie ihn denn?
“Setzen Sie sich”, sagte der Mann, der noch immer mit der Pistole nach ihm zielte. Kalvin bemerkt einen Stuhl, der ihm von hinten gegen die Kniekehlen geschoben wurde. Er nahm Platz. “Ausgezeichnet. Jetzt schlagen Sie bitte die Beine übereinander.”
Eine Antwort auf „Das schwarze Urteil (Teil 5) – Kriminalerzählung“
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