Ausführliche Handreichung für Kritiker und Wichtigtuer (Teil II)

Ausführliche Handreichung, wie man eine Kritik schreibt,
ohne das Buch gelesen zu haben
oder sich nicht mehr erinnern kann,
dass man das Buch gelesen hat

Und wer von uns Kritikern hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches Unbeschreibliche ward da getan. Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Ereignis sein soll! Ach, wie bin ich der Kritiker müde!“

Friedrich Nietzsche

2. Umleitung

Es gibt in Deutschland etwa 2.500 Verlage, die jährlich über 90.000 Bücher auf den Markt werfen, davon sind ein Drittel literarische Werke. Dazu kommt eine fast unüberschaubare Menge an in Eigenregie veröffentlichter Texte von sogenannten Hobbyautoren (ich gehe morgen näher darauf ein), zu denen auch ich gezählt werde und die wir hier mal vernachlässigen wollen, weil sie eh niemand kritisiert, rezensiert oder gar liest. Jetzt streichen wir mal alle unterklassigen Veröffentlichungen, also Fanfiction, Genre-Literatur, Blümchen-Pornos oder Bücher, in deren Titeln Wörter wie „Lavendel“ oder „kleine Buchhandlung“ vorkommen, und Werke, die ihren Inhalt schon im Titel preisgeben. Dann bleiben immer noch etwa 5.000 Neuerscheinungen und Übersetzungen, die den anspruchsvollen Kritiker interessieren sollten. Niemand kann so viele Bücher durcharbeiten, kein Schnell- oder Querleser, nicht einmal ein Anleser. Schließlich wollen wir ja auch endlich das eine oder andere längst erschienene Buch aus den Vorjahren lesen oder mal wieder einen Balzac oder einen Dostojewski genießen und den Proust schiebe ich schon seit zwanzig Jahren vor mir her.

Trotzdem wollen alle neuen Bücher kritisiert und besprochen sein, das sind wir doch den fleißigen Verlegern, Autoren, Lektoren, Übersetzern, Illustratoren, Setzern, Druckern, kaufmännischen Angestellten, Sekretärinnen, Buchhändlern, depressiven Hol-den-Kaffee-und-ein-paar-Donuts-Praktikanten und den sonstigen Mitwirkenden schuldig, denn jedes Werk sollte seine Chance beim Publikum bekommen, um ein Bestseller zu werden. Ein nicht besprochenes Buch findet keine Leser und niemand verdient etwas.

Was sollen wir also tun, wenn wir gute Kritiker sein wollen und verbunden mit ein paar netten Aufmerksamkeiten ein Belegexemplar von der Branche erhielten, mit der freundlichen Aufforderung, doch ein paar möglichst freundliche Worte zu finden? Vielleicht hast du dich auch schon finanziell verpflichtet, aber eben gerade überhaupt keine Lust oder Zeit, genau dieses Buch zu lesen. Die meisten kramen nun in ihrem Textbausteinkasten und dem Thesaurus;  loben dann das Buch als das Beste, dass sie „in diesem Jahr“, „zu diesem Zeitpunkt“, „überhaupt“, „in diesem Genre“, „zu diesem kontroversen Thema“, „in diesem Land“, „von einer Frau“, „von einem Mann“, „von einem LGBT (auch GLBT, LGBTI, LSBTTIQ)“, „von einem hoffnungsvollen Talent“, „von einem bewährten Autor“, „von einem Literaturpreisträger“, „von einem Bayern“, „von einem Prominenten“, „von einem Schauspieler“, „von einem Augenzeugen“, „von einem Politiker“ lasen, setzen nur noch vorsichtig ein einschränkendes „vielleicht“, „möglicherweise“, „nahezu“ oder – besonders beliebt – ein „wahrscheinlich“ dazu, empfehlen es „uneingeschränkt“, „explizit“, „als Herzensangelegenheit“, „jeder Frau“, „jedem Liebenden“, „jedem politisch Interessierten“, „jedem Deutschen“. Dann vergleichen sie das Buch mit dem Erstlingswerk des Autors oder mit einem allgemein bekannten Buch, dessen Titel Anklänge an das besprochene Buch aufweist. So ist jede Familiensaga mit den Buddenbrooks vergleichbar, jeder Fantasyroman mit dem Herrn der Ringe, jeder Krimi mit dem Malteser Falken und jeder Jugendroman mit Harry Potter.

Es ist ein „nachdenkliches“, „stupendes“, „faszinierendes“, „fesselndes“, „atemberaubendes“, „sprachgewaltiges“ Werk „der Reife“, „des Zorns“, „des Ungestüms“, „der Trauerarbeit“, „der Erinnerung“. Leider ist dieser beliebte Trick so häufig, wie er durchschaubar ist. Deshalb empfehle ich dir hier eine leicht abgewandelte Version dieses Verfahrens:

Dazu sei ein Beispiel aus dem Leben eines Teenagers erwähnt, der von der Schule gezwungen wurde, zum Kritiker zu werden, der aber lieber anonym bleiben will (Na, gut, es ist mein jüngerer Sohn). Dieser mit mir nahe verwandte junge Mann hatte die Aufgabe, Die Wand von der lange verstorbenen österreichischen Autorin Marlen Haushofer zu lesen und vor seiner Klasse in einem Referat zu rezensieren (Es ist zwar der bei weitem berühmteste der drei Romane der Autorin, aber nicht ihr bester und ganz sicher ihr langweiligster. Aber Deutschlehrerinnen lieben ihn).

Nun stellte sich dieses Buch bereits auf den ersten Seiten als so öde dar, dass es sogar eine unglückliche Fontane-Erfahrung (man hatte ihn im Vorjahr gezwungen, Effi Briest zu lesen) lässig schlug. Aber es gab ja noch den Film! In der Hoffnung, dieser halte sich ans Buch, erwarb er eine Kinokarte. Was soll ich sagen: Die Verfilmung entpuppte sich als noch langweiliger; er schlief bereits in den Anfangsszenen ein und kam auch aus dem Kinosaal ohne nähere Kenntnis der Handlung. Das wäre nicht so schlimm gewesen, denn eigentlich hat Die Wand ja auch keine; aber woher sollte unser Jüngling das wissen? Verzweifelt wandte er sich an mich. Mir ging es jedoch wie ihm: Dieses Werk war vollkommen an mir vorbei gegangen, ich betrachtete es mit meinen mir eigenen Vorurteilen als einen leicht abstrusen, dabei männerfeindlichen Roman aus den fernen 60ern, geschrieben von einer zwischenzeitlich vollkommen vergessenen Autorin, die nur deshalb wieder in aller Munde war, weil eben jemand auf die Idee verfallen war, „Die Wand“ zu verfilmen. Tatsächlich schlummert Frau Haushofer nun, nur wenige Jahre danach, wieder vollkommen störungslos in ihrem Grab.

Aber wir (mein Sohn und ich) stellten gemeinsam fest: Die Grundidee, diese Käseglocke über der Landschaft, die war grandios; egal, ob es sich nun um „radikale Zivilisationskritik, die den Menschen wieder in die Natur zurückversetzt“ oder eine „Robinsonade“ handelt, oder um eine „Metapher für die Einsamkeit des Menschen zu verstehen ist, als seine Gefangenschaft im diversiven Ich.“ – um einmal die gängigsten Deutungen aufzuzählen, die in der Eile zu ergooglen waren. Die kann man selbstverständlich aus dem Internet kopieren, geschickt umschreiben und im Referat einbauen. Der Kritikerdreh ist aber, „Die Wand“ in eine Reihe von ähnlichen Werken zu stellen und sich dann nur noch mit diesen zu beschäftigen. Dem jungen Zwangskritiker und Science-Fiction-Fan fielen sofort ein paar Bücher und Filme ein, die ein zumindest ähnliches Thema variierten: „Arena“ von Frederik Brown (verfilmt als Startrek-Folge), Stephen Kings „Stadt unter Glas“ (muss man auch nicht gelesen haben, denn das gibt es als Fernsehserie), der Simpsons-Film und die „Truman-Show“, ich steuerte noch abwegigeres wie „The Purple Cloud“ von M. P. Shiel und „Verney“ von Mary W. Shelley bei. All das sind düstere Dystopien und allein dieses Wort war schon die halbe Kritikermiete.

Mein junger Freund musste nur noch das ungelesene Haushofer-Werk in eine Reihe mit den ihm bekannten Dystopien stellen und den Begriff erläutern, schon hatte er gewonnen.

„Die Wand“, der ursprünglicher Werktitel lautete übrigens „Die Glaswand“, ist also die wahrscheinlich schärfste Kritik an den diversierenden Entfremdungstendenzen in der westlichen Kultur, die je von einer Österreicherin geschrieben wurde und durch die Asylproblematik so modern wie nie. Ich kann dieses sprachgewaltige Meisterwerk jedem Liebhaber moderner Literatur uneingeschränkt ans Herz legen. Wie bei allen Dsytopien handelt es sich bei diesem reifen Opus einer Frühvollendeten um eine atemberaubende Robinsonade eines einsamen, von der Gesellschaft getrennten Menschen, einer starken, emanzipierten Frau. Egal ob es sich um den letzten Überlebenden der Menschheit wie bei Mary Shelleys „Verney“ oder … usw, usf, etc, blablubb … blabla …

Mission accomplished, Kritik geschrieben.

[wird fortgesetzt mit Teil 3: Blendung]

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