Schließlich brach ich mit Theresa zur Vorsitzenden des BBKs auf und ich war mehr als erleichtert, als wir endlich vor dem Haus, in dem sie wohnte, stoppten. Denn Jonas’ Freundin sah nicht nur aus wie die germanische Todesgöttin, sie fuhr auch Auto wie diese. Einmal rettete sich ein Radfahrer nur mit einem todesmutigen Schlenker auf den Bürgersteig davor, unter ihre Räder zu kommen. Ich weiß nicht, ob sie immer so fuhr, oder es ihrer Gemütsverfassung zuzuschreiben war. Es war nicht die MBB, die uns nach hartnäckigem Klingeln öffnete, sondern ihr verschlafener Mann Christopher Bach, ein Jazz-Musiker, der, nur mit bunten Boxershorts bekleidet, mich durch seine kränkliche Magerkeit überraschte, die ich zum ersten Mal in aller Hässlichkeit vor die Augen bekam. Er musste sein einziges Kleidungsstück festhalten, damit es nicht an ihm herabrutschte. Es ist wirklich erstaunlich, wie ein so unbedeutender und zerbrechlicher Mann wie er zu so einer fetten, aufgeschwemmten und dominanten Frau kam und ich hatte die vage Ahnung, er würde beim Liebesakt eines Tages unter ihren wogenden Massen ersticken. Er war nicht böse, dass wir ihn aus dem Bett geholt hatten. Tatsächlich hatte ich noch nie erlebt, dass er über etwas oder jemanden böse war. Er bedauerte wirklich, uns nicht helfen zu können. MBB sei bereits seit Stunden in ihrem Studio, da sie mitten in der Nacht die Inspiration gepackt hätte. Er selbst wäre leider an dem Abend, an dem sie sich mit Nix getroffen habe, mit seiner Combo in Memmingen gewesen und er wisse von nichts. Sie würden sich nie über ihre Arbeit beim BBK unterhalten.
Theresa wollte sofort zu Parma, doch da ich die Begegnung mit ihm und die lange Autofahrt zu seiner Wohnung noch etwas vor mir herschieben wollte, machte ich den Vorschlag, zuerst zu dem Studio von MBB zu laufen, das ganz in der Nähe war. Dort, in einer alten, ausgedienten Werkzeughalle der MAN, fanden wir sie auch, wie sie gerade, durch ihre Atemmaske und eine Plastikhaube auf den Haaren einem Marsmenschen nicht unähnlich, in Henry Moores Nachfolge an einer schön geformten, bauchig-glatten Steinskulptur arbeitete. Ich kann den Verdacht nicht ablegen, dass sie ihren Körper ebenfalls als Kunstobjekt betrachtete und ihn durch die Einnahme von Nahrung in die richtige Form zu bringen versuchte. Ich weiß nicht genau, weshalb das so war, aber sie freute sich wie jedes Mal, wenn sie mich sah, außerordentlich und war nicht böse, als wir sie bei der Arbeit unterbrachen. In ihrer Geschwätzigkeit stand sie Andernaj kaum nach; im Gegensatz zu dem Säufer wusste sie sich aber klug und gewandt in Szene zu setzen und es war ein Vergnügen, ihren profunden und intelligenten Ergüssen zu lauschen. Sie wusste leider ebenfalls nicht, wo sich Nix aufhielt. Er hatte sie am Donnerstagabend gegen acht Uhr besucht und war mit ihr die Inhalte ihrer Rede durchgegangen. Sie hatte sich nämlich dazu bereit erklärt, die Ausstellung von Nix‘ Bildern in der Galerie Nasolt & Habek am heutigen Abend zu eröffnen. Danach hätten die beiden noch bis gegen halb elf Uhr fachgesimpelt.
»Es war ein erfreulicher Abend. Wir haben uns glänzend verstanden«, führte MBB aus. Mehr könne sie uns zu ihrem Bedauern nicht sagen. Das half uns nicht weiter. Ich hatte also in den sauren Apfel zu beißen und musste mit Theresa meinen Erzfeind Emilio aufzusuchen. Während der zweiten abenteuerlichen Autofahrt mit ihr entschied ich mich, den Heimweg zu Fuß anzutreten, falls ich bis dahin noch lebte. Vielleicht sollte ich doch einmal daran denken, den Führerschein zu machen.
Emilio Parma hatte an seiner Wohnungstür keinen Namen zu stehen, weil er, wie er behauptete, ungestört arbeiten und sich nicht an die Behaglichkeit seiner sehr leeren Wohnung gewöhnen wolle. Seine Persönlichkeit benötige keinen Ausdruck durch eine in irgendeiner Form geartete Einrichtung. Ein Heim sei nichts weiter als eine Einbildung, es vermittle einem nur das trügerische Gefühl einer Geborgenheit, die in unserem Universum jedoch nicht existiere. Man merke das nur allzu deutlich an der Unsicherheit von Menschen, die umzögen. Er wolle diese Wohnung jederzeit ohne Bedauern hinter sich lassen können, die Brücken hinter der Schimäre Eigentum abbrechen, da er wie Sartre erkannt habe, dass er sich nur selbst besäße. Dieses pseudo-existenzialistische Geschwätz war nicht ernst zu nehmen, da er bereits seit über zehn Jahren in jener billigen Sozialwohnung hauste und bei Frauen, die ihm gefielen, unter anderen auch bei meiner Freundin, sehr großzügig mit seiner Adresse umging. Er hat sie sich deshalb auf Visitenkarten drucken lassen, auf denen die Berufsbezeichnung Performance- und Lebenskünstler stand.
Wir hatten Glück: Parma war zu Hause und er hatte beste Laune. Er war gerade mit seiner Freitagabend-Eroberung, die nur mit seidener Unterwäsche und einem Morgenmantel bekleidet war, beim Brunchen und lud uns sofort großzügig ein, mitzuessen. Ich wollte trotz meines leeren Magens aus Prinzip ablehnen, mit einem Feind zu frühstücken, aber Theresa hatte noch immer Hunger. Es war ein Vergnügen, ihr beim Essen zuzusehen. Wenn es um Nahrungsaufnahme ging, war sie hemmungslos, vergaß ihre ursprünglichen Anliegen und sämtliche Regeln des Anstands. Parma war anzumerken, dass ihm solch ein Heißhunger noch nicht untergekommen war und wahrscheinlich bedauerte er bereits seine leichtfertige Einladung. Aber er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und erzählte uns ausführlich, wie er am Morgen einen Kugelschreiber weggeschmissen habe, weil ihm aufgefallen war, dass er diesen bereits seit drei Jahren besaß und er noch immer gut funktioniere. (Der Kugelschreiber, versteht sich!) Das sei ihm unheimlich gewesen und er habe Angst bekommen, der Stift könnte ihn überleben. Er hasse Dinge wie diesen Kugelschreiber, sie würden sein Leben in vorbestimmte Bahnen zwängen. Deshalb habe er sich von ihm befreit. Er würde jetzt nur noch mit Bleistiften schreiben. Emilio sah beifallheischend zu uns, aber nur seine neue Freundin, die seine Exaltiertheiten noch nicht so gut kannte wie ich, lachte etwas gequält. Theresa und ich beschäftigten uns mit unseren Semmeln und dachten uns unseren Teil. Nach einer Weile entschloss ich mich, das Gespräch in Gang zu bringen und fragte statt der kauenden Theresa nach dem Verbleib von Nix.
»Wenn das der Grund für euren Besuch ist, muss ich euch enttäuschen«, sagte Parma und er klang in der Tat bedauernd. Schauspielern konnte er wahrscheinlich am besten. Er fuhr fort, er habe sich um elf Uhr nachts mit Nix in einem Lokal in der Innenstadt getroffen, wo sie sich über den Artikel unterhalten hätten, den Metropolis, seine Stadtzeitschrift, bei ihm in Auftrag gegeben habe, als Parma selbst dort noch nicht kultureller Mitarbeiter gewesen sei. Der Aufsatz über die Kunst hätte eigentlich bereits in der August- oder Septemberausgabe erscheinen sollen, so habe man es Nix auch zugesagt. Doch jetzt habe eben er, Parma, das Heft in der Hand und er könne, nachdem er den Aufsatz sorgfältig studiert habe, nicht verantworten, dass unter seiner redaktionellen Mitarbeit solch ein exhibitionistischer Text in der Metropolis erscheinen könne. Er habe Donnerstagnacht versucht, diesen Sachverhalt Nix so schonend wie möglich beizubringen. Doch der war, wie sich Parma ausdrückte, sehr uneinsichtig und: „… Nix entblödete sich doch tatsächlich, trotzdem auf einem vollständigen Honorar zu bestehen. Ist das zu glauben? Dabei hätte er doch froh sein können, dass er den Vorschuss behalten durfte, den ihm mein Vorgänger leichtsinnigerweise gegeben hat.“
Theresa warf den kümmerlichen Rest einer Käsesemmel vor sich auf den Teller und fixierte Parma scharf. Ich kannte diesen Blick bereits an ihr, er verhieß Gefahr. Sie kochte auf kleiner Flamme. »Was war denn an dem Essay auszusetzen?«, fragte sie gefährlich ruhig. Parma ging nicht auf die Frage ein. Er fuhr stattdessen seiner Freundin, die verschämt lächelte, mit gespreizten Fingern langsam durch das blonde, dauergewellte Haar.
[Fortsetzung nach der Sommerpause …]
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 31)“
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