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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 29)

[Zum ersten Teil]

Ob mich das Telefon weckte oder das energi­sche Rüt­teln Christines an meinem Arm, vermag ich nicht zu sa­gen. Ich hatte gerade geträumt, ich würde im Akkord die Nasenlöcher von Wildschweinen mit Johannisbeer­en-Gelee befüllen müs­sen und deshalb verständliche Mühe, in die Wirk­lichkeit zu finden. Ich öffnete mit gehörigem Wil­lensaufwand die verklebten Augen und sah das glei­che, wie wenn ich sie geschlos­sen gelassen hätte – nämlich buchstäblich nichts. Ich lag auf dem Bauch und starrte in das Kopfkissen. Müh­sam stemmte ich mit den Armen meinen Ober­körper in die Höhe. In diesem Augenblick läutete das Telefon wieder. Ich nahm es zum ersten Mal bewusst wahr. Ich gab ein paar unwillige Geräusche von mir und sah auf die Digitalan­zeige des Radioweckers. 03:12 Uhr höhnte mir leuch­tend rot entgegen. Ich benötigte ein paar zögernde Se­kunden, bis ich mit diesen Zahlen etwas anzufangen wusste. Es läutete erneut und ich ließ mich zurück auf die Matratze fallen. Ich war nicht einmal fähig, meiner Empörung über diese Störung mit einem Schimpfwort Ausdruck zu verlei­hen.

»Das war jetzt bestimmt schon das fünfzehnte Mal!«, stellte eine zornige Stimme neben mir fest.

»Warum weckst du mich dann und gehst nicht selbst ran?«, fragte ich und bekam ein Glanzstück weiblicher Logik zur Antwort.

»Weil das für dich ist. Meine Bekannten schlafen um diese Zeit«, erwiderte Christine. Dagegen gab es kein Argument. Gehorsam schob ich mich in die Senkrechte, stolperte auf meinem Weg zur Schlaf­zimmertür hinaus und dann durch den kurzen Flur zur Kommode mit dem lärmen­den Telefon darauf über eine Anzahl von undefinierbaren und scharfkantigen Gegenständen, die an­scheinend nur in der Nacht existieren. Nach einigem Umhertasten fand ich endlich die klingelnde Störung meiner Nachtruhe. Mein »Ja, was?«, das ich in den Hörer krächzte, klang alles andere als freundlich. Eine aufgeregte, eindeutig weibliche Stimme fragte:

»Georg, ist Jürgen bei dir?« Ich gab der Stimme wü­tend zu verstehen, dass ich keinen Jürgen kennen wür­de und es überhaupt eine Unverschämtheit wäre, mich zu die­ser Uhrzeit mit diesem Unsinn zu wecken. Doch wäh­rend ich noch schimpfte, erkannte ich plötzlich, mit wem ich da sprach.

»Bist du das, Theresa?«, unterbrach ich mich selbst. Nun, eine geistige Höchstleistung konnte man jetzt nicht von mir erwarten. Mein Gehirn beginnt zu sol­chen Uhrzei­ten nur sehr langsam und widerwillig, seinen Dienst wieder auf­zunehmen. Zudem waren inzwischen zwei Monate seit den für mich so katastrophal verlaufenen Weis­sensteiner-Lesungen ver­gangen, an denen ich Nix zuletzt begegnet war. Von Theresa hatte ich seit ihrem letzten Telefonan­ruf in der Woche vor der Veranstaltung nichts mehr gehört. Ich kann auch nicht be­haupten, dass ich es bedauerte. Die einzige Neuig­keit, die sich über Nix während des Herbstes ver­breitet hatte, war, er würde bald in einer no­blen Mün­chener Galerie eine Ausstellung seiner Werke eröff­nen. Ich hatte natürlich keine Einladung zur Vernis­sage erhalten und wäre auch mit Sicherheit nicht hinge­gangen. Und jetzt rief mich mitten in der Nacht seine Freundin an und fragte nach ihm.

»Ja, entschuldige bitte …«, kam ihre Stimme etwas klein­laut, aber nicht minder verzweifelt zurück, »ich wollte dich nur fragen, ob du vielleicht weißt, wo Jür­gen ist.« Ich schaltete das Licht an und setzte mich auf den Bo­den. Dieses Gespräch konnte länger dauern.

»Ich bin doch so ziemlich der letzte, bei dem er sein könnte. Noch dazu um diese Uhrzeit. Was ist denn passiert?«, fragte ich, die Augen zusammenkneifend und Zeigefinger und Daumen gegen die Nasenwurzel pressend. Ich würde Kopfschmerzen bekommen, ganz sicher.

»Er ist einfach verschwunden, ohne mir eine Nach­richt zu hinterlassen. Er ist nicht in seiner Wohnung oder bei Freunden. Ich habe bei allen seinen Be­kannten angeru­fen und auch in den Lokalen, in die er immer geht. Jetzt wusste ich niemanden mehr außer dir. Verstehst du, sei­ne Mutter will ich nicht stören und ich glaube wirklich nicht, dass er zu ihr gehen würde. Vielleicht mache ich mir auch grund­los Sorgen und sie soll sich nicht unnö­tig aufregen. Sie wirkt immer so zerbrechlich …« Sie machte eine Pause, hatte sich selbst aus dem Konzept geredet. »Aber jetzt ist er seit gestern Abend fort, nein, seit vorgestern, es ist ja schon Samstag …, entschuldige bitte, wenn ich dich störe.« In ihrer Stimme war viel Sor­ge und Angst. Es war sicher pietätlos, aber ich musste dennoch gähnen, versuchte vergeblich, es zu unterdrü­cken. Sie hörte mich trotzdem, denn spür­bar kälter und nüchterner fuhr sie fort: »Er hatte vorgestern Abend zwei Verabredungen. Er ist von mir aus zu ihnen gegan­gen und wollte um Mitter­nacht wieder zurück sein. Ich habe die ganze Nacht auf ihn gewartet, aber er ist nicht gekommen. Seit heute früh suche ich ihn. Und morgen, nein, heute Abend schon ist doch seine Vernissage in München.«

»Hat er das schon öfter gemacht? Ich meine, du hast mir erzählt, e sei manchmal ein wenig … schwierig und selt­sam.«

»Nein, sonst würde ich mich nicht so aufregen! Auch wenn er in einer seiner … Phasen ist, weiß ich doch im­mer, wo er sich befindet. Aus Eigenschutz geht er dann immer in seine Wohnung. Etwas ist passiert, ich bin mir ganz sicher. Ich habe schreckli­che Angst.« Ich hörte ein Schluchzen und bekam Mitleid mit ihr.

»Du musst nicht gleich das Schlimmste annehmen. Be­ruhige dich doch einmal ein bisschen. Du kannst ja gar nicht mehr klar denken. Vielleicht wissen die­se Verabre­dungen, wo er …«

»Das ist möglich«, unterbrach sie mich aufgeregt, ohne auf meine beruhigenden Worte einzugehen, »aber ich habe weder die Adresse noch die Telefon­nummern von diesen Leuten. Auch deswegen rufe ich bei dir an. Du kennst sie sicher.«

»Wie heißen sie denn?«

»Das ist es ja: Jürgen hat ihre Namen erwähnt, aber …« Sie stockte. Ihre Verzweiflung wuchs erneut und sie klang wieder hysterisch. »… ich kann mich nicht genau erinnern. Zuerst wollte er sich mit einer Frau treffen. Er sagte, sie sei sehr nett und er wolle eine Gefälligkeit von ihr. Sie hat etwas mit dem BBK zu tun und Jürgen hat mir gesagt, sie sei sehr dick.« Ich nickte. Als mir bewusst wurde, dass Theresa das nicht sehen konnte, sagte ich:

»Das kann nur die gute Margot Bittner-Bach sein, kurz MBB genannt. Sie ist seit einigen Jahren eine der Vorsitzenden des BBKs, des Berufsverbands der Bildenden Künstler in Schwaben Nord und Augsburg. Sie ist in der Tat eine sympathi­sche Frau, ich kenne sie recht gut. Und ich habe selbstverständlich ihre Adresse und Telefonnummer.« Mich wunderte, dass Theresa sie nicht kannte. Hielt Jonas seine Freundin denn unter Verschluss?

»Siehst du, wie nötig es war, dich anzurufen?«, rief The­resa erfreut aus. »Und die zweite Verabredung, die Jür­gen anschließend hatte, war mit einem von diesem neu­en Metropolis-Blatt. Es ging immer noch um seinen Auf­satz, für den sie sich jetzt plötzlich wieder interessie­ren. Er traf sich mit jemandem, der einen italienisch klingen­den Namen hat. Emilio Pisa oder Pasa.«

»Emilio Parma, ausgerechnet!«, rief ich aus und spürte einen plötzlichen, psychosomatischen Schmerz in mei­nem rechten Bein. Genau an der Stelle, an der ich es mir gebrochen hatte. Ich zähle Parma nicht zu meinen Freunden, gewiss nicht. Er gehört zu der Gruppe von Leuten, die ich schon weiter oben erwähnt habe, denjenigen, die alle Fäden und Möglichkeiten in den Händen halten und sich ebenso verzweifelt wie leider auch erfolgreich da­gegen wehren, auch nur einen kleinen Brosamen ihrer Macht als Almosen abzugeben. Der schlimmste Machia­velli von allen ist eben dieser Emilio Parma. Man soll nicht glauben, dass ein Tropfen römischen Blutes in ihm schwimmt, das ist nur sein klangvol­ler Künstlername. Er heißt in Wahrheit Oliver Burgmeister, doch das ist den meisten Leuten unbe­kannt. Da er recht gut italie­nisch spricht und sich regelmäßig im Sonnenstudio bräunt, wird er auch meist für einen Südländer gehal­ten. Er hat nach seinem nicht ganz vollendeten Be­triebswirtschaftsstudium sofort begonnen, Germa­nistik und Lite­raturwissenschaft zu studieren, dann Psychologie, Ro­manistik, Philosophie und Theater­wissenschaften. Alle Studiengänge hielt dieser Wes­tentaschen-Faust drei oder vier Semester durch. Als die Sache mit Jürgen geschah, war Parma Ende Dreißig und belegte gerade Pädagogik. Ich kenne nie­manden, der ein so vollständiges Halb­wissen wie der Pseudoitaliener besitzt und er ver­steht es auch wie kei­n anderer, es zu Geld zu machen. Er hält Vorträge, leitet eine freie Theatergruppe, de­ren Stücke er zum Teil selbst schreibt, macht recht erfolgreich lokales Kaba­rett und gibt vor allem Kurse an der Volkshochschu­le. Wenn man die bunte Vielzahl der Seminare be­trachtet, die er leitet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ohne ihn die VHS hätte schlie­ßen müssen. Er gab sogar Schülern Nachhilfe für die Mittlere Reife und Töpferkurse für Rentner!

[Zum 30. Teil …]

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