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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 28)

[Zum ersten Teil]

Klammer, der auffallenderweise immer der Mei­nung von Karl-Maria Pauli war, war trotzdem ein Gewinn für die Veran­staltung: Er war ein scharfsinniger und ebenso scharfzüngi­ger Kriti­ker, konnte seine Meinungen mit geschliffener Rhetorik und einer ungeheuren Belesenheit darlegen und hatte z. B. gegenüber ei­nem Reich-Ranicki die Vor­züge, dass er Sympathie verbreitete und Charme hatte, dazu wesent­lich bes­ser aussah. Ich war mir sicher, wür­de er das literaris­che Quartett leiten, hätte es die dop­pelte Einschalt­quote. Die Selbstsicherheit der weiteren Lesenden war übrigens enorm. Sie sprang ihnen ge­radezu aus dem Gesicht und wurde auch durch die zum Teil vernichten­den Kritiken der Schiedsrichter kaum beein­trächtigt. Die Siegesgewissheit in Person saß neben mir. Immer wieder leise spöttische Be­merkungen über seine Kon­kurrenz austeilend, sonn­te sich Wimperle in seinem na­hen Triumph. Er wür­de aus seinem, bereits vor gut drei Jahren in einem Schwei­zer Verlag veröffentlichen, Roman mit dem Titel Widrigenfalls … die Lust! lesen. Ich hatte dieses Werk in der letzten Woche noch gekauft und sofort zu lesen begonnen, um mir ein Bild von diesem Au­tor zu machen, es jedoch bald erschöpft zur Seite ge­legt, denn Lust verbreitete es nicht gerade. Ich freute mich schon jetzt auf Klammers intelligenten Ver­riss.

Dann war ich dran. Doch überraschend schnell. Ich trat zögernd auf die Bühne ins Lampenlicht und fühlte mich vollkommen unvorbereitet. Ich wurde von Klammer, der ja mein Pate war, mit ein paar Worten vorge­stellt, von denen ich überhaupt nichts mitbekam; so heftig hatte mich das Lampenfieber erwischt. Als ich mich verwirrt zu dem kurzen Applaus wandte, hörte ich links über mir auf der Galerie im ersten Stock ein scharrendes Geräusch, das ich nicht einordnen konnte, war aber viel zu abge­lenkt, um mich dafür zu interessieren, was dort oben vor sich ging. Ich trat an den Lesetisch und setzte mich, suchte vergeb­lich nach einer bequemen Haltung auf dem Hocker. Meine Kehle war staubtrocken und ich leerte zuerst das Glas, an dem mein Vorgänger an diesem Platz nur genippt hatte. Verzweifelt und so durstig wie noch nie in meinem Leben sah ich um, aber niemand dachte daran, mir ein neues Wasser zu bringen. Also hustete ich und räusperte mich ins Mikrophon und er­schrak über die Lautstärke, die hier auf der Bühne größer war als unten im Saal. Dann öffnete ich meine Mappe und starrte auf meinen Text, den meine Freundin an ihrem Arbeitsplatz für mich in großer, gut ablesbarer Schriftart ab­getippt hatte. Irgendwo dort unten, dort, wo das Pu­blikum im Dunkel zu einer einzigen amorphen Mas­se verschwamm, saß sie und drückte mir jetzt bestimmt die Daumen. Ich hatte gehofft, mich könnte dieser Gedanke beruhigen, aber das Gegenteil war der Fall. Ich sah die Buchstaben auf dem Papier tanzen und dachte kurz an eine Flucht. Ich verstand nicht ein­mal den Sinn des ersten Satzes, obwohl ich ihn doch geschrieben und mir schon tausendmal vorgesagt hatte.

„Die Wand: Weiß gekachelt. Sie schwankte auf mich zu. Blähte sich mir entgegen. Ich griff mit der Hand nach ihr. Wollte sie ruhig zu stellen. Meine Finger glitten über die Oberfläche. Ölig, schweißig. Aber ich konnte ihre Bewegung nicht stoppen“, stolperte ich über meine kurzen Sätze, versuchte vergebens, sie mit den Emotionen zu füllen, die ich beim Schreiben empfunden hatte. Aber ich war auch stolz. Dieser Anfang, der war doch gut, oder?

Drüben bei den Juroren scharrte je­mand vernehm­lich mit dem Stuhl und riss mich aus meiner Konzentration. Ich wandte mich auf meinem Hocker verärgert über die­se Störung zur Seite. Klammer war mit seinem Sessel lautstark zu­rückgerutscht und starrte erschrocken in die Höhe. Was war das, wollte er mich irgendwie verulken? Im plötzlich unru­hig werdenden Publikum rief jemand eine War­nung. Ir­ritiert wollte ich ebenfalls nach oben sehen, aber dazu war es schon zu spät. Plötzlich fühlte ich mich, als wür­de ein heftiger Regenguss über mir niedergehen. Eine übelriechende Flüssigkeit schwappte in einem einzi­gen schweren Schwall auf mich herab. Ich zuckte zu Tode erschrocken nach hinten, stürzte dabei vom Hocker, rutschte aus und fiel hin. Da lag ich nun wie ein Gregor Samsa auf dem Rücken, nach Luft schnappend und zu keiner Reaktion fähig. Um mich herum war mit einem Mal die Hölle los. Für einen Moment war ich bewegungslos, wie im Auge eines Sturms gefangen. Leute schrien, es wurde geschimpft und geflucht. Ich wischte mir den zähen Schleim von den Augen und sah endlich nach oben zur Galerie, sah dort über der Brüstung die Öffnung eines blauen Plastikfasses schweben, das seinen stinkenden Inhalt eben über mir entleert hatte. Unfassbar: Ich lag in einer Mistlache.

»Jauche!«, stellte ich nüchtern fest und begann durch den Mund zu atmen. »Schweinekacke.« Ich war nicht über­rascht oder zornig, für den Moment war ich über solche Empfindungen hinaus. Ich richtete mich nur mühsam auf und drehte mich halb, um zu sehen, wer dort oben mir das angetan hatte. Mein Verdacht bestätigte sich. Das Güllefass wurde zu­rückgezogen und Jonas Nix blickte kurz über die Brüstung, fast bedauernd blickte er zu mir hinab. Er sagte etwas, aber ich konnte ihn in dem Lärm um mich herum nicht verstehen.

»Jürgen!«, hörte ich beide Paulis gleichzeitig und em­pört rufen. Nix schien nicht allein auf dem Balkon zu stehen, denn es wurden in diesem Augenblick zu seiner Sei­te zwei große Plakatleinwände entrollt, die bis zur Bühne herab reichten. Ich konnte nicht lesen, was auf ihnen stand, aber ich sah später ein Foto von ihnen in der Zeitung. Auf dem einen stand das Brechtsche Glotzt nicht so ro­mantisch!, auf dem an­deren: Und das gefällt euch, ihr Wichser!

 Ich versuchte aufzustehen, rutschte aber erneut in der grünli­chen, atemberaubend scharf stinkenden Scheiße aus und ging in die Knie. Es klatschte eine zweite La­dung Gülle herab, diesmal von der anderen Seite der Galerie. Sie erwischte Emanuel von Dänen, der nicht wie die anderen Jurymitglie­der panisch geflohen, sondern mit beruhigenden Gesten nä­her an die Plakate getreten war, um mit den Stören­frieden zu reden. Jetzt lachten ein paar Leute im Publikum. Der würdevolle Dänen sah aus wie der berühmte begossene Pudel, er spuckte Odel und Schimpfwörter aus, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Diesmal hatte Jonas end­lich Konsequenz bewiesen; das musste ich anerken­nen, auch wenn ich ihr zum Opfer gefallen war. Diesmal war das Ekelhafte keine Attrappe, kein Bühnentrick, sondern echt. Ich stand endlich auf und sah an mir herab. Dann wur­de ich zornig. Die Wut überfiel mich wie eine Welle und schwemmte jede Vernunft aus mir. Von diesem Punkt an geht in meiner Erinnerung alles durchein­ander.

Ich kann in meiner Erzählung erst wieder an dem Punkt ansetzen, als ich am späten Abend zu Hause in der Ba­dewanne in einer ganzen Flasche Fichtennadel-Badezu­satz und Par­füm schwamm und nur langsam zu mir kam. Die Stadt hatte ihren handfesten Skandal, über den aller­dings mehr gelacht als geschimpft wurde. Die so rüde unter­brochenen Lesungen wur­den nicht mehr fortge­setzt. Die Jury krönte zwei Wochen später den Sieger Wim­perle unter Aus­schluss der Öffentlichkeit, denn es inter­essierte sich niemand mehr dafür. Ich bekam natür­lich keinen der Förder- oder Trostpreise; erhielt nicht einmal eine Begründung, warum meine Geschichte kei­ne Gna­de vor den Kritikern gefunden hatte. Allein Dr. Klam­mer lud mich einmal zum Essen ein und sprach mit mir über mein Werk, das ihm trotz aller Mängel ge­fallen habe und von dem er meinte, es sei besser als je­des Bild, das ich bisher gemalt habe. Er bedauerte den Zwischen­fall, der mich nicht entmuti­gen solle und bot mir an, auch weiterhin meine Tex­te zu lesen und zu be­gutachten. Jonas Nix allerdings, der mit einer geringen Ord­nungsstrafe davonkam, war durch seinen ausgeklü­gelten Ter­rorakt erneut in aller Munde und sein Kopf zierte den Feuilleton fast jeder Tages- und Wo­chenzeitung in Deutschland. Er wurde nun häufig interviewt, war Gast in diversen Talkshows und konnte überall seine ver­quaste Kunsttheorie zum Besten geben. Was er auch gerne und häufig tat. Denn ihm gelang im­mer alles. Dennoch schien er nicht glücklich zu sein. Ich sah ihn an einem Freitag im Fernsehen, in dem Kul­turmagazin Aspekte beim ZDF, wo er sich alles andere als zufrie­den über den Rummel zeigte, der doch nur seine Botschaf­ten überdecke und kaputtmache. Dabei wurde zum x-ten Mal der Schnappschuss eines glücklichen Fotografen gezeigt, der mich mit Jauche übergossen abbildete. Ich wech­selte schnell den Sender auf einen Sportkanal.

Nach einer Weile bekam ich einen Brief von Jonas.

»Georg«, stand dort mit geschwollenen Worten und mit endlos vielen „dass“-Konstruktionen in seiner sehr künstlichen, ge­wollt schwungvollen Handschrift zu lesen, »ich kann mir gut vorstellen, dass du nicht sonderlich daran interessiert bist, mit mir noch einmal in Kontakt zu treten und ich kann es dir nach meiner Aktion und deiner von mir so nicht gewollten Publicity als viel belachtes Op­fer nicht verübeln. Aus diesem Grund schreibe ich dir ein paar Worte, die ich dir unbedingt mitteilen möchte. Ich habe nicht vor, mich bei dir zu entschul­digen, denn ich bin nach wie vor der Meinung, dass meine Tat gelungen und sinnvoll und wichtig war. Ich denke, ich habe in einigen Köpfen et­was bewirkt, das man einigermaßen euphemistisch mit ‚Nachden­ken‘ bezeichnen kann. Zudem bekam ich end­lich die gewünschte Öffentlichkeit, die ich benötige, um auf meinem Weg weiterzumachen. Du bist übrigens nur zu­fällig das Opfer meiner Beschmutzungskampagne ge­worden. Ich halte es für wichtig, das an dieser Stelle zu erwähnen. Entgegen meiner ausdrückli­chen Anord­nung, erst bei der Lesung von Markus Wimperle mit der Aktion zu beginnen, also über ihm den wohlver­dienten Dreck auszuleeren, der auch aus seinem Mund kommt, hat einer meiner voreiligen Helfer – unfähig, bis sieben zu zählen – sich entschlos­sen, bereits dich mit der Gül­le zu taufen.

Dass es nun ausgerechnet dich erwischte, ist zwar bedauerlich, war aber, da es nicht in meiner Ent­scheidung lag, unvermeidbar. Ich will auch offen zu­geben: Dieses Versehen raubt mir nicht unbedingt den Schlaf, denn du gehörst längst ebenfalls zu diesen Leuten, die ich bekämpfe. Ich erachte dich im Nachhinein durchaus für geeignet, die dem Langweiler Wimperle zugedachte Rolle des ‚beschissenen Künst­lers‘ zu besetzen. Ich habe dir auf diese Weise sogar ei­nen Gefallen getan und dich davor bewahrt, dich vor dem Publikum und der Jury mit deiner indiskutablen Geschichte der Lächerlich­keit preiszugeben. Wenn du nüchtern dar­über nachdenkst, wirst du mir zustimmen. Ich hoffe für dich, dass es dir gelingen wird, zu dieser An­schauungsweise zu gelangen.

Meine Beweggründe für meine Aktion habe ich dir be­reits bei unserem letzten Treffen dargelegt und ich brau­che mich hier nicht mehr zu wiederholen. Ich muss aber mit Entschiedenheit insistieren, dass du selbst mich zu dieser drastischen Vorgehensweise gezwungen hast, als du mir meine Bitte um deine Lesezeit verweigert hast. Ich kann heute noch nicht verstehen, warum du mir das angetan hast. Ich war dadurch in die Ecke gedrängt, war jedoch gewillt, diese einzigartige Gelegenheit nicht unbenutzt ver­streichen zu lassen. Wer weiß, wann sich noch ein­mal eine solche Gruppe versammeln wird, ein eben­so vollkommener Querschnitt der Prominenz die­ser verlogenen, verschissenen Stadt?

Ich trage keinerlei Hoffnung, dass du Verständnis für mich und meine Aktion zeigst, war es dir aber schuldig, mich zu erklären — Jonas Nix.

P.S.: Lass Theresa in Ruhe.«

Ich knüllte diesen Brief zu einer handlichen Pa­pierkugel zusammen und schleuderte ihn unter mei­nen Schreib­tisch, wo er vergessen schlummerte, bis ich ihn bei der Arbeit zu diesem Text zufällig wieder­fand.

Auf jeden Fall wollte ich wollte nie wieder etwas mit diesem Ungeheuer Jo­nas Nix zu tun haben. Doch wie jeder weiß, kam es anders.

[Zum 29. Teil …]

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