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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 25)

[Zum ersten Teil]

»Nein, schau jetzt!«, zischte er. »Sieh hin.« Seine Stim­me klang unangenehm und gierig. Obwohl ich mich vor mir selbst ekelte, warf ich noch einmal ei­nen Blick hin­über zu dem nahezu blinden Mann, der nun in seine Umhängetasche gefasst hatte und zu meinem Erstaunen eine ganze Handvoll kleiner Münzen zu Tage förderte, die er ebenso genau einer Prüfung unterwarf wie vorher den Rechnungsbeleg. Ich schüttelte den Kopf.

»Armer Kerl«, sagte ich. Jonas schüttelte den Kopf.

»Findest du? Du hast Mitleid mit ihm? Hat dir seine Show gefallen? Dann lass dir sa­gen: Er war eine Zeitlang im Gefängnis, weil er ein Kind sexuell misshandelt hat. Jetzt bettelt er und han­delt mit den Drogen, die er selbst konsu­miert. Er trägt sie in sei­ner Tasche mit sich spazie­ren.« Wieder sah ich hinüber und ich konnte nicht anders: Ich betrachtete den Mann mit anderen Augen. So schnell war mein Mitleid in Ekel umgeschlagen. Der Halbblinde gab nur zö­gernd seine Geldstücke preis, hatte anscheinend Angst, er könne zuviel herausgeben.
»Ist das wahr?«, flüsterte ich skeptisch. »Oder hast du dir das gerade ausgedacht?« Jonas lächelte über­heblich.

»Spielt das eine Rolle? Du musst lernen, die Menschen intensiver zu be­trachten. Das, was du siehst, ist nur eine Hülle, eine Maske. Aber sie ist nie perfekt, immer ist etwas zu finden. Siehst du, wie er absichtlich zögert, wenn er sein Geld in die Hand der Bedienung legt? Er ge­nießt dabei die Be­rührung seiner ekelhaften Finger mit der weichen Haut ihres Handballens. Auf sei­nem bauernschlauen Gesicht stehen deutlich seine Gier und der Stolz, dass sie seinen Trick nicht durchschaut, geschrieben.«

»Erzählst du mir wirklich die Wahrheit?«, fragte ich er­neut. »Woher weißt du das alles?«

Jonas antwortete nicht, er lehnte sich nur wieder zufrie­den in seinem Stuhl zurück. Mir kamen Zweifel an seiner Auf­richtigkeit, denn er schien Freude daran zu haben, Ge­schichten zu erfinden. Ich fand es an der Zeit, das The­ma zu wechseln. »Du hast am Telefon gesagt, du würdest mich um et­was bit­ten wollen«, sagte ich, mich rechtzeitig daran erinnernd, dass wir uns nicht nur zu einem gemütlichen Glas Wein und einem Gespräch über Kunst getroffen hatten.

Ich zwang mich, ihn zu fixieren, konnte aber nicht ver­hindern, dass ich aus den Au­genwinkeln sah, wie der Halbblinde vorsichtig auf­stand und sich rem­pelnd und entschuldigend einen Weg hinaus suchte.  In der Nähe der Theke stolperte er und fiel unbeholfen um sich grei­fend gegen die Schülerinnen, die Jonas vorhin von unserem Tisch vertrieben hatte. War es wirklich nur ein Zu­fall? Mein Argwohn und meine Vorurteile waren ge­weckt. Ich hasste Nix und auch mich selbst dafür. Der Maler nahm einen völlig unbeteiligt einen Schluck von seinem Wein und sah nachdenklich an die Decke. Jetzt schien sein Hauptanliegen zu kommen; er zögerte sicht­lich.

»Ich will dich bitten, statt dir mich lesen zu lassen«, sag­te er dann ruhig und hob sofort beschwichtigend die Hände, um eventuelle Einwände im Keim zu er­sticken. Ich sah jedoch keinen Grund, ihn zu unter­brechen. Er hatte mich im Übrigen auch durch die plötzliche Wende in dem Gespräch sprachlos ge­macht. »Ich bin unver­schämt, ich weiß, aber ich hof­fe auf dein Verständnis, besser gesagt, eigentlich bin ich mir dessen sogar sicher. Denn wir kennen uns: Du weißt, dass ich mich seit Län­gerem mit einer Kunstaktion beschäftige, die die Öffentl­ichkeit auf­rütteln soll. Sie soll wirklich berühren und etwas bewegen. Das kann eben nicht in abgehobenen Intellektuellen- und Studentenkrei­sen stattfinden, wie die Aktionen zum Beispiel eines Nitsch, den ich allerdings durchaus als einen See­lenverwandten verstehe, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen. Glaube mir, ich habe mich in der letzten Zeit weiterentwickelt. Du hast mir immer wieder mangelnde Konsequenz vorgeworfen, bist also nicht ganz schuld­los. Jetzt hast du die Möglich­keit, mir diese Konsequenz zu ermöglichen.«

»Was hast du vor?«, fragte ich endlich dazwischen, mir die trockenen Lippen befeuchtend. »Willst du dir die Stirn aufschneiden?« Nix schien den beleidigten Ton in meiner Stimme und meine nur schlecht un­terdrückte Wut nicht zu bemerken, denn er lachte nur.

»Aber nein,« erwiderte er amüsiert, »denkst du denn, ich plagiiere, reihe mich in die lange Reihe dieser Papa­geien ein, die wieder und wieder wiederholen, was Erfolg hatte? Ich habe zur Genüge eigene Ideen, sie drängen beständig in mir hoch, es gibt Tage und vor al­lem Nächte, an denen ich glau­be, ich würde gleich an ihnen ersticken. Weißt du vielleicht, wie das ist, wenn man um den Wert seiner Kunst weiß, sicher ist, Bedeu­tendes, Bleibendes schaffen zu können, in den Men­schen wirklich etwas bewegen kann? Und dann hängt man in dieser engen Provinz fest, in einer Provinz der selbstzufriedenen und satten Spießbürger, die alles Echte, Neue mit ihrer Gleichgültig­keit und ihrer Arroganz überdecken! Ich brauche die Chance, wirklich viele zu erreichen.« Er hat­te sich langsam in Begeisterung geredet.

»Und deshalb willst du mir meine Lesung wegneh­men?«, versuchte ich ihn zu bremsen, doch er überhörte meinen kleinen Einwurf großzügig.

»Egal. Ich werde die Menschen am Kragen packen und ihnen mit der Wahrheit solange ins Gesicht schlagen, bis sie sie fressen oder an ihr krepieren«, fuhr er lauter werdend fort. Die Leute an den ande­ren Tischen began­nen, sich nach uns umzusehen.

»Ich frage dich noch einmal: Was hast du denn über­haupt vor?« Ich erhob ebenfalls meine Stimme. Diesmal schaffte ich es, ihn ihn seinem Gedanken­gang zu unter­brechen. Er verstand mich allerdings falsch. Vielleicht wollte er mir aber auch nichts Kon­kretes von seinem Projekt verraten.

»Weißt du, warum so viele Menschen im Elend ver­hungern? In jedem Augenblick einer. Und nieman­den küm­mert es? Warum es den Hilfsorganisationen auch mit den aufdringlichsten Appellen nicht ge­lingt, mehr Geld aus den fetten Brieftaschen der Leute zu locken, als es über die allernötigste Gewis­sensberuhigung hin­ausgeht? Ich will es dir sagen: Weil Armut und Elend im­mer schmutzig sind. Offe­ne Schwären und Fliegen in den Augen verhungern­der und an entsetzlichen Krank­heiten krepierender Kinder ekeln jeden an. Das ist der Tod, das sind Ver­wesung, Gestank und Exkremente, Le­pra und die Pest, Eiter und Blut, damit will niemand et­was zu tun haben. Das will jeder vergessen, von sich schie­ben. Gut, dass Afrika und Asien so weit weg sind. Bald werden wir Mauern bauen, damit die Menschen von dort nicht zu uns kommen. Und die Alten und Kranken hier? Wir schließen sie in Heime und Verwahranstalten, sie stören das Stra­ßenbild. Der Ausnahmezustand Gesundheit ist nach Gottes Tod der einzige Götze, dem wir folgen. Deshalb ist uns der Bettler auf der Stra­ße so peinlich. Seine Armut kotzt uns an. Wir wollen ihr nicht begegnen. Und das ist mei­ne Aufgabe als Künst­ler: Ich muss die Menschen mit dem Verdrängten kon­frontieren. Ich muss ihnen zei­gen, wie dünn die Hülle ist, die jeden von uns von Armut, Krankheit und Tod trennt. Wie leicht platzt dieser schöne Schein. Deshalb brauche ich jede Öf­fentlichkeit und deshalb will ich dei­ne. Du wirst es verstehen.« Obwohl ich mich noch immer mit der Frage be­schäftigte, warum er mich in seinem Artikel und bei seiner Geschichte über den Halbblinden angelogen hatte und ich mir deshalb auch nicht sicher sein konnte, ob er mir jetzt einen Blick in seine wahren Intensio­nen gewährte, wirk­te er doch sehr überzeugend in seiner Erregung und ich konnte seinen Gedanken­gang auch nachvollziehen.

»Wer mit Ungeheuern kämpft, der sehe zu, dass er nicht sel­ber zum Ungeheuer wird. Und wenn du lan­ge genug in einen Abgrund blickst, blickt der Ab­grund auch in dich«, warf ich ohne weiteres Nach­denken ein. Nix sah mir forschend in die Augen.

»Wer hat das gesagt?«, fragte er betroffen.

»Nietzsche. Ich habe gerade was von ihm gelesen.« Für eine ganze Weile betrachteten wir uns nur. Of­fenbar hatte ich ihn wirklich überrascht.

»Was willst du mir damit sagen? Bin ich denn für dich ein Ungeheuer?«, hakte er nach. Er zog sich da­bei seine Maske mit dem freudlosen Lächeln über. Ich zuckte mit den Schultern und bereute bereits mein spontanes Zitat. Aber es gelang mir nicht, mei­ne Meinung mit anderen Worten deutlich zu ma­chen. Wie konnte ich mich ihm überhaupt verständ­lich machen? Da saß er mir gegen­über, wartete über­legen auf meine ihm selbstverständli­che Zustim­mung, da ja alles, was ich tat, gegen die Weltbedeu­tung seiner Berufung von keinerlei Inter­esse war. Ich gehörte nur zur Masse – untalentiert und überflüssig, wie ich seiner Meinung nach war. Ich durfte einem so wichtigen Mann wie ihm nicht im Wege stehen. Da hatte ich erneut das Gefühl, als tauche in sei­nen Zügen der kranke, größen­wahnsinnige Mes­sias auf, der für seine Hirngespins­te über Leichen geht; der Hitler.

Dieser Gedanke machte mich so wütend, dass ich mir überlegte, ob ich ihm mein Bier in das selbstzu­friedene Gesicht schütten sollte. Da ich mich jedoch nicht auf Fa­velkas Niveau erniedrigen wollte, griff ich nur ruhig nach meinem Geldbeutel, warf meine Zeche auf den Tisch und stand auf. »Für wie wichtig hältst du dich eigentlich? Du hast doch schon längst alle Öffentlichkeit, die du willst. Du hast Erfolg, bist auf dem Wege, eine Berühmt­heit zu werden. Die Ruhmeshalle steht dir offen. Mein Gott, Jo­nas! Syd­ney interessiert sich für dich, wenn das kein Pu­blikum ist! Und was ist mit mir? Warum willst du aus­gerechnet mir diese kleine An­erkennung nehmen, die ich mir ver­dient habe?« fragte ich ihn verwzeifelt, auch wenn ich wusste, er würde mich nie verstehen. Er war in der Tat über­rascht. Meine Ablehnung muss­te ein Welt­bild in ihm zerstören.

»Heißt das etwa, du sagst Nein? Habe ich dich richtig verstanden?«, fragte er, denn noch wollte er lieber darauf beharren, dass er sich ver­hört hatte. Er hätte nicht fassungsloser sein können, wenn ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Ich wandte mich mit bemühter Ruhe zum Gehen:

»Ich kann es noch deutlicher sagen. Das heißt: Leck mich am Arsch!« Jetzt genoss ich meinen Abgang. Den­noch hatte Nix das letzte Wort.

»Das wird dir noch leid tun«, rief er drohend hinter mir her. Ich zuckte erneut mit den Schultern und war froh, dass unsere Auseinandersetzung zum Schluss nicht auch noch handgreif­lich ge­worden war. Draußen vor der Tür stand der halbblinde Mann und hielt jedem Vorbeigehenden einen Zettel hin, auf dem, mit einer zittrigen, unleserlichen Handschrift geschrieben, zu lesen war, ob man ihm nicht zwei Mark leihen könne. Und weil er nichts sah, verdeckte er mit dem Daumen beinahe den ganzen Satz.

[Zum 26. Teil …]

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