»Nein, schau jetzt!«, zischte er. »Sieh hin.« Seine Stimme klang unangenehm und gierig. Obwohl ich mich vor mir selbst ekelte, warf ich noch einmal einen Blick hinüber zu dem nahezu blinden Mann, der nun in seine Umhängetasche gefasst hatte und zu meinem Erstaunen eine ganze Handvoll kleiner Münzen zu Tage förderte, die er ebenso genau einer Prüfung unterwarf wie vorher den Rechnungsbeleg. Ich schüttelte den Kopf.
»Armer Kerl«, sagte ich. Jonas schüttelte den Kopf.
»Findest du? Du hast Mitleid mit ihm? Hat dir seine Show gefallen? Dann lass dir sagen: Er war eine Zeitlang im Gefängnis, weil er ein Kind sexuell misshandelt hat. Jetzt bettelt er und handelt mit den Drogen, die er selbst konsumiert. Er trägt sie in seiner Tasche mit sich spazieren.« Wieder sah ich hinüber und ich konnte nicht anders: Ich betrachtete den Mann mit anderen Augen. So schnell war mein Mitleid in Ekel umgeschlagen. Der Halbblinde gab nur zögernd seine Geldstücke preis, hatte anscheinend Angst, er könne zuviel herausgeben.
»Ist das wahr?«, flüsterte ich skeptisch. »Oder hast du dir das gerade ausgedacht?« Jonas lächelte überheblich.
»Spielt das eine Rolle? Du musst lernen, die Menschen intensiver zu betrachten. Das, was du siehst, ist nur eine Hülle, eine Maske. Aber sie ist nie perfekt, immer ist etwas zu finden. Siehst du, wie er absichtlich zögert, wenn er sein Geld in die Hand der Bedienung legt? Er genießt dabei die Berührung seiner ekelhaften Finger mit der weichen Haut ihres Handballens. Auf seinem bauernschlauen Gesicht stehen deutlich seine Gier und der Stolz, dass sie seinen Trick nicht durchschaut, geschrieben.«
»Erzählst du mir wirklich die Wahrheit?«, fragte ich erneut. »Woher weißt du das alles?«
Jonas antwortete nicht, er lehnte sich nur wieder zufrieden in seinem Stuhl zurück. Mir kamen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, denn er schien Freude daran zu haben, Geschichten zu erfinden. Ich fand es an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Du hast am Telefon gesagt, du würdest mich um etwas bitten wollen«, sagte ich, mich rechtzeitig daran erinnernd, dass wir uns nicht nur zu einem gemütlichen Glas Wein und einem Gespräch über Kunst getroffen hatten.
Ich zwang mich, ihn zu fixieren, konnte aber nicht verhindern, dass ich aus den Augenwinkeln sah, wie der Halbblinde vorsichtig aufstand und sich rempelnd und entschuldigend einen Weg hinaus suchte. In der Nähe der Theke stolperte er und fiel unbeholfen um sich greifend gegen die Schülerinnen, die Jonas vorhin von unserem Tisch vertrieben hatte. War es wirklich nur ein Zufall? Mein Argwohn und meine Vorurteile waren geweckt. Ich hasste Nix und auch mich selbst dafür. Der Maler nahm einen völlig unbeteiligt einen Schluck von seinem Wein und sah nachdenklich an die Decke. Jetzt schien sein Hauptanliegen zu kommen; er zögerte sichtlich.
»Ich will dich bitten, statt dir mich lesen zu lassen«, sagte er dann ruhig und hob sofort beschwichtigend die Hände, um eventuelle Einwände im Keim zu ersticken. Ich sah jedoch keinen Grund, ihn zu unterbrechen. Er hatte mich im Übrigen auch durch die plötzliche Wende in dem Gespräch sprachlos gemacht. »Ich bin unverschämt, ich weiß, aber ich hoffe auf dein Verständnis, besser gesagt, eigentlich bin ich mir dessen sogar sicher. Denn wir kennen uns: Du weißt, dass ich mich seit Längerem mit einer Kunstaktion beschäftige, die die Öffentlichkeit aufrütteln soll. Sie soll wirklich berühren und etwas bewegen. Das kann eben nicht in abgehobenen Intellektuellen- und Studentenkreisen stattfinden, wie die Aktionen zum Beispiel eines Nitsch, den ich allerdings durchaus als einen Seelenverwandten verstehe, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen. Glaube mir, ich habe mich in der letzten Zeit weiterentwickelt. Du hast mir immer wieder mangelnde Konsequenz vorgeworfen, bist also nicht ganz schuldlos. Jetzt hast du die Möglichkeit, mir diese Konsequenz zu ermöglichen.«
»Was hast du vor?«, fragte ich endlich dazwischen, mir die trockenen Lippen befeuchtend. »Willst du dir die Stirn aufschneiden?« Nix schien den beleidigten Ton in meiner Stimme und meine nur schlecht unterdrückte Wut nicht zu bemerken, denn er lachte nur.
»Aber nein,« erwiderte er amüsiert, »denkst du denn, ich plagiiere, reihe mich in die lange Reihe dieser Papageien ein, die wieder und wieder wiederholen, was Erfolg hatte? Ich habe zur Genüge eigene Ideen, sie drängen beständig in mir hoch, es gibt Tage und vor allem Nächte, an denen ich glaube, ich würde gleich an ihnen ersticken. Weißt du vielleicht, wie das ist, wenn man um den Wert seiner Kunst weiß, sicher ist, Bedeutendes, Bleibendes schaffen zu können, in den Menschen wirklich etwas bewegen kann? Und dann hängt man in dieser engen Provinz fest, in einer Provinz der selbstzufriedenen und satten Spießbürger, die alles Echte, Neue mit ihrer Gleichgültigkeit und ihrer Arroganz überdecken! Ich brauche die Chance, wirklich viele zu erreichen.« Er hatte sich langsam in Begeisterung geredet.
»Und deshalb willst du mir meine Lesung wegnehmen?«, versuchte ich ihn zu bremsen, doch er überhörte meinen kleinen Einwurf großzügig.
»Egal. Ich werde die Menschen am Kragen packen und ihnen mit der Wahrheit solange ins Gesicht schlagen, bis sie sie fressen oder an ihr krepieren«, fuhr er lauter werdend fort. Die Leute an den anderen Tischen begannen, sich nach uns umzusehen.
»Ich frage dich noch einmal: Was hast du denn überhaupt vor?« Ich erhob ebenfalls meine Stimme. Diesmal schaffte ich es, ihn ihn seinem Gedankengang zu unterbrechen. Er verstand mich allerdings falsch. Vielleicht wollte er mir aber auch nichts Konkretes von seinem Projekt verraten.
»Weißt du, warum so viele Menschen im Elend verhungern? In jedem Augenblick einer. Und niemanden kümmert es? Warum es den Hilfsorganisationen auch mit den aufdringlichsten Appellen nicht gelingt, mehr Geld aus den fetten Brieftaschen der Leute zu locken, als es über die allernötigste Gewissensberuhigung hinausgeht? Ich will es dir sagen: Weil Armut und Elend immer schmutzig sind. Offene Schwären und Fliegen in den Augen verhungernder und an entsetzlichen Krankheiten krepierender Kinder ekeln jeden an. Das ist der Tod, das sind Verwesung, Gestank und Exkremente, Lepra und die Pest, Eiter und Blut, damit will niemand etwas zu tun haben. Das will jeder vergessen, von sich schieben. Gut, dass Afrika und Asien so weit weg sind. Bald werden wir Mauern bauen, damit die Menschen von dort nicht zu uns kommen. Und die Alten und Kranken hier? Wir schließen sie in Heime und Verwahranstalten, sie stören das Straßenbild. Der Ausnahmezustand Gesundheit ist nach Gottes Tod der einzige Götze, dem wir folgen. Deshalb ist uns der Bettler auf der Straße so peinlich. Seine Armut kotzt uns an. Wir wollen ihr nicht begegnen. Und das ist meine Aufgabe als Künstler: Ich muss die Menschen mit dem Verdrängten konfrontieren. Ich muss ihnen zeigen, wie dünn die Hülle ist, die jeden von uns von Armut, Krankheit und Tod trennt. Wie leicht platzt dieser schöne Schein. Deshalb brauche ich jede Öffentlichkeit und deshalb will ich deine. Du wirst es verstehen.« Obwohl ich mich noch immer mit der Frage beschäftigte, warum er mich in seinem Artikel und bei seiner Geschichte über den Halbblinden angelogen hatte und ich mir deshalb auch nicht sicher sein konnte, ob er mir jetzt einen Blick in seine wahren Intensionen gewährte, wirkte er doch sehr überzeugend in seiner Erregung und ich konnte seinen Gedankengang auch nachvollziehen.
»Wer mit Ungeheuern kämpft, der sehe zu, dass er nicht selber zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich«, warf ich ohne weiteres Nachdenken ein. Nix sah mir forschend in die Augen.
»Wer hat das gesagt?«, fragte er betroffen.
»Nietzsche. Ich habe gerade was von ihm gelesen.« Für eine ganze Weile betrachteten wir uns nur. Offenbar hatte ich ihn wirklich überrascht.
»Was willst du mir damit sagen? Bin ich denn für dich ein Ungeheuer?«, hakte er nach. Er zog sich dabei seine Maske mit dem freudlosen Lächeln über. Ich zuckte mit den Schultern und bereute bereits mein spontanes Zitat. Aber es gelang mir nicht, meine Meinung mit anderen Worten deutlich zu machen. Wie konnte ich mich ihm überhaupt verständlich machen? Da saß er mir gegenüber, wartete überlegen auf meine ihm selbstverständliche Zustimmung, da ja alles, was ich tat, gegen die Weltbedeutung seiner Berufung von keinerlei Interesse war. Ich gehörte nur zur Masse – untalentiert und überflüssig, wie ich seiner Meinung nach war. Ich durfte einem so wichtigen Mann wie ihm nicht im Wege stehen. Da hatte ich erneut das Gefühl, als tauche in seinen Zügen der kranke, größenwahnsinnige Messias auf, der für seine Hirngespinste über Leichen geht; der Hitler.
Dieser Gedanke machte mich so wütend, dass ich mir überlegte, ob ich ihm mein Bier in das selbstzufriedene Gesicht schütten sollte. Da ich mich jedoch nicht auf Favelkas Niveau erniedrigen wollte, griff ich nur ruhig nach meinem Geldbeutel, warf meine Zeche auf den Tisch und stand auf. »Für wie wichtig hältst du dich eigentlich? Du hast doch schon längst alle Öffentlichkeit, die du willst. Du hast Erfolg, bist auf dem Wege, eine Berühmtheit zu werden. Die Ruhmeshalle steht dir offen. Mein Gott, Jonas! Sydney interessiert sich für dich, wenn das kein Publikum ist! Und was ist mit mir? Warum willst du ausgerechnet mir diese kleine Anerkennung nehmen, die ich mir verdient habe?« fragte ich ihn verwzeifelt, auch wenn ich wusste, er würde mich nie verstehen. Er war in der Tat überrascht. Meine Ablehnung musste ein Weltbild in ihm zerstören.
»Heißt das etwa, du sagst Nein? Habe ich dich richtig verstanden?«, fragte er, denn noch wollte er lieber darauf beharren, dass er sich verhört hatte. Er hätte nicht fassungsloser sein können, wenn ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Ich wandte mich mit bemühter Ruhe zum Gehen:
»Ich kann es noch deutlicher sagen. Das heißt: Leck mich am Arsch!« Jetzt genoss ich meinen Abgang. Dennoch hatte Nix das letzte Wort.
»Das wird dir noch leid tun«, rief er drohend hinter mir her. Ich zuckte erneut mit den Schultern und war froh, dass unsere Auseinandersetzung zum Schluss nicht auch noch handgreiflich geworden war. Draußen vor der Tür stand der halbblinde Mann und hielt jedem Vorbeigehenden einen Zettel hin, auf dem, mit einer zittrigen, unleserlichen Handschrift geschrieben, zu lesen war, ob man ihm nicht zwei Mark leihen könne. Und weil er nichts sah, verdeckte er mit dem Daumen beinahe den ganzen Satz.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 25)“
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