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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 21)

[Zum ersten Teil]

Meine Gedanken kreisten aber weiterhin um diese erstaunliche Person. Ich hätte gerne mehr über die El­tern von Nix erfahren, über seine Freunde, seine erste Be­gegnung mit Theresa. In Gedanken füllte ich die Lücken mit Hilfe meiner Phantasie. Ich entschloss mich spontan, eine Fiktion über ihn zu schreiben, eine Geschichte zu erzählen. Zum ersten Mal versuchte ich mich an einem Text, der als literarisch gelten kann und es überraschte mich, wie schnell und auch leicht ich eine ordentliche und meiner Meinung nach auch brauchbare Anzahl von Seiten füllte; ich brauchte nur ein paar freie Nachmittage, Unmengen Kaffee und ein ordentliches Maß Selbstüberschätzung. Offensichtlich hat­te Nix doch recht: Wer Kunst schaffen will, benötigt als Erstes gute Gründe für sie. Der Rest geschieht von selbst; die Angst vor dem leeren Blatt Papier ist nur Faulheit. Freilich halfen mir auch meine journalistischen Erfahrungen, jedoch bei weitem nicht in dem Maße, in dem ich dies erhofft hatte. Eine Geschichte zu schreiben ist etwas vollkommen anderes.

Ich setzte mich zum Schreiben abseits ins Café am Milchberg, trank meine Latte, aß Butterbrezeln und bekritzelte unter einem seltsamen, mir selbst nicht erklärbaren Zwang die karierten Blät­ter eines College-Blocks. Ich fühlte mich wirklich gut dabei. Aber ich betrachtete mich immer wieder selbst wie von außen beim Schreiben und wunder­te mich über das Ergebnis; über die etwas schmuddeli­gen A4-Seiten, die ich so schnell mit meiner Ge­schichte füllte. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder in Autobiografien von Autoren über diesen ver­blüffenden Bann gelesen, der allgemein unter dem un­zulänglichen Begriff des »Automatischen Schreibens« reüssiert. Es scheint ein allgemeines, meist dazu als etwas un­heimlich empfundenes Flow-Erlebnis zu sein, das manche Schriftsteller mit Drogen künstlich herbeiführen wollen und andere fürchten. Diese Selbstbekenntnisse zeigten mir zu meiner Beruhigung auch: Die anderen – sogar die Gro­ßen – sind genauso hilflos, wenn es darum geht, diese Er­fahrung in nachvollziehbare Worte zu fassen.

Nach nur einer Woche war ich mit der ersten Version meiner Geschichte fertig. Diese erste literarische Arbeit abzuschließen, war ein wunderbares Gefühl, eine Erfah­rung, die leider einmalig und nicht wiederholbar ist. Jene plötzliche Erkenntnis, eine Doppelbegabung zu besitzen und noch eine weitere Möglichkeit, die Welt fest in die Hän­de nehmen zu können, machte mich glücklich und stolz. Ich kann nicht richtig ausdrücken, wie ich mich fühlte, als ich mein Werk meiner erstaunten Freundin vorlas. Wenngleich der irritie­rende Eindruck blieb, dass sie aus Prinzip der Meinung war, ich hätte mich besser nach einem Job umgesehen, als eine weitere brotlose Kunst zu beginnen, äußerte sich Christine jedoch lobend und war von die Qualität des Textes beeindruckt.

Wenn ich heute an meinen Texten schreibe, habe ich diese Empfindun­gen leider nicht mehr. Zuviel ist inzwischen kritisiert und zerredet worden, zu viele Selbstzweifel sind ent­standen. Ich kann heute nicht mehr so unbedarft und naiv schrei­ben wie damals; dieses Paradies ist für im­mer verloren gegangen. Unbedarft und naiv sind im Üb­rigen auch die Wörter, die die Qualität der Geschichte, die damals im Überschwang entstand, hinlänglich be­schreiben. Aber ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden und wollte je­den teilnehmen lassen. Obgleich der Auslöser für meinen literarischen Versuch die Andeu­tungen von Jonas über seine Pubertätsqualen waren, hatte ich mich je­doch in der Ausarbeitung weit von ihm entfernt. Vieles war von mir selbst, war von meinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen, hineingeflossen. Ich hatte ausgeschmückt und dazu erfunden, die Konflikte schärfer herausgearbeitet. Obwohl ich sicher war, Nix würde sich nicht in meinem Protagonisten wie­dererkennen können, entschied ich mich dagegen, ihm meine Geschichte zum Lesen zu geben. Im Gegensatz zu ihm war ich nämlich davon überzeugt, dass niemals einer von uns beiden ein Kunsterzeugnis des anderen ohne Vorur­teile begutachten könne. Das war eine Mei­nung, die im Übrigen nur kurze Zeit später ihre unange­nehme Bestä­tigung fand. Ich werde im nächsten Kapitel davon berichten.

Ich gab meine Erzählung jedoch Theresa zu lesen, als ich ihr zufällig auf der Straße begegnete und ein paar Alltäglichkeiten mit ihr austauschte, hinter denen wir unsere unangenehmen Erinnerungen an das Fest bei Sontheimer verbargen. Selbstverständlich hatte ich zu jener Zeit immer ein paar Kopien meines genialen Meisterwerkes bei mir. Die Freundin von Nix schien mir innerhalb der kurz­en Zeit, in der ich sie nicht mehr gesehen hatte, ge­altert zu sein und wirkte seltsam abgeklärt und ruhig. Ich gab ihr meine Telefonnummer und sie versprach, mir bald ihre Meinung mitzuteilen und Nix nichts davon zu sagen. Ich schenkte damals im Überschwang sogar Al­fons Andernaj eine Kopie, der sie zwar nicht las, aber im Suff an seinen Jugendfreund Nikolaus Klammer weiter­gab, der ausgerechnet in jenem Jahr in der Jury der Weissensteiner-Literaturtage saß und mir postwendend eine persönliche Einladung zu diesem Großereignis zu­sandte.

*

Die Weissensteiner-Literaturtage finden alle vier Jahre im Sommer statt und sind ein schwacher und nicht sel­ten unfreiwillig komischer Ab­klatsch des Bachmann-Preises; sie laufen auch mit ei­nem vergleichbaren Ritus ab. Alle vier Jahre dürfen ein­geladene Nachwuchsauto­ren aus Stadt und Landkreis vor Publikum und acht­köpfiger Jury aus Uniprofesso­ren und Vertretern von Zei­tung, Wirtschaft und Politik ihre Kopfgeburten vortra­gen und es hat sich dort noch nie je­mand mit einer Rasier­klinge die Stirn aufgeschnitten. Die Jury vergibt dann ei­nen mit zehntausend Mark do­tierten Preis für den ihrer Meinung nach besten Newco­mer. Da in Augsburg fähige Literaten ein nicht ge­rade häufiges Wild sind, ge­hört man bis zum Alter von fünfzig Jahren zum Nachwuchs und darf bis zu dieser Grenze so oft teilneh­men, wie man will. Wie beim städtischen Kunstpreis zählt auch hier die Gewöh­nung: Je näher man der magi­schen Fünfzig kommt und je häufiger man leichtverdau­liche und unpolitische Kost liest und sich von Bert Brecht distanziert, um so sicherer erhält man irgendwann einmal den Preis, den man sich jedoch immer mit einem oder gar mehreren anderen Glückspil­zen teilen muss. Diesmal aber war aus mir unersichtli­chen Gründen unvorsichti­gerweise Dr. Nikolaus Klam­mer in die Jury gewählt worden, was die doch äußerst abgeschmackte Sache, die auch nahezu ohne Publi­kumsbeteiligung und -interesse ablief, etwas lebendiger gestaltete. Ich halte Klammer für den bes­ten Literaturkenner und profundesten Kritiker, dem ich je begegnet bin und das nicht nur deshalb, weil er meine Sachen mag.

Der Preis, für Orts- und Literaturunkundige sei es er­wähnt, ist natürlich nach dem bekannten Augsburber Autor Beren­gar C. Weissensteiner benannt, neben Brecht einem der wenigen wirklich be­deutenden literarischen Söhnen dieser Stadt, der sie aller­dings mit seinen Eltern bereits im zarten Alter von vier verlassen und diesen Entschluss zumindest öffentlich auch nie bedau­ert hat. Er arbeitete in den Zwanziger Jahren in Berlin beim konservativen Tagebuch und ist 1952 im amerikanischen Exil ge­storben. Obwohl er sicher alles andere als ein sozialisti­scher oder gar kommunistischer Autor war, hatte er doch ein paar von ihnen gekannt und 1937 in einem holländischen Exilverlag einen Roman über einen Arbeiter veröffent­licht, den die Saarbesetzung der Nazis in den politi­schen Extremismus und in den spanischen Bürgerkrieg treibt. Deshalb gilt er wie Brecht als ein umstrittener, politisch anrüchiger Schriftsteller und die Stadt tut sich schwer mit seinem Erbe, eben jenem Preis, den er ihr in seinem Testament, sei es aus Altruismus oder Boshaftigkeit, ge­stiftet hat. Hier zählt man Autoren, vor allem die zeit­genössischen, die immer der Ruch der Linkslastigkeit umgibt, nicht zu den förderungswürdigen Künstlern und in den Neunzigern konnte man diese Ab­neigung des CSU-Stadtrates fast eine Phobie nennen. Als zum Beispiel durch die Herausgabe der persönli­chen Aufzeichnungen von Weissensteiner bekannt wur­de, dass sich dieser mehr oder weniger ernsthaft mit dem Gedanken getragen hatte, Ende der Vierziger Jahre von Kalifornien nach Ost-Berlin zu gehen, da er dem Arbeiter- und Bauernstaat damals mehr Sympathie als dem Westkon­strukt entgegenbrachte, und nur sein Tod diesen Plan verhinderte, wurde tatsächlich ernsthaft darüber disku­tiert, aus diesem Grund die Gedenktafel an dem Geburtshaus die­ses unwürdigen Sohnes der Stadt zu entfernen. Auch an eine demonstrative Aussetzung des Preises wurde ge­dacht. Natürlich geschah das gleiche, das immer ge­schieht, wenn sich die Verantwortlichen der Stadt mit wichtigen Entscheidungen beschäftigen: Es wurde laut­stark debattiert und sonst passierte – nichts.

[Zum 22. Teil …]

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