Meine Gedanken kreisten aber weiterhin um diese erstaunliche Person. Ich hätte gerne mehr über die Eltern von Nix erfahren, über seine Freunde, seine erste Begegnung mit Theresa. In Gedanken füllte ich die Lücken mit Hilfe meiner Phantasie. Ich entschloss mich spontan, eine Fiktion über ihn zu schreiben, eine Geschichte zu erzählen. Zum ersten Mal versuchte ich mich an einem Text, der als literarisch gelten kann und es überraschte mich, wie schnell und auch leicht ich eine ordentliche und meiner Meinung nach auch brauchbare Anzahl von Seiten füllte; ich brauchte nur ein paar freie Nachmittage, Unmengen Kaffee und ein ordentliches Maß Selbstüberschätzung. Offensichtlich hatte Nix doch recht: Wer Kunst schaffen will, benötigt als Erstes gute Gründe für sie. Der Rest geschieht von selbst; die Angst vor dem leeren Blatt Papier ist nur Faulheit. Freilich halfen mir auch meine journalistischen Erfahrungen, jedoch bei weitem nicht in dem Maße, in dem ich dies erhofft hatte. Eine Geschichte zu schreiben ist etwas vollkommen anderes.
Ich setzte mich zum Schreiben abseits ins Café am Milchberg, trank meine Latte, aß Butterbrezeln und bekritzelte unter einem seltsamen, mir selbst nicht erklärbaren Zwang die karierten Blätter eines College-Blocks. Ich fühlte mich wirklich gut dabei. Aber ich betrachtete mich immer wieder selbst wie von außen beim Schreiben und wunderte mich über das Ergebnis; über die etwas schmuddeligen A4-Seiten, die ich so schnell mit meiner Geschichte füllte. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder in Autobiografien von Autoren über diesen verblüffenden Bann gelesen, der allgemein unter dem unzulänglichen Begriff des »Automatischen Schreibens« reüssiert. Es scheint ein allgemeines, meist dazu als etwas unheimlich empfundenes Flow-Erlebnis zu sein, das manche Schriftsteller mit Drogen künstlich herbeiführen wollen und andere fürchten. Diese Selbstbekenntnisse zeigten mir zu meiner Beruhigung auch: Die anderen – sogar die Großen – sind genauso hilflos, wenn es darum geht, diese Erfahrung in nachvollziehbare Worte zu fassen.
Nach nur einer Woche war ich mit der ersten Version meiner Geschichte fertig. Diese erste literarische Arbeit abzuschließen, war ein wunderbares Gefühl, eine Erfahrung, die leider einmalig und nicht wiederholbar ist. Jene plötzliche Erkenntnis, eine Doppelbegabung zu besitzen und noch eine weitere Möglichkeit, die Welt fest in die Hände nehmen zu können, machte mich glücklich und stolz. Ich kann nicht richtig ausdrücken, wie ich mich fühlte, als ich mein Werk meiner erstaunten Freundin vorlas. Wenngleich der irritierende Eindruck blieb, dass sie aus Prinzip der Meinung war, ich hätte mich besser nach einem Job umgesehen, als eine weitere brotlose Kunst zu beginnen, äußerte sich Christine jedoch lobend und war von die Qualität des Textes beeindruckt.
Wenn ich heute an meinen Texten schreibe, habe ich diese Empfindungen leider nicht mehr. Zuviel ist inzwischen kritisiert und zerredet worden, zu viele Selbstzweifel sind entstanden. Ich kann heute nicht mehr so unbedarft und naiv schreiben wie damals; dieses Paradies ist für immer verloren gegangen. Unbedarft und naiv sind im Übrigen auch die Wörter, die die Qualität der Geschichte, die damals im Überschwang entstand, hinlänglich beschreiben. Aber ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden und wollte jeden teilnehmen lassen. Obgleich der Auslöser für meinen literarischen Versuch die Andeutungen von Jonas über seine Pubertätsqualen waren, hatte ich mich jedoch in der Ausarbeitung weit von ihm entfernt. Vieles war von mir selbst, war von meinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen, hineingeflossen. Ich hatte ausgeschmückt und dazu erfunden, die Konflikte schärfer herausgearbeitet. Obwohl ich sicher war, Nix würde sich nicht in meinem Protagonisten wiedererkennen können, entschied ich mich dagegen, ihm meine Geschichte zum Lesen zu geben. Im Gegensatz zu ihm war ich nämlich davon überzeugt, dass niemals einer von uns beiden ein Kunsterzeugnis des anderen ohne Vorurteile begutachten könne. Das war eine Meinung, die im Übrigen nur kurze Zeit später ihre unangenehme Bestätigung fand. Ich werde im nächsten Kapitel davon berichten.
Ich gab meine Erzählung jedoch Theresa zu lesen, als ich ihr zufällig auf der Straße begegnete und ein paar Alltäglichkeiten mit ihr austauschte, hinter denen wir unsere unangenehmen Erinnerungen an das Fest bei Sontheimer verbargen. Selbstverständlich hatte ich zu jener Zeit immer ein paar Kopien meines genialen Meisterwerkes bei mir. Die Freundin von Nix schien mir innerhalb der kurzen Zeit, in der ich sie nicht mehr gesehen hatte, gealtert zu sein und wirkte seltsam abgeklärt und ruhig. Ich gab ihr meine Telefonnummer und sie versprach, mir bald ihre Meinung mitzuteilen und Nix nichts davon zu sagen. Ich schenkte damals im Überschwang sogar Alfons Andernaj eine Kopie, der sie zwar nicht las, aber im Suff an seinen Jugendfreund Nikolaus Klammer weitergab, der ausgerechnet in jenem Jahr in der Jury der Weissensteiner-Literaturtage saß und mir postwendend eine persönliche Einladung zu diesem Großereignis zusandte.
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Die Weissensteiner-Literaturtage finden alle vier Jahre im Sommer statt und sind ein schwacher und nicht selten unfreiwillig komischer Abklatsch des Bachmann-Preises; sie laufen auch mit einem vergleichbaren Ritus ab. Alle vier Jahre dürfen eingeladene Nachwuchsautoren aus Stadt und Landkreis vor Publikum und achtköpfiger Jury aus Uniprofessoren und Vertretern von Zeitung, Wirtschaft und Politik ihre Kopfgeburten vortragen und es hat sich dort noch nie jemand mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeschnitten. Die Jury vergibt dann einen mit zehntausend Mark dotierten Preis für den ihrer Meinung nach besten Newcomer. Da in Augsburg fähige Literaten ein nicht gerade häufiges Wild sind, gehört man bis zum Alter von fünfzig Jahren zum Nachwuchs und darf bis zu dieser Grenze so oft teilnehmen, wie man will. Wie beim städtischen Kunstpreis zählt auch hier die Gewöhnung: Je näher man der magischen Fünfzig kommt und je häufiger man leichtverdauliche und unpolitische Kost liest und sich von Bert Brecht distanziert, um so sicherer erhält man irgendwann einmal den Preis, den man sich jedoch immer mit einem oder gar mehreren anderen Glückspilzen teilen muss. Diesmal aber war aus mir unersichtlichen Gründen unvorsichtigerweise Dr. Nikolaus Klammer in die Jury gewählt worden, was die doch äußerst abgeschmackte Sache, die auch nahezu ohne Publikumsbeteiligung und -interesse ablief, etwas lebendiger gestaltete. Ich halte Klammer für den besten Literaturkenner und profundesten Kritiker, dem ich je begegnet bin und das nicht nur deshalb, weil er meine Sachen mag.
Der Preis, für Orts- und Literaturunkundige sei es erwähnt, ist natürlich nach dem bekannten Augsburber Autor Berengar C. Weissensteiner benannt, neben Brecht einem der wenigen wirklich bedeutenden literarischen Söhnen dieser Stadt, der sie allerdings mit seinen Eltern bereits im zarten Alter von vier verlassen und diesen Entschluss zumindest öffentlich auch nie bedauert hat. Er arbeitete in den Zwanziger Jahren in Berlin beim konservativen Tagebuch und ist 1952 im amerikanischen Exil gestorben. Obwohl er sicher alles andere als ein sozialistischer oder gar kommunistischer Autor war, hatte er doch ein paar von ihnen gekannt und 1937 in einem holländischen Exilverlag einen Roman über einen Arbeiter veröffentlicht, den die Saarbesetzung der Nazis in den politischen Extremismus und in den spanischen Bürgerkrieg treibt. Deshalb gilt er wie Brecht als ein umstrittener, politisch anrüchiger Schriftsteller und die Stadt tut sich schwer mit seinem Erbe, eben jenem Preis, den er ihr in seinem Testament, sei es aus Altruismus oder Boshaftigkeit, gestiftet hat. Hier zählt man Autoren, vor allem die zeitgenössischen, die immer der Ruch der Linkslastigkeit umgibt, nicht zu den förderungswürdigen Künstlern und in den Neunzigern konnte man diese Abneigung des CSU-Stadtrates fast eine Phobie nennen. Als zum Beispiel durch die Herausgabe der persönlichen Aufzeichnungen von Weissensteiner bekannt wurde, dass sich dieser mehr oder weniger ernsthaft mit dem Gedanken getragen hatte, Ende der Vierziger Jahre von Kalifornien nach Ost-Berlin zu gehen, da er dem Arbeiter- und Bauernstaat damals mehr Sympathie als dem Westkonstrukt entgegenbrachte, und nur sein Tod diesen Plan verhinderte, wurde tatsächlich ernsthaft darüber diskutiert, aus diesem Grund die Gedenktafel an dem Geburtshaus dieses unwürdigen Sohnes der Stadt zu entfernen. Auch an eine demonstrative Aussetzung des Preises wurde gedacht. Natürlich geschah das gleiche, das immer geschieht, wenn sich die Verantwortlichen der Stadt mit wichtigen Entscheidungen beschäftigen: Es wurde lautstark debattiert und sonst passierte – nichts.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 21)“
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