Der Weg, der in den Tag führt
Teil 2: Pardais
Die Kaste der Armseligen stellte die niedrigste Gesellschaftsschicht von Es Sakrat dar. Zu ihr gehörten Menschen, die meist unverschuldet ihre Gesundheit oder durch Unglücksfälle die Zwillinge, ihre Familie und ihre Wohnstätten verloren hatten, im Staub der Straßen krochen und bettelten und von der Barmherzigkeit der anderen Bewohner der Stadt lebten. Sie waren die Ärmsten der Armen und verdienten Mitleid und Hilfe. Weshalb war einer von ihnen in die Hände der Arbeitsamen geraten und warum wollten sie ihn opfern – wahrscheinlich ihrem unheimlichen Gott Sadon oder seiner weiblichen Inkarnation Kaliemma? Was konnte ein Bettler ihnen getan haben? Auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie: Esda war sofort entschlossen, alles ihr Mögliche zu unternehmen, um den bedauernswerten Armseligen aus den Händen dieser Unmenschen zu retten. Ein Menschenopfer? Was war nur aus dieser Welt geworden? Die Sammlerin hatte zwar Gerüchte gehört, dass die Kasten der Arbeitsamen und der Behutsamen Schwestern sich radikalisiert hatten, seit ihnen ihr neuer Maier und Samerpapst Rhysko vorstand. Sie hatte aber bisher nicht allzu viel darauf gegeben, denn sie konnte diese Fanatiker, die das Alte Reich der Vergangenen wieder auferstehen lassen wollten, nicht ernst nehmen; zumindest die Arbeitsamen nicht, die sich den ganzen Tag an der Milch ihrer Bärentiere berauschten.
Als würden die beiden Samerbrüder ihre Überlegungen bestätigen wollen, nahm der eine, der Berg genannt wurde, eine kleine Feldflasche aus dem Ärmel seines Hemds und öffnete sie, nahm zuerst einen langen Schluck, bevor er ihn an Torm weiterreichte. Der ergriff sie gierig und setzte sie wie ein Verdurstender an die Lippen.
»He, nicht die ganze Flasche!«, begehrte Berg auf. »Mehr habe ich nicht. Lass mir auch noch etwas übrig.«
Torm machte eine Pause. »Ist doch egal«, sagte er verschwörerisch lächelnd und rülpste. »Du kommst schon nicht zu kurz! Denke mal nach. Die Boxen dort hinten sind voll mit frischer, guter Milch. Wir haben sie erst gestern gemolken; wir waren dabei, hast du das vergessen? Die Milch müsste inzwischen in der ersten Gärung sein, da schmeckt sie am Besten.«
Esda biss sich auf die Lippen. Das fehlte ihr noch. Wenn die beiden Narren sich hier drinnen heimlich betrinken würden, mochte es noch sehr lange dauern, bis sie sich an ihnen vorbeischleichen und nach dem gefangenen Armseligen suchen konnte. Doch ganz danach sah es nun aus: Berg strahlte, als hätte jemand ein Licht in seinem Kopf entzündet und trat schnell zu den Lagerbehältern an der gegenüberliegenden Wand, während sein Zwilling den letzten Rest aus der Feldflasche saugte. Er setzte erst ab, als der letzte Tropfen der verdünnten Westri-Milch über seine Lippen geglitten war. »Komm, komm, mach schon«, rief er glückselig, »ich habe noch viel Durst.«
Berg knurrte eine zustimmende Antwort und öffnete die erste Kiste. »Verfaulter Westri-Mist! Da sind nur alte Fetzen und Bücher drin.« Er hob einen karminroten Stoff in die Höhe. Torm sprang sofort wie von einem Wüstenskorpion gestochen in die Höhe.
»Leg das sofort wieder zurück und mach den Deckel zu! Bist du von Sinnen?«, befahl er mit vor Angst zitternder Stimme. Berg sah ihn verständnislos an. »Hast du denn nicht die eingebrannte Markierung auf dem Holz gesehen? Du hast ein Ordensgewand der Schwestern in der Hand. Willst du von der Mutter Oberin verflucht werden?« Berg legte das Kleidungsstück so schnell zurück und knallte über ihm den Deckel zu, als hatte er sich an dem Stoff verbrannt.
»Da sei Sadon vor«, stotterte er und fluchte erschrocken. Dann fragte er abergläubisch: »Meinst du, es ist war, was die Schwestern plappern, dass sie grausame Schmerzen fühlen, wenn eine Männerhand nur ihr Kleid berührt?« Er klang nun sehr kleinlaut.
»Wer weiß?«, gab Torm dunkel zurück. Er hatte sich inzwischen wieder beruhigt und ging ein paar Schritte in einen Gang zwischen den lagernden Gütern hinein, bis er die richtige Kiste fand. Er griff hinein und beförderte zwei Literflaschen zu Tage, in denen eine weißliche Flüssigkeit schwappte, die grünlich phosporisierte. Mit ihnen kam er triumphierend zurück zu seinem Bruder und drückte ihm eine in die Hand.
»Aber sie werden schon nicht wissen, wessen Hand ihre Tracht besudelt hat. Was die Oberin nicht weiß, kümmert auch die Beißende Göttin nicht«, versuchte er Berg und vielleicht auch sich selbst zu beruhigen. Kaliemma, die die Beißende Göttin genannt wurde, war die einem Alptraum entsprungene Götze, zu der die Behutsamen Schwestern beteten. Im Glauben dieser Fanatiker war sie die weibliche Manifestation ihres Urgottes Sadon. Sie wurde auf ihren Tempelgemälden mit sechs Armen, totenblasser, blauer Haut und einer Halskette aus abgeschlagenen Menschenköpfen dargestellt. Obwohl Esda nicht an Kaliemmas Existenz glaubte, jagte sie ihr trotzdem Schrecken ein und die versteckte Frau machte zur Sicherheit ein Handzeichen, um das Böse abzuwehren.
»Auf den Schreck hin haben wir uns redlich einen Schluck verdient«, fuhr Torm fort.
»Aber sollten wir die Milch nicht besser verdünnen? Ist das wirklich eine gute Idee, sie pur zu trinken. Ich habe da ein paar Geschichten gehört …«, zögerte Berg.
»Das sind doch nur Märchen, um uns kurz zu halten. Die Maier wollen nicht teilen, das war schon immer so. Wenn schon ein einziger Tropfen so herrlich ist und einen direkt in den Himmel trägt, was wird dann wohl ein reiner Schluck vermögen? Sadon, der Unsterbliche, liebt den fröhlichen Zecher. Die Westri-Bärchen sind sein Geschenk an seine Jünger und ihre Milch ist ein göttlicher Vorgeschmack auf die Dinge, die bald kommen werden.« Berg kicherte.
»Du sprichst wie Agutar, unser Prediger. Ich erkenne die Wahrheit, die aus deinem Mund quillt.«
»Dann lass uns auf diese Nacht anstoßen, in der wir endlich für unsere Mühen belohnt werden. Möge sie die letzte sein!« Die beiden zogen die Korken aus den Flaschen. Sofort stieg Esda wieder eklig süße, betäubend faulige Geruch in die Nase, der ihr schon beim Betreten des Raumes aufgefallen war; nur war er diesmal wesentlich intensiver, da sich die Milch des Vergessens durch das beigefügte Negradi-Moos in Gärung befand. Fast hätte sie ein warnendes Wort ausgerufen und sich dadurch verraten, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Sie hatte noch nie viel von der Intelligenz der Arbeitsamen gehalten, aber konnte wirklich so viel Dummheit in zwei Körper passen? Die beiden Idioten tranken dieses Gift tatsächlich unverdünnt!
Die Wirkung setzte unvermittelt ein. Ein Schluck reichte aus, sie außer Gefecht zu setzen. Das war ihr Glück, denn einen zweiten hätten sie wahrscheinlich nicht überlebt. Als hätte Torm und Berg jemand eine überschwere Last aufgebürdet, plumpsten sie gleichzeitig zu Boden und begannen zu kichern und sinnlose Wörter zu brabbeln. Die Flaschen glitten ihnen aus den krampfenden, zuckenden Händen. Eine rollte davon und entleerte im Drehen gluckernd ihren ekelhaften Inhalt. Der Gestank nach Tod und sauerem Erbochenem wurde atemberaubend und vor Esdas Augen tanzten plötzlich bunte Sternchen. Sie presste eilig ihre Armbeuge fest gegen ihr Gesicht und atmete so flach wie möglich durch den Wollstoff ihres Ärmels, doch beim hastigen Aufstehen begann der Lagerraum um sie herum zu tanzen. Sie schwankte und stolperte, als hätte sich der Boden unter ihren Füßen in eine trügerische, nachgiebige Sanddüne verwandelt. Das lag nicht an der Wunde an ihrem Fuß, die sie im Moment überhaupt wegen der Wirkung des Mooses nicht spürte, sondern allein an den Dämpfen der Wetri-Milch, die sie benebelten. Als wäre sie volltrunken, fiel Esda ungeschickt gegen den Kistenstapel. Verzweifelt hielt sie die Luft vollkommen an, denn sie wusste, dass sie nach ein oder zwei weiteren Atemzügen ebenfalls ohnmächtig zusammensinken würde. An die Kopfschmerzen des nächsten Morgens – falls sie diese Nacht überleben konnte – wollte sie nicht denken.
Nur raus hier!
[Fortsetzung nächsten Freitag …]
Der Beginn der spannenden Geschichte:
Der Weg, der in den Tag führt
Teil I: Karukora
Als Taschenbuch oder günstiges E-Book,
380 Seiten, illustriert
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt, Teil II: Pardais – Prolog (5)“
[…] [Zum 5. Teil …] […]