Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 19)

[Zum ersten Teil]

Das alles ging bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr ganz gut. Ich könnte den Tag angeben, an dem diese Samm­lung von Gründen, aus denen ich Bilder malte, starb. Ich war auf der Fachoberschule im Bereich Ge­staltung und verrückt, eingenommen und überheb­lich genug, mich mit meinen dilettantischen Fähig­keiten vor die Öf­fentlichkeit zu trauen; das heißt, ich hatte erfahren, dass ein paar der wenigen renommierten und älteren Maler unserer Stadt ei­nen Kunstsalon in einer gro­ßen, leeren Fabrikhalle plan­ten und eine Ecke des Raumes jungen Talenten zur Ver­fügung stellen woll­ten. Das hielt ich für meine Chance. Ich setzte mich mit den Künstlern in Verbindung und machte mit ih­nen ein Treffen bei mir aus, damit sie mei­ne Bilder begutachten konnten. Ich hatte mir nichtim Traum vor­stellen können, jemand – noch dazu ein Kollege – könne die Weltbedeutung meiner Kunst verkennen oder gar ablehnen und war deshalb auf das, was kam, völlig unvorbereitet. Die Kri­tik der Etablierten war natürlich vernichtend und braucht hier nicht weiter ausgebreitet werden. Sie gipfelte in dem mit angeekelt herabgezogenen Mundwinkeln gemachten Urteil, meine Werke seien Kitsch wie die Öl­schinken in den Kaufhäusern, die trinkende Mönche oder der schönen Zigeunerinnen zeigten. Meine Arbeiten wären lächerliche Gartenzwerg-Kunst und auf keinen Fall entsprächen sie dem Ni­veau des Kunstsalons. Sicher war die Art, mit der sie mich spöttisch abkanzelten, gemein und unfair, von Selbstüberhebung gekenn­zeichnet, aber sie hatten aber deswegen leider nicht weniger recht. Ich benötigte allerdings beinahe ein Jahr, bis ich das einsehen und akzeptieren konn­te. Die klatschende Ohrfeige hatte jedenfalls gesessen; diese Niederlage war die schlimmste meines Lebens.  Ich durchlebte eine extreme Krise, in der ich nicht nur völlig in der Schule versagte, sondern auch kein ein­ziges Bild mehr malte. Der große Künstler in mir war so am Boden zerstört, dass er sogar in leichtsinnigen Momenten mit dem Ge­danken an Selbstmord spielte – mit dem er, ich will ehrlich sein, selbstver­ständlich mehr kokettierte, als ihn ernst­haft in Erwä­gung zu ziehen. Näher war mir da schon die Vorstellung, ein Blutbad unter den arroganten älteren Kollegen anzurichten.

Meine erste Reaktion auf diese Ablehnung war, trot­zig und beleidigt auf der Qualität meiner Bilder und Colla­gen zu beharren; vor allem auf der handwerkli­chen, die ich damals für unangreifbar hielt und die si­cher das Prä­dikat „frühreif“ verdiente. Gierig versuchte ich, mein Selbstbewusstsein wieder in die Höhe zu bringen, in­dem ich mein kleines Publikum mit lästi­ger Aufdring­lichkeit um Lob anging, ja, es von ihm unwirsch forderte. Doch plötzlich waren fast alle, nachdem sie von meinem Unglück gehört hat­ten, merk­würdig unsicher und vorsichtig ab­wägend, wenn ich mich um eine Kritik bei ihnen auf­drängte. Heute denke ich, ich überforderte sie schlicht, da sie alle die ganze Angelegenheit weit we­niger ernst nahmen als ich. Sie konnten nicht begrei­fen, warum ich mir die Ablehnung so zu Herzen nahm, da sie nicht ahnten, wie wichtig mir meine Kunst inzwischen geworden war. Sie war das Spiegelbild geworden, in dem ich mich sah. Deshalb nahm ich die vernichtende Kritik an meinen Bildern als eine Kritik an mir selbst, da ich mich ja in ihnen abbildete. Das war der Grund, aus dem ich verletzt war: Künstler, von denen ich et­was hielt und mit denen ich mich hatte solidarisieren wollen, hat­ten mich nicht als gleichberechtigt aner­kannt, mir da­durch meine Lebensgrundlage entzo­gen, die ich mir in den Jahren meiner Pubertät müh­sam aufgebaut hatte. Deshalb konnte ich zuerst nicht einsehen, wie recht sie hatten. Aber es ist doch be­merkenswert, dass ich es von diesem Tag an nicht mehr fertigbrachte, schöpferisch tä­tig zu sein. Ich verbrachte oft Stunden mit einem Mal­block und der Koh­le in der Hand, kritzelte vielleicht ein paar Linien, aber meist war mein Inneres so blank und leer wie das Papier vor mir. Ich war ein Opfer des horror va­cui geworden, vor dem sich jeder Künstler fürchtet. Ganz langsam wurde mir aber bewusst: Meine Unfähigkeit, mich schöpferisch auszudrücken, war darin begründet, dass meine alten Gründe, aus denen ich malte, jetzt nicht mehr galten. Meine egomanischen Bildaus­sagen stellten für andere nichts weiter als eine langweilige, überflüssi­ge Onanie da , mit der sich nie­mand befassen wollte. Meine Kunst war nichts, was Belang für andere oder gar für die Öffentlichkeit Bedeutung hatte. Mein sorgsam gehüteter Glaube an mich selbst und an das, was ich meine Kunst nannte, war gestorben.

Ich hätte freilich nach diesem Erlebnis wie viele in die­sem Alter aufhören können, mich kreativ auszudrü­cken, oder zumindest nur noch für mich allein weiter­malen können, aber beides konnte mich nicht mehr befriedi­gen. Dieser Zug war längst abgefahren. Viel zu sehr hat­te ich mich in den letzten Jahren darauf versteift, ein Künstler zu sein, um nun plötzlich die­sen Charakter wie einen überflüssigen Schal zur Sei­te legen zu können, weil sich das Wetter verändert hat. Nein, ich wollte wei­terhin Bilder malen und auch ein Publikum für sie, denn ich war zu der Auffassung gelangt, dass ein Kunst­werk erst dann vollendet ist, wenn es zu Augen einer irgend­wie gearteten Öffent­lichkeit gekommen ist. Ich benötigte also eine neue und bessere Begrün­dung, Kunst zu schaffen, als es mein neurotischer Versuch war, anzugeben und mich selbst zu heilen, ei­nen diffe­renzierteren Grund, den ich im folgenden Abschnitt auseinander legen will.

Trotz des eine Fortsetzung verheißenden letzten Satzes ende­te das Manuskript von Nix an dieser Stelle. Aber da er mir seine augenblickliche Kunsttheo­rie bereits bei unserem Interview vor einigen Wochen einge­hend erläutert hat­te, konnte ich mir in etwa denken, wie er weiterschrei­ben wollte. Ich legte also das letzte Blatt betroffen und unangenehm berührt zur Seite. Nix schwieg abwartend und ich war ihm dafür dankbar. Mir wäre im ersten Moment unmöglich gewesen, etwas zu dieser monomanen Selbstent­blößung zu sagen, zu diesem Outing, um ein neumodi­sches Wort zu benutzen. Das Gelesene nahm mir den Atem. Ich be­nötigte Zeit, um ein wenig Linie in eine Kritik, die er nun sicherlich von mir erwartete, zu bringen. Ich wollte ihn nicht mit irgendeinem Gestammel beleidigen. Nicht wagend, ihm jetzt in die Augen zu sehen, beschäf­tigte ich mich intensiv mit einem Kronkorken, den ich vom Boden auf­hob. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Text! Nix war wirklich immer wieder für Überraschun­gen gut. Nach einer ganzen Weile räusperte er sich und nahm seine Blätter zurück, faltete sie sorgfältig zusam­men.

»Also«, fragte er endlich, »was sagst du?«

Ich blickte leichtsinnig auf und direkt in seinen durchdrin­genden, unangenehmen Blick. Ich konnte ihn nicht lange er­tragen und widmete ich wieder beflissen dem Stück Metall in meiner Hand.

»Das ist sehr schwer …«, begann ich, noch immer Zeit schindend. »Dein Text endet etwas abrupt, findest du nicht?«

»Gott, was bist du clever. Natürlich hast du nur die Hälfte gelesen. Aber ich musste hier absichtlich einen Schnitt machen, weil mein Aufsatz schon jetzt länger ist, als man mir Platz einräumte. Kurz zusammengefasst: Ich lege im zweiten Teil dar, wie ich genau durch diese Erkennt­nis, eben, dass mich psychologische und pathologische Grün­de zum Malen bewogen hatten und ich deshalb auch zwangsläufig schlechte Bilder machte, aus dieser Art des Schaffens herausfand, zu einem Malenwollen aus Vernunftgründen kam. Dazu sammle ich dann die Be­gründungen, zu malen, beziehungsweise, es zu lassen, stelle sie in einer Art von Dialektik gegenüber, wäge sie ab und hebe sie in einer Synthese, nämlich den Grün­den, aus denen ich persönlich male, auf. Es kann in der Zukunft durchaus möglich sein, dass mir diese Gründe nicht mehr ausreichen, ich erneut vor dem Problem stehe, ob es für mich überhaupt Sinn macht, zu malen. Aber das geschieht dann auf einer höheren Ebene und es kann nur fruchtbar für die Qualität meiner Kunst sein. Ich habe diesen zweiten Teil meines Aufsatzes längst ge­schrieben, doch ich muss ihn noch einmal überarbeiten. Ich denke, der erste Abschnitt ist auch interessant und kann für sich allein stehen«, erläuterte er weitschweifig. Ich hörte ihm kaum zu, denn es fiel mir schwer, seinen seltsamen Gedankengängen zu folgen.

Plötzlich konnte ich allerdings verstehen, warum er da­mals in der Fachoberschule so wütend auf meine Kri­tik an seiner Collage reagiert hatte: Sie stellte nach seinen alten Bildern einen frühen Versuch dar, etwas Neues zu schaffen und ich hatte mich leichtfertig darüber lustig gemacht. Eine Pause entstand. Nun war ich an der Rei­he, so schwer es mir auch fiel.

[Zum 20. Teil …]

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