2. Comicwelten und der wilde, wilde Westen. Mit Vierzehn wird er genötigt, eine Jahrgangsstufe zu wiederholen, was seiner Meinung von seiner Genialität kaum Abbruch und ihm nicht einmal sonderliches Unbehagen bereitet. Im Gegenteil, unter den nun Jüngeren in seiner neuen Klasse strahlt sein Licht noch heller, hat seine Meinung und sein Auftreten endlich das Gewicht, das er sich wünscht. Doch leider kann er weder durch sein körperliches Erscheinungsbild – er neigt zur Fettleibigkeit –, noch durch seine wegen der Behütung durch die Eltern noch recht lückenhaften Lebenserfahrung glänzen. Da er jedoch nicht auf den Mund gefallen und mit einer überschäumenden Phantasie begabt ist, beschließt er, mehr aus sich zu machen und spinnt ein ungeheuerliches Netz aus Lügen und Angabe, um sich vor den anderen bedeutender zu machen. Und, so unglaubwürdig es auch klingen mag, das funktioniert. Er lässt sich bewundern. Fast die gesamte Zeit, die ihm zur Verfügung steht, beschäftigt er sich nun damit, dieses Bild von sich auszumalen und sich in den Mittelpunkt einer interessanten Welt zu stellen, die er seinen Schulfreunden so glaubhaft wie ihm möglich verkauft. Dass dieses Gewirr von Halbwahrheiten und unverschämten Lügen nicht zerreißt, liegt in der Hauptsache daran, dass seine Freunde viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und auch nicht immer bei der Wahrheit bleiben.
Er hat ein Idealbild von sich entwickelt, in das er wie in einen viel zu groß geratenen Anzug geschlüpft ist und das seine wahre, allzu kümmerliche Erscheinung vor seinen Freunden verbergen soll. Dieses Ideal ist eine seltsame Mischung aus zwei sich eigentlich ausschließenden Gruppen von Vorbildern. Zum einen eifert er nämlich den Hauptfiguren der schwergewichtigen Literatur nach, die er liest, zum anderen bewundert er die Fernseh-, Kino- und vor allem die Comic-Superhelden, die ihr Leben in bunten und außergewöhnlichen Abenteuern bestreiten, ohne auch nur von Ferne so etwas wie Selbstzweifel oder Fehlschläge zu kennen. Aus diesen beiden Typen bastelt er sich sein persönliches Vorbild, eine Art von krankem, selbstzerstörerischem Held, eine Hemingwaygestalt für den Hausgebrauch. Das gefällt ihm.
Also lebt er in einer Traumwelt: Er gibt sich, so weit ihm das möglich ist, den anderen gegenüber überlegen, gelassen, manchmal abweisend kühl. Dazu erlebt er in seiner Phantasie jene haarsträubenden Abenteuer, die ihm das Alltagsleben so hartnäckig verweigert. In abgeschwächter, etwas glaubhafterer Form bringt er diese Wunschbilder auch unter seine Freunde und genießt den Neid und die Bewunderung, die ihm entgegengebracht werden. Doch diese Aspekte seines Heldenlebens genügen ihm nicht. Da er selbst mehr, nämlich ein Füllhorn voller Fehler und Selbstmitleid, Unsicherheit und Zweifeln ist, auch seine Angebereien ja letztlich nur den Wunsch darstellen, akzeptiert zu werden, stattet er eben diesen Helden, den er den anderen vorspielt, vorsichtig mit eigenen, tragisch empfundenen Zügen aus. Doch auch an seinen Schwächen und seinen Charakterzügen darf nicht wie bei den anderen das Triviale kleben, er muss sie veredeln. Wie man das macht, lernt er bei seinem Abgott Hesse.
Erneut fühlt er sich berufen, zwar nicht mehr von Gott persönlich zum zeitgenössischen Messias, aber von seiner Persönlichkeit zum genialen Künstler. Das betrachtet er als sein Geburtsrecht. Der Pubertierende beginnt sich wieder für seine Handlungen, die er als schlecht empfindet, zu strafen, eine neue Zeit der Selbstgeißelungen beginnt, allerdings in abgeschwächter, will sagen, in verfeinerter, dekadent-masochistischer Form. Lesen Sie „Tief unten“ von Joris-Karl Huysmans, falls Sie es wirklich genauer wissen wollen.
Freilich hat er kein Damaskus-Erlebnis, nachdem er sich als Künstler fühlt – er weiß auch längst noch nicht, wie er seine Kunst zum Ausdruck bringen, über welches Medium er sie vermitteln will. Wie bei den meisten seiner Entscheidungen läuft auch hier viel im Unbewussten ab. Das entwickelt sich sehr langsam, schält sich aus der Zeit. Der Beginn liegt in seinem Versuch begründet, die Abenteuergeschichten, die fast ohne sein Zutun in seinem Kopf entstehen, zu fixieren, haltbar zu machen.
Aus welchem Urgrund seines Selbst zuerst der Wunsch an die Oberfläche taucht, sich als Künstler zu artikulieren, weiß ich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, bin aber zu keiner befriedigenden Lösung gekommen. Hier ist einer der Punkte, an denen meine Selbstdiagnose scheitert, fehlschlagen muss. Jedenfalls versucht der Teenager zuerst, seine Geschichten und Gedanken aufzuschreiben. Doch etwas in ihm widersetzt sich dieser Form, zu der ihm damals auch die grundlegenden Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Das Schreiben erscheint ihm insgesamt als zu langatmig und zu entfremdet vom schöpferischen Akt. Also entschließt er sich für einen Zwitter und er beginnt, Comics zu entwerfen. Seine ersten Versuche, die nie über wenige Seiten hinausgelangen, befriedigen ihn wegen der Bildqualität nicht und er beginnt zur Übung, seine Vorbilder abzuzeichnen, gibt diese Kopien jedoch als seine eigenen Entwürfe aus. Das staunende Lob seiner Umwelt bekräftigt ihn, weiter zu machen. Er beschäftigt sich nun seine ganze freie Zeit damit, entwickelt bald eine gewisse eigene Ausdrucksform und kann sich schließlich von den Vorbildern lösen und mit verschiedenen Stilmitteln experimentieren. Er bekommt ein scharfes Auge für die Einzelheiten und Eigenheiten der Dinge und Personen, die er abbildet. Bald ist er ein beliebter und bösartiger Karikaturist seiner Lehrer. Er arbeitet als Illustrator in der Schülerzeitschrift mit.
In dieser Zeit beschränken sich seine Comic-Versuche allmählich nur noch auf illustrierende Einzelbilder zu Geschichten, die er jedoch nie aufschreibt, sondern wie ein Geizhals seine Schätze für sich behält. Als er merkt, dass er mit seinen sich entwickelnden Fähigkeiten mehr Erfolg erntet als mit seinen Angebereien, macht er den entscheidenden Schritt. Er entschließt sich nun sehr bewusst, Künstler zu sein, stellt sein ganzes Leben auf diese Entscheidung um. Wäre er gefragt worden, warum er male, hätte er gesagt, er fühle sich dazu berufen, die triste, graue Welt mit den bunten Farbflecken seiner Bilder zu verschönern. Das ist ein Anspruch, dem er allerdings nie gerecht wird und seine Bilder voller Blut und Gewalt sprechen auch eine andere Sprache. In Wirklichkeit fühlt er sich auf eine nicht näher beschreibbare Weise dazu gezwungen, zu malen. Er sieht keine bessere Möglichkeit, sich darzustellen und den anderen gegenüber zu formulieren.
Das Malen wird also ein Teil seiner Persönlichkeit, gehört zu ihm wie sein fettleibiger Körper oder die Selbstgeißelungen nach seinen ausufernden Masturbationen. Zu Beginn unterstützen seine Eltern sein, wie sie annehmen, harmloses Hobby. Als er aber zielgerichtet seinen schulischen Werdegang danach ausrichten will und im Sinne seiner Eltern nützliche Schulfächer vernachlässigt, begegnen sie ihm immer häufiger mit Unverständnis und Ablehnung, steigern sich in Verbote und Strafen, die er mit einem Schulterzucken abtut. Sie können ihm nichts antun, was er sich nicht schon einmal selbst auferlegt hat. Es fällt ihm nicht mehr schwer, sich von ihnen abzukapseln, ihnen fremd zu werden.
3. Stirb und werde. Man sieht also: Es waren also psychologische Gründe, aus denen ich zu malen begann. Da war der Wunsch, anerkannt zu werden und dazu zu gehören. Er stand im Vordergrund. Zudem spürte ich, wie mich meine Kunst frei machte, ich während des Malens Probleme vergessen oder Aggressionen – ich mag dieses Wort nicht, aber mir fällt kein besseres ein – loswerden konnte. Ich legte in meine Bilder vieles von meiner Wut und meiner Hilflosigkeit, von meiner unerfüllten Sucht nach Zärtlichkeit und meiner nervösen, überschäumenden Phantasie. Diese Kunst half mir also auch, besser mit den Problemen meiner extremen Pubertät zu leben.
Wenn ich meine damaligen Bilder heute so emotionslos wie mir möglich betrachte, so leiden sie freilich unter einer starken Ich-Bezogenheit und einer geradezu arroganten Überschätzung meiner Möglichkeiten. Sie kleben als seltsame Plagiate an meinen Vorbildern, die jetzt keine Comics mehr, sondern hauptsächlich Romantiker und Impressionisten, Nolde und Corinth, Van Gogh oder Marc kopieren. Durch diese Einengung der Thematiken meiner Bilder auf romatisierende Darstellungen meines noch immer als heldenhaft empfundenen Innenlebens und meine mangelnden handwerklichen Fähigkeiten, die allerdings schon damals weit höher zu bewerten waren als mein Ideenreichtum, konnte nur schlechte “Kunst” entstehen, wenn meine frühen Bilder überhaupt diesen Titel tragen dürfen.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 18)“
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