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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 18)

[Zum ersten Teil]

2. Comicwelten und der wilde, wilde Westen.  Mit Vierzehn wird er genötigt, eine Jahrgangsstufe zu wiederholen, was seiner Meinung von seiner Genialität kaum Ab­bruch und ihm nicht einmal sonderliches Unbehagen bereitet. Im Gegenteil, unter den nun Jüngeren in seiner neuen Klasse strahlt sein Licht noch heller, hat seine Meinung und sein Auftreten endlich das Ge­wicht, das er sich wünscht. Doch leider kann er weder durch sein körperliches Erscheinungsbild – er neigt zur Fettleibig­keit –, noch durch seine wegen der Behütung durch die Eltern noch recht lückenhaften Lebenserfah­rung glänzen. Da er je­doch nicht auf den Mund gefal­len und mit einer über­schäumenden Phantasie be­gabt ist, beschließt er, mehr aus sich zu machen und spinnt ein ungeheuerliches Netz aus Lügen und An­gabe, um sich vor den anderen bedeutender zu machen. Und, so unglaubwürdig es auch klingen mag, das funktioniert. Er lässt sich bewundern. Fast die gesamte Zeit, die ihm zur Verfügung steht, be­schäftigt er sich nun da­mit, dieses Bild von sich auszumalen und sich in den Mittelpunkt einer interessanten Welt zu stellen, die er seinen Schulfreunden so glaubhaft wie ihm mög­lich verkauft. Dass dieses Gewirr von Halbwahrheit­en und unverschämten Lügen nicht zerreißt, liegt in der Hauptsache daran, dass seine Freunde viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und auch nicht immer bei der Wahrheit bleiben.

Er hat ein Idealbild von sich entwickelt, in das er wie in einen viel zu groß geratenen Anzug geschlüpft ist und das seine wahre, allzu kümmerliche Erschei­nung vor seinen Freunden verbergen soll. Dieses Ideal ist eine seltsame Mischung aus zwei sich eigentlich ausschließenden Gruppen von Vorbildern. Zum einen eifert er nämlich den Hauptfigu­ren der schwergewichtigen Literatur nach, die er liest, zum anderen bewun­dert er die Fernseh-, Kino- und vor al­lem die Comic-Superhel­den, die ihr Leben in bunten und au­ßergewöhnlichen Abenteuern bestreiten, ohne auch nur von Fer­ne so etwas wie Selbstzweifel oder Fehlschläge zu kennen. Aus diesen bei­den Typen bastelt er sich sein persönliches Vorbild, eine Art von krankem, selbst­zerstörerischem Held, eine He­mingwaygestalt für den Hausgebrauch. Das gefällt ihm.

Also lebt er in einer Traumwelt: Er gibt sich, so weit ihm das möglich ist, den anderen gegenüber überle­gen, ge­lassen, manchmal abweisend kühl. Dazu erlebt er in seiner Phantasie jene haarsträu­benden Abenteuer, die ihm das Alltagsleben so hartnäckig verweigert. In abgeschwächter, etwas glaubhafterer Form bringt er diese Wunschbilder auch unter seine Freunde und ge­nießt den Neid und die Bewunderung, die ihm entge­gengebracht werden. Doch diese Aspek­te seines Hel­denlebens genügen ihm nicht. Da er selbst mehr, näm­lich ein Füllhorn voller Fehler und Selbstmitleid, Unsi­cherheit und Zweifeln ist, auch seine Angebereien ja letztlich nur den Wunsch darstellen, akzeptiert zu werden, stattet er eben diesen Helden, den er den anderen vorspielt, vorsichtig mit eigenen, tragisch empfundenen Zügen aus. Doch auch an sei­nen Schwächen und seinen Cha­rakterzügen darf nicht wie bei den anderen das Triviale kleben, er muss sie veredeln. Wie man das macht, lernt er bei seinem Abgott Hesse.

Erneut fühlt er sich berufen, zwar nicht mehr von Gott persönlich zum zeitgenössischen Messias, aber von seiner Persönlichkeit zum genia­len Künstler. Das betrachtet er als sein Geburtsrecht. Der Pubertierende beginnt sich wieder für seine Handlun­gen, die er als schlecht empfindet, zu strafen, eine neue Zeit der Selbstgeißelungen beginnt, allerdings in abge­schwächter, will sagen, in verfeiner­ter, dekadent-maso­chistischer Form. Lesen Sie „Tief unten“ von Joris-Karl Huysmans, falls Sie es wirklich genauer wissen wollen.

Freilich hat er kein Damaskus-Erlebnis, nachdem er sich als Künstler fühlt – er weiß auch längst noch nicht, wie er seine Kunst zum Ausdruck bringen, über welches Medium er sie vermitteln will. Wie bei den meisten seiner Ent­scheidungen läuft auch hier viel im Unbewussten ab. Das entwickelt sich sehr langsam, schält sich aus der Zeit. Der Beginn liegt in seinem Versuch begründet, die Abenteuergeschichten, die fast ohne sein Zutun in sei­nem Kopf entstehen, zu fixieren, haltbar zu machen.

Aus welchem Urgrund seines Selbst zuerst der Wunsch an die Oberfläche taucht, sich als Künstler zu artikulieren, weiß ich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, bin aber zu keiner befriedigenden Lösung gekommen. Hier ist einer der Punkte, an denen meine Selbstdia­gnose scheitert, fehlschlagen muss. Je­denfalls versucht der Teenager zuerst, seine Geschich­ten und Gedanken aufzuschreiben. Doch etwas in ihm widersetzt sich dieser Form, zu der ihm damals auch die grundle­genden Aus­drucksmöglichkeiten fehlen. Das Schreiben erscheint ihm ins­gesamt als zu langatmig und zu entfremdet vom schöpferischen Akt. Also entschließt er sich für einen Zwitter und er beginnt, Comics zu entwerfen. Seine ersten Versuche, die nie über wenige Seiten hin­ausgelangen, befriedigen ihn wegen der Bildquali­tät nicht und er beginnt zur Übung, seine Vorbilder abzu­zeichnen, gibt diese Kopien jedoch als seine eige­nen Entwürfe aus. Das staunende Lob seiner Umwelt bekräftigt ihn, weiter zu machen. Er beschäftigt sich nun seine ganze freie Zeit damit, entwickelt bald eine gewis­se eigene Ausdrucksform und kann sich schließ­lich von den Vorbildern lösen und mit verschiedenen Stilmitteln experimentieren. Er bekommt ein schar­fes Auge für die Ein­zelheiten und Eigenheiten der Dinge und Personen, die er abbildet. Bald ist er ein belieb­ter und bösartiger Kari­katurist seiner Lehrer. Er ar­beitet als Illustrator in der Schülerzeitschrift mit.

In dieser Zeit beschränken sich seine Comic-Versu­che allmählich nur noch auf illustrierende Einzelbilder zu Ge­schichten, die er jedoch nie aufschreibt, sondern wie ein Geizhals seine Schätze für sich behält. Als er merkt, dass er mit seinen sich entwickelnden Fähig­keiten mehr Erfolg erntet als mit seinen Angeberei­en, macht er den entscheidenden Schritt. Er ent­schließt sich nun sehr be­wusst, Künstler zu sein, stellt sein ganzes Leben auf die­se Entscheidung um. Wäre er gefragt worden, warum er male, hätte er ge­sagt, er fühle sich dazu berufen, die triste, graue Welt mit den bunten Farbflecken seiner Bilder zu verschönern. Das ist ein Anspruch, dem er al­lerdings nie gerecht wird und seine Bilder voller Blut und Gewalt sprechen auch eine andere Sprache. In Wirklichkeit fühlt er sich auf eine nicht näher beschreibbare Weise dazu gezwun­gen, zu malen. Er sieht keine bessere Möglichkeit, sich dar­zustellen und den anderen gegenüber zu formulie­ren.

Das Malen wird also ein Teil seiner Persönlichkeit, ge­hört zu ihm wie sein fettleibiger Körper oder die Selbstgeißelungen nach seinen ausufernden Masturbationen. Zu Beginn unterstützen seine El­tern sein, wie sie annehmen, harmloses Hobby. Als er aber zielgerichtet seinen schulischen Werdegang da­nach aus­richten will und im Sinne seiner Eltern nützliche Schulfächer vernachlässigt, begegnen sie ihm immer häufiger mit Unverständnis und Ableh­nung, steigern sich in Verbote und Strafen, die er mit einem Schulter­zucken abtut. Sie können ihm nichts antun, was er sich nicht schon einmal selbst auferlegt hat. Es fällt ihm nicht mehr schwer, sich von ihnen abzukapseln, ihnen fremd zu werden.

3. Stirb und werde. Man sieht also: Es waren also psychologische Grün­de, aus denen ich zu malen begann. Da war der Wunsch, anerkannt zu werden und dazu zu gehören. Er stand im Vordergrund. Zudem spürte ich, wie mich meine Kunst frei machte, ich während des Malens Pro­bleme vergessen oder Aggressionen – ich mag die­ses Wort nicht, aber mir fällt kein besseres ein – los­werden konnte. Ich legte in meine Bilder vieles von meiner Wut und meiner Hilflosigkeit, von meiner un­erfüllten Sucht nach Zärtlichkeit und meiner nervö­sen, überschäumen­den Phantasie. Diese Kunst half mir also auch, besser mit den Problemen meiner extremen Pubertät zu leben.

Wenn ich meine damaligen Bilder heute so emoti­onslos wie mir möglich betrachte, so leiden sie freilich unter ei­ner starken Ich-Bezogenheit und einer gera­dezu arro­ganten Überschätzung meiner Möglichkei­ten. Sie kleben als seltsame Plagiate an meinen Vor­bildern, die jetzt kei­ne Comics mehr, sondern haupt­sächlich Romantiker und Impressionisten, Nolde und Corinth, Van Gogh oder Marc kopieren. Durch diese Einengung der The­matiken meiner Bilder auf romati­sierende Darstellun­gen meines noch immer als hel­denhaft empfundenen Innenlebens und meine man­gelnden handwerklichen Fähigkeiten, die allerdings schon damals weit höher zu bewerten waren als mein Ideenreichtum, konnte nur schlechte “Kunst” entste­hen, wenn meine frühen Bilder überhaupt diesen Ti­tel tragen dürfen.

[Zum 19. Teil …]

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