Zweite Einleitung Der Wunsch, Erfahrenes und Erlebtes zu bewahren, es einem haltbareren und zuverlässigeren Medium als dem Gedächtnis und der mündlichen Überlieferung zu überlassen, es einer eigenwilligen, schöpferischen Umwandlung zu unterwerfen, scheint mir ein Grundbedürfnis zu sein, das sich trivial etwa durch Fotografieren bei Familienfeiern, durch Poesiealben und Reisesouvenirs manifestiert. So wird ein beliebiger Gegenstand, oft auch ein Gemeinplatz, zum Fetisch, einem Götzen für die alltägliche Anbetung. Auch das Führen eines Tagebuchs hat wohl hauptsächlich diesen Zweck. Darüber hinaus ist es eine Art von Selbstbetrachtung, Besinnung, Orientierung und – in einigen Fällen – der etwas unbeholfene Versuch, die eigene Einsamkeit zu überwinden, der Wunsch, sich selbst zu heilen, der eigene Psychiater zu sein. Dies zwingt uns mehr unbewusst als mit Willen, Vergangenes auf diese Weise für das Morgen zu konservieren.
Viele werdende Künstler beginnen sich deshalb in ihrer Pubertät mehr oder weniger dilettantisch mit einer Kunst auszudrücken, die stark Ich-bezogen und die etwas entfremdete, allegorisierte Form eines Tagebuchs ist; gleichgültig, ob es sich nun um Gedichte oder Bilder oder Musik oder um die Gestaltung einer Zimmerecke handelt. Gleichzeitig, und das unterscheidet diese Kunstversuche wesentlich von einem abgeschlossenen und in der untersten Schublade des Schreibtisches versteckten Tagebuchheft, benötigen sie Publikum, sind sie eine Hinwendung. Sie sind gezielt als eine Art Notsignal an Dritte gerichte , als der hilflose Versuch, die eigene Einsamkeit und Verlorenheit in den gewaltigen Gefühlsschwankungen der Pubertät zu überwinden, Kontakt zu anderen, zu Leidensgefährten, vor allem aber auch zum sexuell bevorzugten Geschlecht zu finden.
Da einem die eigene Person, die ja höchstens larvenhaft existiert, dazu nicht als das geeignete Medium erscheint, wählt man diesen doch auch pathologischen Umweg über die Kunst, hinter der man sich verstecken und gleichzeitig schüchtern offenbaren und sicher sein kann, dass man nur das Beste von sich zeigt.
Ich werde im Folgenden versuchen, diesen Sachverhalt und warum er letztlich scheitern muss, am Beispiel meiner eigenen Person zu erläutern. Das ist nicht einfach, da es mir scheint, dass es, je näher man eine Person kennt, schwieriger wird, Endgültiges über sie zu sagen. Deshalb muss es mir zwangsläufig bei mir selbst am Schwersten fallen, meine Beweggründe in der gebotenen Kürze darzustellen, ohne allzu sehr zu vereinfachen und damit zu lügen. Da ich nun allerdings über mich als einen etwa Zwölf- bis Zwanzigjährigen schreiben will, also über ein Ich, das von meinem heutigen in einiger Distanz in sich abgeschlossen und beendet liegt, hoffe ich dennoch, mir wird in aller gebotener Kürze, die ein Artikel für ein Journal einfordert, ein schlüssiges Bild dieses Ichs gelingen.
Portrait eines Pubertierenden
1. Gott und die Welt Meine äußere Situation kann sich kaum günstiger gedacht werden: Meine Eltern sind begütert und intelligent genug, alle Veranlagungen und Fähigkeiten ihres einzigen Kindes im Rahmen ihrer doch beträchtlichen Möglichkeiten und Kontakte zu fördern. Die Behütung und Führung ist nahezu perfekt, wenn auch von einer gewissen Weltferne und der rosa Brille einer Achtundsechziger-Mentalität geprägt. Vieles ist seit Jahren vorbereitet, die Wahl der Erziehungs- und Internatsanstalten geschieht nicht nur unter dem Gesichtspunkt der optimalen Ausbildung, sondern stellt auch den Versuch dar, alle als negativ beurteilten Einflüsse zu verhindern. Damit das Kind aus diesem sprichwörtlichen goldenen Käfig nicht ausbrechen oder gar nur aus ihm heraussehen kann, wird ein ausgeklügelter Zeitplan entworfen, der es den ganzen Tag beschäftigt und auch in den Ferien nicht zur Ruhe kommen lässt. Die freie Zeit wird vollständig von den Eltern oder Erziehern verplant.
Das Kind selbst ist zumindest in den ersten Jahren fügsam, lernbegierig und mit seiner privilegierten Rolle, die es natürlich altklug gemacht hat, einverstanden. Es sonnt sich geradezu in seiner Wichtigkeit und dem Aufwand, der um es herum getrieben wird. Schon früh entwickelt sich in dem Knaben der Glaube, er sei bedeutender als seine Altersgenossen und auf der Welt, um Großes in ihr zu beginnen. Obwohl er mit sich selbst nur wenig anzufangen weiß, empfindet er anfangs – so weit ich das beurteilen kann – keine Einsamkeit. Man lässt ihn nur selten allein und seinen Spielkameraden, die selbstverständlich von den Eltern ausgesucht sind, ist er Führer und Diktator. Er nutzt diese Rolle häufig für kleinere Grausamkeiten gegen seine Spielgefährten.
Der am Schwierigsten zu erklärende Teil seiner Psyche ist seine wachsende, exzessive Religiosität, die fatal einem Messiaswahn zu ähneln beginnt. Da seine Eltern alles andere als religiös sind, ist diese Prägung wahrscheinlich den kirchlichen Internatsschulen, die er besucht hat, zu verdanken. Selbstverständlich hat er für seine eigene Religion nur die autoritären und faschistischen Züge des Katholizismus übernommen, ansonsten ist er wie alle Kinder in seinem Alter der perfekte Pantheist. Um für meine Zwecke ein Diktum Dostojewskijs leicht abzuwandeln: Religion ohne Gott das Schlimmste, sie kann sich bis zur größten Unsittlichkeit verirren.
Der Knabe entwickelt die Auffassung, dass Gott wegen der Bedeutung, die Er ihm verliehen hat, Bußen von ihm verlangt. Diese nimmt er heimlich auf sich und sie haben viel mit den Selbstgeißelungen mittelalterlicher Mystiker gemein. Sie sind ihm seine heimliche, uneingestandene Droge: Sie erzeugen Rauschzustände und machen ihn süchtig. Er steckt etwa seinen Kopf so lange in ein mit Wasser gefülltes Waschbecken, bis er ohnmächtig wird und beinahe erstickt, er fastet tagelang, indem er hinter dem Rücken der Eltern oder Erzieher sein gerade eingenommenes Essen wieder erbricht. Er brennt Warzen an seinen Fingern mit einer Kerzenflamme aus oder setzt mit einer entwendeten Rasierklinge des Vaters auf die Unterseite seiner Schenkel blutige Schnitte.. Gleichzeitig betet er den ganzen Tag, lange Stücke der Psalmen oder des Katechismus auswendig hersagend. Während seines zwölften und seines dreizehnten Lebensjahres ist sein einziger freiwilliger Lesestoff die Bibel, vorzüglich ihm dunkle Texte wie Hiob, Jesaia, Prediger oder Apokalypse – im Nachhinein kann ich von Glück für meine heutige geistige Gesundheit reden, dass die Eltern keine Ausgabe der gnostischen Apokryphen besaßen. Bei seinen Lektüren gerät der Knabe regelmäßig in einen Zustand rauschhafter geistiger und körperlicher Verzückung und bevor das andere Geschlecht in den Mittelpunkt seines sexuellen Interesses gerät, hat er seine Ergüsse zu den Texten und den Abbildungen der Bibelausgabe seiner Eltern, vorzüglich zu der Kopie von Mantegnas dramatischer Beweinung des toten Christus.
Die psychologischen Gründe für sein Verhalten sind vielschichtig und hier in ihrer Komplexität unmöglich darzulegen, ohne den Rahmen des Aufsatzes zu sprengen. Wichtig sind zusammengefasst zum einen Erlebnisse aus der frühesten Kindheit, dann seine fast krankhafte, sicherlich neurotische Übersensibilität für Vorgänge und hysterische Gefühlsschwankungen, beide lassen sich ebenfalls auf das Kind zurückführen, das er war.
Religionsbedingt hält er seine Masturbationen lange für widernatürlich und sündhaft. Er ist überzeugt, er wäre in seiner Umgebung der einzige junge Mensch mit diesem bösen Laster; bis ihn dann Gespräche unter den Mitschülern vom Gegenteil überzeugen. Dennoch glaubt er weiterhin, dass er, der von Gott Bevorzugte, der sich manchmal ernsthaft fragt, ob er nicht der neue Christus sei, diese schlechte Angewohnheit ablegen müsse, um wirklich rein zu werden und Wunder vollbringen zu können. Seine schulischen Leistungen lassen unter diesem sich selbst gestellten Druck nach, da das Zentrum seines Lebens nur noch seine schamvolle nächtliche Gewohnheit und seine seltsamen Bußen für sie sind.
Dann entdeckt er im wohlsortierten, aber ihm verbotenen Bücherschrank seines Vaters ein dickes, zweibändiges Werk, dessen schweinslederner Rücken den Titel Schuld und Sühne trägt und ihm damit genau auf seine eigene Situation hinzuweisen scheint. Und der Roman ist ihm tatsächlich eine Art von Offenbarung. Obwohl er ihn in kürzester Zeit liest – wie so vieles, tut er das heimlich –, ficht er einen Kampf mit dem Buch: Seine Identifikation mit Raskolnikoff, diesem hervorgehobenen Einzelmenschen und Nietzscheaner, der sich so besonders wähnt, dass er über den Tod und das Leben anderer Menschen entscheidet, tatsächlich aber der Verantwortung für seine Taten nicht entfliehen kann, diese Identifikation ist restlos. Gemeinsam mit der Romanfigur wird er krank und durch ein nervöses Fieber, zu dem sich dann eitrige Angina gesellt, mehrere Wochen ans Bett gefesselt.
In dieser Zeit nimmt seine Liebe zur Literatur ihren Anfang, eine Liebe, deren Inhalte sich zwar ändern werden, nicht aber ihre Bedeutung für sein Leben. In der ersten Zeit versucht er, das Offenbarungserlebnis zu wiederholen, doch außer dem Beginn der Brüder Karamasoff langweilen ihn die anderen Werke Dostojewskijs, die er sich besorgen kann. Er kommt nie über die ersten hundert Seiten hinaus. Dann liest er auf Anraten eines Schulkameraden etwas seinem Alter entsprechenderes, nämlich Siddartha und gleich darauf den Steppenwolf von Hesse, und dieser Autor gibt ihm für lange Zeit genau das, was er will: Reisen in den inneren, zerrissenen Kosmos voll von überschwänglichen Gefühlen und Selbstmitleid; Seelenreisen, die diesen mittelmäßigen und indophilen Mystiker und hundertfünfzig Jahre zu spät geborenen Romantikers für Jugendliche so interessant machen und der deshalb von jeder Generation aufs Neue entdeckt wird. Bei dieser Lektüre spürt er zum ersten Mal, er könnte den Charakter eines Künstlers haben. Außer dem megalomanen und erzlangweiligen Glasperlenspiel liest er auch die anderen Werke Hesses.
Weiter sind es hauptsächlich E. A. Poe, André Gide und, sehr heimlich, Henry Miller, die nun seine Weltsicht bestimmen. Seine wütende Religiosität verschwindet schlagartig, ebenso für eine Weile seine körperlichen Bußen; er hat sich zwar noch lange nicht mit seinem schuld- und fehlerbeladenen Ich versöhnt und ist noch immer voller Selbstvorwürfe, aber er benötigt jetzt nicht mehr die verwaschenen Konstruktionen Gott und Religion, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 17)“
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