Die kritischen Blicke von Nix, die ich bohrend in meinem Rücken fühlte, halfen mir auch nicht eben, weiterzukommen. Auf der anderen Seite konnte ich ihn schlecht verscheuchen. Denn ich nahm an, sein Besuch bei mir stellte doch wahrscheinlich ein Friedensangebot dar. Da ich keinen Streit mehr mit ihm wollte, war ich gerne bereit, es anzunehmen. Ich wartete auf ein einleitendes, vielleicht entschuldigendes Wort von ihm. Doch seit seiner etwas spät gekommenen Frage, ob er denn störe, blieb er stumm. Nach einer Weile empfand ich dieses Schweigen wie eine Mauer zwischen uns. Es war ein Zustand, der mich immer unruhiger machte.
Schließlich legte ich die Kreide beiseite, klopfte meine Hände aus und wandte mich zu ihm, fragte ihn, was ich für ihn tun könne. Er betrachtete mich nachdenklich, während er mit einem schmalen Metallblättchen zwischen seinen Fingern spielte, das ich auf den dritten Blick als eine Rasierklinge erkannte. Hatte er sie vom Tisch aufgehoben, auf dem einige spitze Gegenstände lagen, mit denen einer meiner Kollegen seine informellen Leinwände malträtierte? Oder hatte er sie etwa mitgebracht?
»Ich wünsche, ich könnte so unbedarft malen wie du«, stellte Nix schließlich nach einer endlosen Pause fest, in der er mich sehr abschätzend beobachtet hatte. »Einfach frei von der Leber weg, ohne Ideologie, aus dem Bauch heraus. Kennst du Rainald Goetz?«, fragte er zusammenhanglos. Ich schüttelte den Kopf. Er hob die Rasierklinge, die er jetzt zwischen Daumen und Mittelfinger hielt und leicht in der Mitte durchdrückte.
»Das ist ein Schriftsteller. Inzwischen gut situiert und langweilig. Dem Rave verfallen. Aber früher, da war er noch jung und zornig. Er hat sich mal während einer Lesung aus seinen Texten mit so etwas die Stirn aufgeschnitten.« Er seufzte. »Alle guten Ideen waren schon einmal da, nicht wahr?«
Bedächtig hob er die Rasierklinge an seine Stirn. Ich öffnete erschrocken den Mund, aber er winkte sofort ab und ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Das war bei den Ausscheidungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, wird fünfzehn Jahre her sein. Jeder liest da sein unbedarftes Geschichtchen vor und wird anschließend von der Jury mit Genuss verrissen. Sogar das Fernsehen ist dabei. Was für eine herrliche Publicity! Goetz hat laut und langsam gelesen und dabei seine Hand mit der Klinge über die Stirn bewegt; das Blut rann ihm über das Gesicht, das Kinn hinunter, tropfte auf den kleinen Tisch, hinter dem er saß. Du musst dir das vorstellen: Links und rechts war die Jury, darunter auch Marcel Reich-Ranicki, viel Publikum im Saal und keiner unterbrach ihn bei seiner Tat, alle lauschten sie konzentriert auf seinen Text, in dem er erläuterte, warum er das tat. Das war eine perfekte und geistreiche Handlung von ihm und ich liebe Goetz dafür. Ich habe keine Ahnung, wie man das noch verbessern könnte.« Er lachte und steckte zu meiner Erleichterung die Rasierklinge in eine Tasche seines Jacketts.
»Hat er denn den Preis gewonnen?«, fragte ich.
»Selbstverständlich nicht, was denkst denn du?« Eine weitere Pause entstand.
»Warum hast du mir das erzählt?«
»Ich weiß nicht genau, ich habe eben daran denken müssen,« antwortete er. »Ich bin eigentlich zu dir gekommen, um dir etwas zum Lesen zu geben. Hast du jetzt Zeit und Lust darauf?«
Ich sah erstaunt auf die Blätter, die er wieder in die Hand nahm und mir reichte. Dabei entdeckte er die Farbe an seinem Ärmel, aber sie schien ihm nichts weiter auszumachen. Es waren vier oder fünf Seiten, eng mit der Hand beschrieben. Ich nahm sie sehr skeptisch entgegen.
»Ich weiß nicht recht …«, zögerte ich. »Was ist das denn? Bist du jetzt auch unter die Schriftsteller gegangen?«
Nix schüttelte ernst den Kopf. »Das ist ein Entwurf für einen Aufsatz über meine Kunst, zumindest ein wichtiger Teil davon. Ein Münchner Stadtmagazin hat mich darum gebeten. Ich habe ihn fast fertig, aber ich weiß nicht, ob er etwas taugt. Es war das erste Mal, dass ich mich an so etwas gewagt habe. Deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du es liest.«
»Warum ausgerechnet ich? Hatten wir nicht schon genug Ärger?«, fragte ich, obwohl ich sofort Interesse an seinem Text hatte.
»Das ist genau der Grund. Du bist mein härtester Kritiker. Ich denke, dein Artikel war auf irgendeine Weise … Wenn ich ausgeglichener wäre, müsste ich zugeben …« Er zögerte. »Egal, da wir also keine Sympathie, aber doch, wie ich denke, einigen Respekt voreinander haben, glaube ich, du könntest den Aufsatz ehrlich und ohne falsche Rücksicht begutachten.«
Seine Meinung schmeichelte mir. Trotzdem fühlte ich mich unbehaglich.
»Du weißt, ich arbeite nicht mehr als Journalist und du bist daran nicht schuldlos. Glaubst du wirklich, ich könnte bei dir objektiv sein?«
»Das ist eh nur ein Märchen mit der Objektivität. Wenn ich das Wort schon höre! Objektivität. Es ist ein Lieblingsausdruck meines Onkels. Objektivität gibt es genauso wenig wie Toleranz. Das sind Schlaftabletten wie die Religion. Die haben Herrscher erfunden, damit ihnen das Volk nicht so leicht auf die Schliche kommt. Lies jetzt!«, forderte er mich unwillig auf. Gehorsam setzte ich mich auf den wackligen Tisch und begann zu lesen.
Obgleich der Text von Nix nie erschienen ist, habe ich an dieser Stelle durch die Hilfe von Theresa die Möglichkeit, jenen Aufsatz, den er mir zu lesen gab, folgen zu lassen – zumindest den Teil, der sich auffinden ließ. Leider fehlt der Schluss, den ich aus dem Gedächtnis rekonstruieren werde. Das ist jetzt nicht gerade literarisch, aber ich unterbreche an dieser Stelle den Fluss meiner Erzählung, weil ich glaube, dass der Text wie kein anderes Dokument dazu geeignet ist, ein Bild seiner schwierigen Persönlichkeit zu geben und warum er so wurde, wie er war.
Jonas kommt hier einmal selbst zu Wort.
*
WAS ICH WILL. WAS IHR WOLLT.
Aufsatz zur Kunst
Da alle meine Leidenschaften, alle meine Gläubigkeit
mich betrogen haben, da alle meine Träume zerstieben,
muss ich mir meine Leidenschaften selbst erschaffen
und ich habe die Kunst gewählt.
Honoré Balzac
Erste Einleitung Es mangelt mir an philosophischer und psychologischer Schulung außer der, die ich durch meine Sinnesorgane in meinem täglichen Leben aufnehme. Ich verstehe mich als bildender Künstler und nicht als bedeutender Denker. Ohne Zweifel sind meine sprachlichen Fähigkeiten, in erster Linie ein hier vielleicht notwendiger wissenschaftlicher Wortschatz, die ein Aufsatz wie dieser wahrscheinlich benötigt, begrenzt. Zudem ist es nicht allzu gut um die Schärfe und Tiefe meiner Gedanken bestellt, da ich weder bemerkenswert intelligent, noch allzu fleißig bin. Insofern stellt sich freilich die Frage nach dem Sinn dieses Aufsatzes, der, mit einer Ausnahme, nichts Neues und das nicht einmal besonders originell zu berichten weiß. Sofern die in Aussicht gestellte gute Bezahlung nicht schon Grund genug ist, ihn trotzdem zu schreiben (non olet!), dann ist es jene erwähnte Ausnahme, nämlich die, dass ich aufgefordert wurde, von mir und meiner Kunstauffassung zu schreiben. Das ist mir wichtig und hilft mir nicht zuletzt selbst, eine klare Antwort zu finden. Adorno, glaube ich, hat gesagt, nur ein Kunstwerk, das eine eigene Theorie besäße, sei im Wortsinn auch eines.
Doch ich denke, dies war für den Anfang genug an gut sozialistischer Selbsterkenntnis … und, selbstverständlich, auch selbstverliebter Koketterie.
Zweite Einleitung Der Wunsch, Erfahrenes und Erlebtes zu bewahren, es einem haltbareren und zuverlässigeren Medium als dem Gedächtnis und der mündlichen Überlieferung zu überlassen, es einer eigenwilligen, schöpferischen Umwandlung zu unterwerfen, scheint mir ein Grundbedürfnis zu sein, das sich trivial etwa durch Fotografieren bei Familienfeiern, durch Poesiealben und Reisesouvenirs manifestiert. So wird ein beliebiger Gegenstand, oft auch ein Gemeinplatz, zum Fetisch, einem Götzen für die alltägliche Anbetung. Auch das Führen eines Tagebuchs hat wohl hauptsächlich diesen Zweck. Darüber hinaus ist es eine Art von Selbstbetrachtung, Besinnung, Orientierung und – in einigen Fällen – der etwas unbeholfene Versuch, die eigene Einsamkeit zu überwinden, der Wunsch, sich selbst zu heilen, der eigene Psychiater zu sein. Dies zwingt uns mehr unbewusst als mit Willen, Vergangenes auf diese Weise für das Morgen zu konservieren.
Viele werdende Künstler beginnen sich deshalb in ihrer Pubertät mehr oder weniger dilettantisch mit einer Kunst auszudrücken, die stark Ich-bezogen und die etwas entfremdete, allegorisierte Form eines Tagebuchs ist; gleichgültig, ob es sich nun um Gedichte oder Bilder oder Musik oder um die Gestaltung einer Zimmerecke handelt. Gleichzeitig, und das unterscheidet diese Kunstversuche wesentlich von einem abgeschlossenen und in der untersten Schublade des Schreibtisches versteckten Tagebuchheft, benötigen sie Publikum, sind sie eine Hinwendung. Sie sind gezielt an Dritte gerichtet als eine Art Notsignal, als der hilflose Versuch, die eigene Einsamkeit und Verlorenheit in den gewaltigen Gefühlsschwankungen der Pubertät zu überwinden, Kontakt zu anderen, zu Leidensgefährten, vor allem aber auch zum sexuell bevorzugten Geschlecht zu finden.
Da einem die eigene Person, die ja höchstens larvenhaft existiert, dazu nicht als das geeignete Medium erscheint, wählt man diesen doch auch pathologischen Umweg über die Kunst, hinter der man sich verstecken und gleichzeitig schüchtern offenbaren und doch sicher sein kann, dass man nur das Beste von sich zeigt.
Ich werde im Folgenden versuchen, diesen Sachverhalt und warum er letztlich scheitern muss, am Beispiel meiner eigenen Person zu erläutern. Das ist nicht einfach, da es mir scheint, dass es, je näher man eine Person kennt, schwieriger wird, Endgültiges über sie zu sagen. Deshalb muss es mir zwangsläufig bei mir selbst am Schwersten fallen, meine Beweggründe in der gebotenen Kürze darzustellen, ohne allzu sehr zu vereinfachen und damit zu lügen. Da ich nun allerdings über mich als einen etwa Zwölf- bis Zwanzigjährigen schreiben will, also über ein Ich, das von meinem heutigen in einiger Distanz in sich abgeschlossen und beendet liegt, hoffe ich dennoch, dass mir ein schlüssiges Bild dieses Ichs gelingen mag.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 16)“
[…] [Zum Teil 16 …] […]