Dem Stadtrat war eine brillante Idee gekommen, wie er möglichst billig mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen und zugleich etwas für sein stark angekratztes Image als Förderer der schönen Künste tun konnte: Ein abbruchreifes und verwahrlostes altes Gebäude, in dem sich bis Mitte der Achtziger Jahre das Finanzamt befunden hatte, das jedoch eine geschmacklos neogotische Fassade besaß und deshalb unter Denkmalschutz stand, war den Damen und Herren schon lange ein Dorn im Auge. Zumal es in einem sanierungsbedürftigen Stadtteil lag. Ein Abriss kam ja nicht in Frage und natürlich gab es keine Gelder, mit denen man das marode Bauwerk restaurieren oder auch nur in einem erträglichen Zustand erhalten konnte.
Bald hatten ein paar tüchtige “Instandbesetzer”, wie sich die Autonomen damals noch rührend naiv nannten, jenes leerstehende Objekt entdeckt, waren dort mit Kind und Kegel eingezogen und brachten es durch ihre Aktionen bayernweit für ein paar Wochen ins Gespräch und in die Tagespolitik. Mit enormem Polizeiaufwand wurden diese Linken zwar durch eine Zwangsräumung vorerst aus dem Gebäude und das Problem aus der Welt geschafft, die Stadträte sahen sich aber gezwungen, nun doch etwas gegen eine Wiederholung dieser ruchlosen Tat zu unternehmen. Dies geschah in einer für ihre Verhältnisse ungewohnten Eile. Bereits nach vier Jahren intensiven Nachdenkens in einem extra dafür gegründeten städtischen Ausschuss wurde eine ebenso einfache wie geniale Lösung geboren:
Aus dem heruntergekommenen Gebäude, das einen ziemlich schlechten Ruf besaß, wurde als haltbare und noch heute andauernde Zwischenlösung das KunstWerk. Mit dieser simplen Titelvergabe glaubte man den legendären Phönix aus der Asche geschaffen zu haben. Im Erdgeschoss zog eine freie Theaterbühne ein, in den ersten Stock eine Drogenberatungsstelle und eine Abteilung der Fachhochschule. Die kleinen Zimmerchen in der zweiten Etage wurden gegen ein geringes Entgelt als Ateliers zur Verfügung gestellt. Das dritte Stockwerk wie auch der Dachboden, in dem noch eine Anzahl Finanzakten lagerten, waren wegen der Einsturzgefahr nicht mehr begehbar.
Auf diese Weise war die Angelegenheit zu aller Zufriedenheit gelöst. Diese Zwischenlösung würde so lange funktionieren, bis eines nicht mehr allzu fernen Tages das KunstWerk über den Köpfen der Leute zusammenbrechen würde. Auch ich teilte mir eines der engen Zimmer im zweiten Stock mit zwei meiner Kollegen als Atelier und schickte immer, wenn ich dort malte, zuerst ein Stoßgebet zur trügerischen Decke, von der jedes Mal, wenn jemand den Fahrstuhl benutzte, ein wenig Staub und Verputz herabbröckelten und ein langsam länger werdender Riss malerisch die Wand an der Fensterseite krakeelte.
Einige Wochen waren seit dem für mich so peinlichen Fest bei Sontheimer vergangen und in meinem Leben war längst wieder der Alltag eingekehrt. Meine Freundin Christine war aus Regensburg heimgekommen, die Lackfarbe und der Ausschlag in meinem Gesicht nur mehr eine böse Erinnerung und die Ausstellung von Nix vorbei und damit aus dem Gespräch verschwunden. Gut, man redete noch über ihn, aber er war nicht mehr die Sensation, die die Gemüter bewegte. Es waren, wie in dieser Stadt normal, schnell eine Gewöhnung und gähnende Langeweile eingetreten. Ich hatte zwar gehört, dass es längst auch in München als chic galt, sich einen echten Nix über das Bett zu hängen und er sich vor Anfragen von Großstadt-Galerien kaum retten konnte; aber ich war fest entschlossen, mich deswegen nicht mehr aufzuregen und dadurch ein Magengeschwür zu riskieren. Das alles würde ich aussitzen. Ich nahm Nix‘ Erfolg als eine vorübergehende Geschmacksverwirrung; eine Übergangsphase, bis irgendwann mein Tag kommen und die wahre Kunst respektiert würde. Was konnte mir der Aufstieg dieses Malers jetzt auch bedeuten, nachdem ich nicht mehr journalistisch arbeitete? Es war in der Tat besser, wenn ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmerte und an meinem Œuvre schuf.
Ich hatte durch die Auseinandersetzung mit Nix etwas gelernt. Nämlich, dass ich meine Kunst in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt und nur noch hübsche, aber beliebige und bunte Bilder ohne Aussage oder Geschmack geschaffen hatte. Ich war nun fest entschlossen, das zu ändern und verbrachte jede freie Minute im Atelier. Gleichzeitig war ich freilich in arger Geldverlegenheit. Ich hielt mich neben meiner Kneipenarbeit mit Gelegenheits- und Hilfsarbeiterjobs vom Arbeitsamt über Wasser, die an meinen Nerven und Kräften zehrten. Es war an der Zeit, mir für für meine Zukunft etwas Solides zu überlegen und mir eine Karriere auf die Beine zu stellen. Zurück zur Post gehen und Briefe zustellen wie im Vorjahr wollte ich auf keinen Fall. Lange würde es sich Christine nicht mehr gefallen lassen, dass sie den Großteil der gemeinsamen Haushaltungskosten und übrigens auch der Hausarbeit bestritt. Zusammengefasst tat sich also etwas bei mir und daran war nicht zuletzt Nix schuld. Ich war mir dessen auch durchaus dankbar bewusst.
Ich weiß nicht, ob Nix zufällig im KunstWerk zu tun hatte und sich spontan zu einem Besuch entschloss, als er meinen Namen neben zwei anderen an eine der Türen gepinselt sah. Vielleicht hatte er mich auch gezielt gesucht. Er kam auf jeden Fall eines Tages vollkommen überraschend zu meiner Ateliertür hereingeschneit und setzte sich, nachdem er ein paar alte Zeitschriften zur Seite geschoben hatte, lässig auf den einzigen Stuhl. Er benahm sich so selbstverständlich, als würde er das jeden Tag machen. Dann kramte er aus seiner Jackentasche ein paar beschriebene Blätter heraus, die er umständlich neben sich auf die Armlehne legte. Er tat die alles in einer ausgeglichenen und ruhigen Stimmung, als wäre er ein guter Freund und sein Besuch eine Normalität.
»Störe ich?«, fragte er und sah sich, als ich abwartend mit den Schultern zuckte, ruhig und interessiert in dem kleinen Raum, der einmal das Amtszimmer eines Rechnungsprüfers gewesen war, um. Es war völlig anders als das seine: Obwohl ich mich in einem beständigen Kampf gegen den sich aufhäufenden Dreck in diesem Augiasstall befand, herrschte immer eine chaotische Unordnung, zu der meine beiden nachlässigen malenden Kollegen und die Enge der von uns euphemistisch zum „Atelier“ ernannten Abstellkammer beitrugen. Dabei hatten wir noch Glück, denn das Zimmer war eines der wenigen, das mit einem Waschbecken ausgerüstet war. Niemand, der den Raum betrat, verließ ihn ohne Flecken von Ölfarbe an Kleidung oder Haut. Auch Nix lehnte in diesem Moment – natürlich ohne sich dessen bewusst zu sein – halb mit dem Arm in einer noch feuchten Palette.
Sein Blick war längst an einer Reihe von kolorierten Linoldrucken hängengeblieben, die er mit leicht geschürzten Lippen und zusammengekniffenen Augen begutachtete. Es waren neue Arbeiten von mir, die ich zum Trocknen an die Wand geheftet hatte. Sie waren ein Auftrag von einem hiesigen kleinen Verlag; es sollten Illustrationen zu einer Erzählung von Nikolaus Klammer werden, die dort im Sommer veröffentlicht werden sollte. Ich hatte diese kaum bezahlte Arbeit durch die Vermittlung des seltsamen Autors erhalten, den scheinbar so etwas Ähnliches wie sein Gewissen plagte. Vielleicht hatte er auch nur Mitleid. Ich war mit meinen Ergebnissen im Großen und Ganzen durchaus zufrieden. Ich fand, die Drucke passten exakt zu dem lapidaren Text, den sie bildhaft machten. Obwohl Nix seine Meinung für sich behielt, war es seiner Miene deutlich anzumerken, dass er zu einer anderen Meinung kam und ihm meine Linolschnitte nicht gefielen. Aber alles andere wäre auch eine Überraschung gewesen.
Da er keine Anstalten machte, das Gespräch zu beginnen, mühte ich mich in eine gleichgültige Haltung und widmete mich wieder meinem Kreideentwurf für ein abstraktes Gemälde. Das war ein Versuch, der leider viel zu sehr nach Kandinski aussah. (Ich hatte gerade von diesem Maler sein theoretisches Werk Punkt und Linie zu Fläche gelesen.) Zudem verursachte jede Veränderung, die ich probeweise vornahm, ein schmerzliches Ungleichgewicht in den Elementen der Komposition. Ich steckte fest.
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 15)“
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