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Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 14)

[Zum ersten Teil]

Nix‘ Freundin setzte zweimal an, bis sie heiser und sehr leise antwortete. Sie musste sich wieder­holen, bis ich sie verstand:

»Warum hasst du Jürgen so? Was hat er dir denn ge­tan?«

Jetzt platzte mir endgültig der Kragen.

»Dir geht es wohl zu gut! Hast du mich deswegen geschlagen? Wegen meines saublöden Artikels? Ich fasse es nicht!«

»Hast du das etwa nicht verdient? Tut es dir wenigstens ordentlich weh?«, fragte sie um einiges gefasster und wieder wütend werdend.
Wir fragten nur, aber wir bekamen keine Antworten. Das fiel uns gleichzeitig auf. Deshalb entstand eine Pause, in der wir uns wie die Gegner in einem Boxkampf abschätzen. Wir wurden bei unserer Suche nach der Schwachstelle des anderen von Clara Szczes­ny und Sontheimers Freundin Rosa unterbrochen, die sich leise hinter mir in den Raum schoben.

Die Gastgeberin schaltete das Deckenlicht ein und erkundigte sich vorsichtig, was denn vorgefallen sei. Kurz kam mir bedauernd in den Sinn, dass ich mich gerade mit den drei attraktivsten Frauen, die ich kannte, allein in einem Raum befand und keine Chance hatte, die Situation zu meinen Guns­ten auszunutzen. Ich entschuldigte mich für den Lack auf dem Fußboden und wimmelte Clara und Rosa mit ein paar kurzen Beruhigungsfloskeln ab. Sie gingen un­gern, das war ihren neugierigen Gesichtern anzumer­ken. Zumindest eine der beiden, da war ich mir sicher, würde draußen das Ohr gegen das Holz der Tür pressen, um zu lauschen. Theresa setzte sich inzwi­schen in der Ecke des Zimmers auf ein Sofa. Es war ein unbequemes Stahlgestell, bei dem ich keine Wette abge­ben wollte, ob es tatsächlich eine Sitzgelegenheit oder ein wertvolles Kunstobjekt war.

Nachdem uns die Gastgeberin und die Szczesny zö­gernd allein gelassen hatten, machte ich das große Licht wieder aus und ließ ich mich vor Theresa auf dem Tep­pichboden nieder. Stumm schätzten wir uns ab. The­resas dunkler und scheuer Blick traf mich vorwurfsvoll. Mir wurden die Knie weich und dabei schmerzlich bewusst: Ich würde wahrscheinlich nie völlig begreifen, was in ihr oder in irgendeiner Frau, die ich kannte, tatsächlich vorging. Das schloss auch meine Freundin ein. Schließlich kam Theresa nickend zu einem Ergebnis. Es war ihr nicht anzumerken, ob es positiv oder negativ für mich ausfiel.

»Jürgen hat dich eben gesehen und er hat auf der Schwelle kehrtgemacht«, stellte sie dann erstaunlich nüchtern fest und schlug die Beine übereinander.

»Wegen mir lässt er die Party sausen?«, fragte ich und trank  den scheußlichen Rest mei­nes sauren Weines. Ich bemerkte den Plastikbecher erst jetzt wieder in meiner Hand. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo mein Teller mit den Schwedenhäppchen abgeblieben war.

»Ja, wegen dir. Als ich Jürgen verließ, saß er unten an dem Brunnen vor dem Haus und weinte.« Ich verdrehte ächzend die Augen, unterbrach sie aber nicht.

Wie sie mir dann erzählte, hatte Jürgen auf seiner Vernissage von Sontheimer persönlich eine Einladung zu der Wohnungseinweihung erhalten. Und ich müsse begreifen, dass das für ihn, der ja bislang wie ein Eremit und ohne Kontakt zu anderen Künstlern gelebt habe, wie Weihnachten und Ostern an einem Tag war. Er fasste es als eine Art von Ritter­schlag auf, eine Anerkennung, die ihm die höheren Wei­hen verlieh. Er sonnte sich tagelang in dem Gefühl, end­lich dazu zu gehören, einer von jenen zu sein, die von der Kunst leben, die intimen Umgang mit ihr haben. Es gab für ihn in der letzten Woche kaum mehr ein anderes Gesprächsthema. Alle seine Gedanken kreisten um die­ses Ereignis.

Ich konnte Theresas Bericht über die Begeisterung von Nix nicht nachvollziehen, an dieser Party war nichts Außergewöhnliches oder gar Spektakuläres. Sie war ein Zeitvertreib, nichts weiter. Und auch diese Aufgabe er­füllte sie nur schlecht. Im Gegenteil: Nüchtern betrach­tet, gab es kaum etwas Langweiligeres als diese Art von Zusammenkunft von Leuten, die sich eigentlich ständig trafen, sich aber im Grunde nichts zu sagen hatten und die –  da bin ich sicher – den mimosenhaften Nix noch lange nicht als gleichberechtigt in ihren Kreis aufgenommen hätten. Man benötigt viel Zeit und Stehvermögen, um das Gesetz der Omerta dieser Gruppe von sich selbst überschätzenden Angebern zu überwinden.

Oh, sie wä­ren bestimmt freundlich zu ihm gewesen, schließlich hatte er ja gute Beziehungen. Dennoch hätten sie sich hinter seinem Rücken über ihn lustig gemacht und nach Schwachpunkten gesucht, um ihn zu zerstören. Annä­herungsversuche glitten in der Regel an ihnen ab wie ein Regentropfen an einer Öljacke. Sie hockten in ihren lächerlichen Positionen und Beziehungen, die sie für so wichtig hielten. In ihrer winzigen loka­len Bedeutung fühlten sie sich wie Halbgötter und weh­rten sich geradezu verzweifelt gegen alle jüngeren, von denen sie die Angst hatten, sie könnten ihnen das Was­ser reichen oder gar besser sein, was durchaus eine Art von Maje­stätsbeleidigung darstellte. Ich weiß, wovon ich rede: Ich selbst hatte in dieser Richtung schon viele bittere Erfah­rungen gemacht; es war mir noch keine Annäherung an diese Kreise gelungen. Auch meine Freunde waren Außensei­ter wie ich, mit denen ich mich automatisch solidarisiert hatte. Wer weiß, vielleicht stellten wir morgen die Elite und dann würden wir uns mit Händen und Füßen ge­gen Jüngere oder Talentiertere wehren, die unsere Posi­tionen gefährden könnten.

Nix jedenfalls hatte ich seine erste Bekanntschaft mit diesem Kreis gründlich verdorben. Der bittere Wer­mutstropfen meiner Kritik, der eine winzige Tropfen, der den Geschmack seines Erfolges verdarb, stieß ihm wie Sodbrennen immer wieder auf. Er dämpfte ent­schieden seine Freude über seine gelungene und erfolg­reiche Ausstellung. Unsere gegenseitig bedingte Para­noia hatte bei ihm bereits groteske Züge angenommen. Wie ich nun feststellte, sah er in mir – nach meiner Kritik deutlicher denn je – seinen absoluten Feind, der ihn ungerechtfer­tigt mit perfiden Anschlägen verfolgte. Vielleicht hatte er ja doch den Überfall auf mich zu verantworten …

Und wen musste er als ersten sehen, als er freudestrah­lend Arm in Arm mit seiner schönen Freundin zwecks Initiation seinen großen Auftritt bei Sontheimers Atelierfest genie­ßen wollte? Selbstverständlich machte er auf der Schwelle kehrt, rannte mit Tränen in den Augen zurück auf die Straße und ließ Theresa allein stehen. Sie wie­derum sah keine andere Möglichkeit, als ihrer Wut mit dieser Ohrfeige Ausdruck zu verleihen.

Ich nickte und begriff. Eindringlich versuchte ich, ihr zu erklären, dass ich durchaus kein Feind von Nix war, ich meine Kritik fachlich und nicht persönlich meinte und selbst unter dieser nie geahnten Gefühlsverwirrung litt. Sie hörte mir ruhig zu, aber sie schien nicht allzu überzeugt.

»Ich werde mit ihm reden«, sagte ich endlich und wollte aufstehen. Mein Bein war eingeschlafen. Theresa machte eine ablehnende Handbewegung. Sie schniefte.

»Das ist keine gute Idee. Du kennst ihn nicht. Er ist heu­te nicht mehr ansprechbar. Wahrscheinlich ist er auch schon gegangen«, hielt sie mich zurück.

»Er lässt dich hier allein auf der Party?«, fragte ich er­staunt und unbedacht.

Unsere Blicke trafen sich. Ich be­merkte  eine nur schwer beschreibbare Mischung aus Trauer und Einsamkeit in ihren Augen. Ihre Wut war vergangen; sie war erschöpft und müde und sank auf dem unbequemen Sofa in sich zusammen. Ich bereute meine indiskrete Frage. Heute wünsche ich, ich hätte den Mut gehabt, sie tröstend in den Arm zu nehmen. Die Beziehung der beiden ging mich allerdings nichts an. So nah standen wir uns nun wirklich nicht. Aber Hass ist manchmal ein besserer Klebstoff zwischen Menschen als die Liebe. Theresa antwortete missmutig und ehrlich. Sie öffnete sich und bewies damit ein Ver­trauen zu mir, das ich mir nach allem wohl selbst nicht gewährt hätte.

»Es ist schwierig«, sagte sie leise. In ihren drei Worten lag eine ganze Welt von Zuneigung, Zärtlichkeit und re­signierender Liebe.

»Wenn Jonas seinen Weltschmerz hat, der ihn mit schöner Regelmäßigkeit zweimal im Monat packt, dann ist das eine langanhaltende Stimmung, in der er sich wie ein Masochist suhlt. Ich habe die Erfahrung machen müssen, dass ich ihn dann besser alleine lasse. Er kann in diesem Zustand niemanden außer sich selbst ertragen und auch das fällt ihm schon schwer genug.«

Theresa wusste genau, was er jetzt machen würde: Er würde die ganze Nacht durch die Stadt laufen und mit seinem Schicksal hadern. Vielleicht ginge er auch in eine beliebige Kneipe, um sich unter Menschen noch einsa­mer und verlassener zu fühlen. Dabei würde er viel Bier trinken. Am Morgen würde er dumpf besoffen heim­kommen und seine Depression künstlich noch weiter vertiefen. Er würde ein Klavierkonzert von Rachmani­noff oder eine Platte von Leonard Cohen hören und sich dazu in irgendeiner Form einer selbstquäleri­schen Geißelung unterwerfen: Vielleicht würde er nur eiskalt duschen oder die geliebte Ordnung in seinem Zimmer zerstören, vielleicht er eines seiner Bilder zer­schneiden oder es verbrennen, vielleicht würde er sich aber auch weh tun, sich Wunden zufügen. Er sei schon einmal in das Extrem verfallen, sich mit einer Nadel den Unterarm blutig zu stechen, Zentimeter für Zentimeter Haut, stundenlang. Es gäbe da ein Buch von André Gide, das er möge und das den Auslöser für diesen Irrsinn darstelle.

Habe er sich dann auf diese Weise erschöpft, würde sich Nix mit einem Stoß Gedichtbände bewaffnen und sein Atelier betreten, laut aus der Lyrik lesen und malen und malen und malen … Bis ihn nach ein, manchmal sogar nach zwei Tagen die starke Erschöpfung ins Bett treibe, wo er bis zum nächsten Morgen durchschlafe, vierzehn oder sechzehn Stunden lang. Erst nach dieser Schlafkur und einer ausgedehnten Mahlzeit sei er wieder an­sprechbar. Die Kunstwerke, die in seiner Raserei ent­stünden, gefielen ihm dann allerdings nicht mehr, die meisten vernichte er, weil ihnen, wie er sagte, der Kopf fehle.Theresa habe die Erfahrung gemacht, dass sie ihm wäh­rend seiner Exzessphase nicht helfen könne, sondern mit ihrer Anwesenheit alles noch schlimmer mache, teil­weise sogar gewalttätige Streitigkeiten mit ihm provo­ziere, die die Beziehung der beiden belasteten. Das sei auch der Grund, aus dem sie nie zu ihm ziehen könne. Sie würde sich besser so lange von ihm fernhalten, bis er sie vermissen und sich von selbst wieder bei ihr melden würde, was spätestens einen Tag nach seinem Ausschla­fen der Fall sei. Dann käme er zu ihr zurückgekrochen. Er wisse ebenso wie sie, wie lebensuntüchtig er ohne sie sei.

Ich hörte Theresa unangenehm berührt zu, als sie mir stockend diesen intimen Einblick in ihre mir kaum vor­stellbare Beziehung gewährte, die eine erstaunliche und meiner Meinung nach auch gefährliche amour fou war. Es schien sie zu erleichtern, sich endlich einmal mit einem fast Unbeteiligten aussprechen zu können. Wie eine intelligente und ausgeglichene Frau so viele pubertäre und verantwortungslose Ich-Bezogenheit beiihrem Freund ertragen konnte, vermochte ich kaum zu fassen.

Zudem bekam ich zum ersten Mal ernsthafte Zweifel an Nix’ Geisteszustand. Seine Exzentrizität grenzte für mich wirklich haardünn an Wahnsinn. Mir kam aller­dings auch gleichzeitig in den Sinn, dass dies auch nur seine Show sein konnte, seine Inszenierung vom geniali­schen Maler. Vielleicht lebte er wie zum Beispiel Nor­man Mailer bewusst die Vorurteile und Erwartungen aus, die ihm sein pfahlbürgerliches Publikum entgegen­brachte und denen er wie jeder andere Künstler – nur durch den zugegebenermaßen dicken Mantel seiner Ar­roganz geschützt – ausgeliefert war.

So saßen Theresa und ich nach dieser Beichte eine ganze Weile schweigend im Halbdunkel des Raumes zwischen den Schatten der fragilen Objekte Sontheimers; waren beide mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt und kümmerten uns nicht mehr um die Anwesenheit des an­deren. Ich dachte an meine Freundin, die ich plötzlich heftig vermisste.

Da kam laut und rumpelnd Horst Favelka zur Tür her­ein und schaltete die helle Deckenlampe wieder ein, de­ren Licht sich unbarmherzig und gierig auf uns unge­schützte Opfer stürzte. Ihm folgte eine Handvoll lachen­der und angetrunkener Leute. Andernaj war unter ih­nen. Auch Favelka, der nun schwankend vor mir stehen blieb und ruhig meinen unfreundlichen und wegen der plötzlichen Helligkeit blinzelnden Blick ertrug, hatte sei­nen Alkoholpegel in der Zwischenzeit deutlich er­höht. Seine Augen waren klein und rot und sein Grin­sen dämlich. Er balancierte zwei Becher Rotwein in ei­ner Hand.

»Friede. Ihr habt euch jetzt genug gestritten, oder?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Hier habe ich einen Versöhnungstrunk für euch.«

Seine Begleiter im Hintergrund nickten zustimmend. Theresa stand schnell auf, die Hand schützend über die verweinten Augen gelegt. Ich bemerkte, wie ihre Wut wiederkehrte. Diesmal war sie jedoch nicht auf mich zornig. Sie zischte den anderen eine Unfreundlichkeit zu und schob sich an Favelka vorbei, der gerade einen Schritt auf sie zu machte. Dabei verlor er die Kontrolle über seine Plastik­becher, die ihm aus der Hand kippten. Da ich noch zu seinen Füßen saß, ergoss sich ihr Inhalt über mich und ich war damit der Zweite, den er an dem heutigen Abend mit Rotwein taufte. Ich weiß nicht, ob Theresa das noch bemerkte. Sie war längst aus dem Raum ge­rannt, auf dem schnellsten Wege die Party und das Ge­rede der oberflächlichen Leute fliehend.

Favelka sah erstaunt auf mich herab und stotterte eine Entschuldigung. Ich kann heute nicht mehr sagen, was ich im ersten Moment empfand, aber dann folgte ich dem Beispiel von Clara Szczesny von vorhin: Ich lachte. Was blieb mir auch anderes übrig?

Ich kehrte im Morgengrauen heim; sehr betrunken und sehr fröhlich.

[Zum 15. Teil …]

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