Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
10. Kapitel
Der Weg, der in den Tag führt
Selin wischte die dünne Sandschicht beiseite, die der nächtliche Sturm auf das kuppelförmige Gebäude geweht hatte, das sich hier am nördlichen Rand der Ebenen wenige Fuß über die Dünen hinaus erhob, dessen Boden aber viel, viel tiefer unter dem Wüstenstaub begraben liegen musste. Er hustete und schob sich seinen schützenden Schal vor Nase und Mund. Dann sah er zurück zu Semira, die etwas unter ihm kauerte. Wie auch Selin trug sie die weite, wallende Kleidung der Wüstenwanderer und es war kaum zu erkennen, dass sich unter ihr eine junge, schlanke Frau verbarg. Der junge Mann winkte ihr zu und sie kam vorsichtig näher, achtete darauf, beim Höhersteigen in die Fußstapfen ihres Freundes zu treten.
»Da, schau, Juel hat sich nicht getäuscht.« Selin deutete auf eine leicht gewölbte Glaskachel, die er gerade vom Sand befreit hatte. »Das ist wirklich ein Gebäude der Vorgänger und wir stehen auf dem Dach.«
Er beugte sich weiter herab und versuchte vergebens, durch das dicke Glas ins Innere zu spähen, doch die Oberseite der Kachel war von den Jahrtausenden, in denen sie ungeschützt der Wüste ausgesetzt war, vom Sand trübe geschliffen und zerkratzt. Es gelang ihm nicht, in der Finsternis unter dem Glas etwas zu erkennen. Er zuckte mit den Schultern und stand auf.
»Ich weiß wirklich nicht, woher er das weiß, aber wenn das tatsächlich der uralte Bahnhof ist, von dem Juel sprach, von dem aus der URS in Richtung Paradis fährt … Dann frage ich mich, wie wir in ihn hineingelangen können.«
«Vielleicht weiß ja Adelph einen Weg. Der Mönch behauptet doch, er könne durch Wände sehen«, erwiderte Semira und stellte sich neben ihren Freund.
Die beiden standen fast am höchsten Punkt der im Sand versunkenen und von einer Düne halb begrabenen im Durchmesser sicherlich fünfhundert Fuß breiten und etwa achtzig Fuß über die Wüste hinausragenden Kuppel. Da die Umgebung hier am Rand der Schlachtfelder des Ewigen Krieges hüglig anstieg, konnten sie viele Meilen in die Tote Wüste hineinblicken. Obwohl der Nachmittag schon fortgeschritten war, stand die Sonne noch strahlend im Südwesten und sandte erbarmungslos ihre Hitze herab, die die Luft über dem Sand zum Flimmern brachte und jeden Atemzug zu einer brennenden Qual werden ließ, jeden Schritt zu einem Kampf. Im Rücken der beiden, hinter der Hügelkrone, breiteten sich die legendären Ebenen aus, auf denen in jeder Nacht die Golem-Armeen kämpften, von denen jeder Einwohner Karakoras schon gehört, die aber nur die Wagemutigsten und Tollkühnsten unter ihnen jemals zu Gesicht bekommen hatten. Auch Semira und Selin wussten nicht, wie es hinter dem Hügel, der ihnen die Sicht in die östliche Richtung versperrte, aussah.
»Da, schau!« Semiras scharfe Augen hatten weit im Westen knapp über dem Horizont eine Bewegung ausgemacht und sie machte Selin darauf aufmerksam. Er kniff die Augen zusammen. Richtig, dort war plötzlich eine Staubwolke aufgetaucht, die langsam höher stieg und breiter wurde. Selins Mundhöhle wurde noch trockener, als sie dies durch den vielen Sand, den er geschluckt hatte, bereits schon war.
»Was ist das – etwa schon wieder ein Sandsturm?«
»Ich glaube nicht. Da kommt etwas anderes auf uns zu. Ich hoffe …«, erwiderte Selin und holte aus seiner ledernen Schultertasche, in der er einige der nützlichen Vorgängergerätschaften aus Juels Kaufmannswagen mit sich trug, ein kleines Fernglas uns spähte in die Richtung, in der der aufgewirbelte Staub über dem Horizont lag. Die beiden Okulare waren Vorgänger-Techné und summten leise, als sich ihre Linsen scharf stellten und die Ferne fast greifbar nah heranholten. Kein zeitgenössischer Linsenschleifer war in der Lage, solch ein präzises Instrument mit einer solch starken Vergrößerung herzustellen. Selin fragte sich erneut, wie das Fernglas und andere Dinge, die Juel während ihrer mühseligen Reise durch die Tote Wüste immer wieder hervorgekramt hatte, in den Besitz des gewitzten Meisterdiebs gelangt waren. Dann erkannte er, was er dort in weiter Ferne sah und sein Mund klappte nach unten.
»Unsere Verfolger haben uns eingeholt«, sagte er heiser, »spätestens morgen Abend werden sie hier sein. Da, schau selbst …«
Er reichte das Fernglas an Semira weiter, die beim Hindurchsehen ein nicht gerade mädchenhaftes wendisches Schimpfwort durch die Zähne stieß.
»AsQ‘atak kjet‘Ba! Das müssen ja tausende Soldaten sein!«, stellte sie fassungslos fest.
»Ja, es scheint, als würde uns die gesamte Armee der Treuwächter des Namenlosen jagen.«
Die fernen Dünen am Horizont waren schwarz von einer riesigen Kolonne Soldaten und Streitwägen, die in lockerer Marschformation langsam in ihre Richtung kamen. An der Spitze stapfte ein Dutzend großer Tiere durch den Sand.
»Der „Unterwerfer“ hat sogar seine Kriegs-Machmouts dabei! Was für ein Aufwand, um eine Handvoll Flüchtlinge zu jagen«, staunte Semira, die fasziniert auf die Ameisenarmee starrte, die die fernen Hügel überschwemmte.
»Unglaublich. Wenn es dich so furchtbar wäre, müssten wir uns geschmeichelt fühlen. Augenblick …« Selin hatte etwas Beunruhigendes entdeckt und nahm seiner Freundin das Fernglas aus der Hand. Er fixiert einen Punkt, der der Kuppel viel näher als die Kolonne des Namenlosen war. Nun war er es, der einen derben Fluch ausspuckte.
»Beim Thsaq‘r der Allerbarmerin!«, rief er und deutete nach vorn. »Dort hinten, gar nicht mehr weit vom Lager entfernt, treibt sich ein Trupp der Treuwacht herum. Wie haben wir die bisher übersehen können? Das müssen Späher sein und wenn sie sich in ihrer Richtung weiterbewegen, werden sie noch vor Sonnenuntergang auf uns stoßen. Das müssen um die zwanzig Soldaten sein. Gegen diese Übermacht hätten wir keine Chance. Wir müssen die anderen auf der Stelle warnen.«
Semira runzelte die Stirn.
»Und was ist mit dieser Kuppel? Wenn wir keinen Eingang in sie hineinfinden, dann werden wir ihnen nicht entkommen können.«
»Du hast recht«, überlegte Selin. »Wir werden uns trennen, das ist das Beste. Du warnst unsere Freunde vor dem Spähtrupp. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, sich vor ihnen zu verbergen. Ich werde inzwischen – wie wir ursprünglich vorhatten -, versuchen, ins Innere des Gebäudes zu gelangen und es dort aus zu öffnen.«
Das Mädchen nahm die Hand ihres Freundes und drückte sie.
»Ist das wirklich eine gute Idee? Du wirst allein sein und du weißt nicht, was dich dort unten erwartet.«
Selin nahm seinen Schal vom Gesicht.
»Es ist das einzige, was mir einfällt. Und in der Kuppel sollte es seit dreitausend Jahren nichts Lebendiges mehr geben.«
»Es sind nicht die Lebenden, die ich fürchte …«, erwiderte Semira. Ihr fiel Sahars grausame Geschichte von den gefährlichen Golemen und dem unheimlichen Untoten aus der Zeit der Vorgänger ein. Sie presste sich an Selin. Sie hatte für ihn ihr ganzes Leben geopfert und die Vorstellung, ihn zu verlieren, war grausam. Am Liebsten hätte sie ihn nie mehr losgelassen. Der junge Mann las in ihren tränenfeuchten Augen und schluckte, zog sie ungestüm an sich. Seit Semira sich entschlossen hatte, ihre Eltern und Karukora mit ihm zu verlassen, was für ein Mädchen aus gutem Hause den völligen Ruin und für ihre Familie eine nicht wieder gutzumachende Schande und gesellschaftliche Isolation bedeutete, war aus der Verliebtheit ihrer eher spielerischen als ernstzunehmenden Zuneigung eine tiefe Liebe geworden, deren Feuer mit jedem Tag und jeder gemeinsam verbrachten Nacht heller und heißer brannte. Die beiden küssten sich und für einen kurzen Moment war alles vergessen: Die Tote Wüste, die Soldaten des Namenlosen, selbst Pardais; von dem die beiden eh nicht träumten, weil sie ihr persönliches Pardais längst beieinander in den Armen des anderen gefunden hatten.
»Möge die Allerbarmende dir ihren Segen geben und dich begleiten und beschützen«, flüsterte Semira nach einer Weile und machte sich widerstrebend von ihm los. »Ich eile zu unserem Lager und führe dann alle hierher. Ich will dich gesund wiedersehen.«
»Das verspreche ich dir.«
_______
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 10 – Teil 1)“
[…] [Hier geht es zum 10. Kapitel …] […]