Wenn ich jetzt schreiben würde, der Inhalt meines Artikels täte mir heute leid, dann würde ich lügen. Das hat mehrere Gründe, dabei einen sehr eigennützigen. Ich möchte richtig verstanden werden: Ich hatte nie im Sinn, Nix unmöglich zu machen oder ihm zu schaden; im Gegenteil, ich hoffte, ihn durch meine scharfe Kritik im Rahmen meiner Möglichkeiten ins Gespräch bringen zu können und damit neugierige Besucher in seine Ausstellung zu locken. In mir heute unverständlicher und peinlicher Selbstüberschätzung hoffte ich dadurch, mich zu profilieren, Gewicht in der Tagesmeinung des Kulturgeschehens zu erlangen. Dafür war unserer Blatt, das kostenlos in alternativen Kneipen und Einzelhandelsgeschäften verteilt wurde, von Werbung lebte und sich opportunistisch und marktschreierisch jedem Zahlungswilligen anbot, allerdings ganz und gar nicht der richtige Rahmen. Es war jedoch das einzige Organ, durch das ich mich an eine Öffentlichkeit wenden konnte.
Auf der einen Seite war ich mir freilich auch der Vergeblichkeit meines Hoffens bewusst. Aber es war meine erste Chance, jemanden zu beurteilen, der die Voraussetzungen hatte, ein anerkannter und bedeutender Maler zu werden. Ich wollte auf einen anfahrenden Zug aufspringen, mich als Entdecker und Mentor eines neuen Talents, dessen Mängel ich konstruktiv kritisierte, feiern lassen. Außerdem wurde ich ganz nebenbei durch die Veröffentlichung meiner 1200 Wörter wieder etwas liquider und hatte damit ein Argument gegen die in letzter Zeit schärfer werdenden Vorwürfe von Christine, ich würde ihre Gutmütigkeit und ihren Geldbeutel ausnutzen.
Dass mein Artikel in dieser scharfen und unzensierten Form an prominenter Stelle in der nächsten Ausgabe der MegaSzene zu lesen war, war auch die Schuld von Rainer Werner, ihrem Herausgeber, der in einer bei ihm seltenen Fehleinschätzung der Lage und der Stimmungen der Kulturszene keine Streichungen vornahm. Er ließ mir im Gegenteil ausrichten, es sei ihm ein Vergnügen, meinen boshaften Text ungekürzt zu bringen. Er hoffte wahrscheinlich, die Zeitschrift, deren Auflagenzahl stark rückgängig war, würde dadurch wieder etwas ins Gerede kommen und den durchaus verdienten Ruf eines besseren Supermarktwerbeblattes verlieren.
Nein, je länger ich darüber nachdenke, um so sicherer werde ich: Ich bedaure nicht, den Artikel geschrieben zu haben. Er ist zwar nicht unbedingt meine beste, aber eine durchaus saubere Arbeit von mir. Zu dieser Meinung stehe ich weiterhin. Heute würde ich wahrscheinlich manches anders formulieren, weil ich jetzt einige Zusammenhänge besser verstehe. Aber es ist sicher falsch, ihn in die enge Verbindung mit Nix Niedergang zu bringen, wie das von gewisser Seite getan wurde.
Die MegaSzene erschien monatlich und so wurde mein Artikel bedauerlicherweise bereits eine gute Woche vor Nix’ Ausstellung publik. Ich weiß nicht mehr, was für eine Reaktion der Leser ich erwartet hatte, aber sie war für mich enttäuschend. Niemand schien sich ernsthaft für mein Interview mit der noch unbekannten Größe Jonas Nix zu interessieren; das Feedback war gering. Die Briefe, die die Redaktion erhielt, ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen und waren durch die Bank unfreundlich. Da hatten die schmuddeligen Bekanntschaftsanzeigen auf den letzten Seiten entschieden mehr Zuspruch. Auch Nix ließ – anders, als ich es gehofft hatte – nichts von sich hören. Ich hatte tatsächlich geglaubt, er würde sich sehr schnell bei mir melden, um mit mir zu diskutieren. So ignoriert zu werden, verletzte mich. Ich war gereizt und in einem anhaltenden Stimmungstief. Meine Freundin konnte mich nicht mehr ertragen und entschloss sich, für ein paar Tage eine Bekannte in Regensburg zu besuchen.
Vier Tage, nachdem die neue Nummer meiner Zeitschrift auslag, kam es allerdings zu einem unangenehmen Vorfall, von dem ich heute noch hoffe, dass Nix nichts von ihm wusste. Diese Art der Rache konnte doch wohl nicht die seine sein. Es hatte den ganzen Tag über unangenehm feucht geschneit. Als ich spät in der Nacht müde von meiner Kneipenarbeit durch den schmutzigbraunen Schneematsch heimwärts stapfte, bemerkte ich auf der Höhe der Bertelesbrücke, dass mir jemand folgte und das wahrscheinlich schon, seit ich das Lokal verlassen hatte. Durch – wie ich hoffte – unauffällige Blicke zurück, stellte ich fest, dass es sich um zwei Männer handelte, die mir knapp zehn Meter zurück auf der Spur waren. Als sie in den Lichtschein einer Straßenlaterne gerieten, konnte ich sie deutlicher erkennen. Sie waren etwa in meinem Alter; das Gesicht des einen glaubte ich zu kennen, ohne einordnen zu können, wo es mir schon einmal begegnet war.
Ich beschleunigte probeweise meinen Schritt. Die beiden kamen nicht näher, fielen aber auch nicht zurück.Es schien ihnen nichts auszumachen, von mir bemerkt zu werden. So lange wir noch im Innenstadtbereich und nicht allein auf der Straße waren, machten ich mir keine Sorgen, obwohl ich fieberhaft überlegte, was sie bezweckten und woher ich den einen der beiden kannte. Da ich zu keinem befriedigenden Ergebnis kam und mich die Verfolgung zu ärgern begann, entschloss ich mich, der Sache ein Ende zu machen. Ich meine, wir waren ja in meiner Heimatstadt unterwegs und nicht auf den Straßen von New York. Hier passierten keine Krimigeschichten. Ich blieb deshalb einfach stehen und erwartete die beiden, kam mir dabei sehr mutig vor. Sie verharrten ebenfalls und machten für einen Moment einen unschlüssigen Eindruck, dann kamen sie jedoch aufreizend langsam näher. Sie hielten ihre Hände in den weiten Taschen ihrer Anoraks versenkt; die geduckte Körperhaltung und ihre Mienen waren verschlossen und feindselig. Ich fühlte mich in diesem Augenblick nicht ernsthaft bedroht, dazu war die Situation zu unwirklich. Ich war nur verwirrt und mir nicht mehr so sicher, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, auf meine Verfolger zu warten. Konnte es möglich sein, dass sie hinter meiner chronisch leeren Brieftasche her waren?
Ich sah mich um. In der Nähe alberten zwei angeheiterte Paare auf einem über den Winter mit Holzplanken abgedeckten Brunnen herum. Wie ich heute denke, war dieses Publikum gut für mich. Ich weiß nicht, wie die Angelegenheit ausgegangen wäre, wenn ich mit meinen Verfolgern allein auf der Straße gewesen wäre. Die Kerle bauten sich knapp vor mir auf und wirkten in ihrer Entschlossenheit durchaus imposant. Obgleich sie wirklich keine Bodybuilding-Figuren hatten, sondern eher wie die Mitglieder einer autonomen Gruppe wirkten, rutschte mir das Herz sprichwörtlich in die Hose. Ich tauschte mit den beiden ein paar Blicke und fand in ihren Augen ebenso viel Nervosität, wie ich sie in mir selbst verspürte. Trotzdem wurde mir mulmig und ich überlegte, ob es nicht besser war, wenn ich mein Heil in einer schnellen Flucht suchte. Diese Entscheidung wurde mir auf überraschende Weise abgenommen.
»Bist du LPQ?« fragte einer der beiden. Es war der, den ich zu kennen glaubte. Er schien mir auch die treibende Kraft der beiden zu sein. Erstaunlich! Er wusste um mein strikt gehütetes Pseudonym bei Werners Zeitschrift. Wer hatte es ihm verraten? Ich duckte mich etwas, suchte mir eine Verteidigungsstellung.
»Wer will das wissen? Und wer seid ihr über …?«, antwortete ich misstrauisch, konnte meine zweite Frage aber nicht mehr beenden. Das nun Folgende geschah viel zu schnell für mich.
»Du dreckiger Schmuierfink!«, schrien die beiden gleichzeitig und erschreckten mich mehr durch die plötzliche Lautstärke ihrer Stimmen als durch den grotesken Vorwurf.
Sie rissen etwas aus ihren Taschen, was ich in meiner Angst für Schlagstöcke oder Schlimmeres hielt. Im Reflex hob ich meine Arme schützend in die Höhe und kniff die Augen zusammen. Ich hörte einen der beiden verächtlich lachen, dann ein seltsames Zischen, das ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. Gleichzeitig spürte ich etwas Feuchtes an der Stirn, es rann die Hände, die ich noch immer vor das Gesicht hielt, hinab, das Kinn, den Hals hinunter. Ängstlich stolperte ich einen Schritt rückwärts, kam dadurch mit einem Fuß über den Randstein. Ich griff im Reflex nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten, bekam aber im gleichen Moment einen Schlag gegen die Brust. Meine tastende Hand fasste ins Leere und ich fiel unsanft mit dem Hinterteil voran zwischen zwei eng beisammen parkenden Autos mitten in eine Matschpfütze, dass es spritzte. Erst jetzt öffnete ich wieder meine Augen. Meine Gegner steckten gerade ihre Spraydosen zurück in ihre Jackentaschen. Der eine, der mir bekannt schien, spuckte, das Gesicht von Abscheu verzerrt, vor mir auf den Boden.
»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein!«, bemerkte er ruhig. »Unsere Stadt braucht keine Nestbeschmutzer wie dich.«
Nun wandten die zwei sich ab. Jetzt hatten sie es plötzlich sehr eilig, wegzukommen. Sie rannten, möglicherweise von ihrem eigenen Mut eingeschüchtert, die Straße hinunter. Als ich mich nach einigen vergeblichen Versuchen mühsam wieder aufgerichtet hatte, waren sie bereits aus meinem Blickfeld verschwunden. Die Paare hatten nichts bemerkt, sie tanzten noch immer lachend auf den schiefen Brettern der Brunnenverkleidung. Sie wären mir im Ernstfall eine schöne Hilfe gewesen! Ich stellte mich vor Nässe tropfend ins Licht der nächsten Laterne und sah an mir herab. Ich hatte glänzende rote und blaue Farbflecken auf der Jacke und den Handrücken, mit denen ich mein Gesicht geschützt hatte. Eine hilflose Wut stieg in mir empor. Diese abgrundtiefen Idioten hatten mich mit Lackfarbe besprüht!
Eine Antwort auf „Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 9)“
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