Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Doch Sahar kämpfte nicht zum ersten Mal gegen einen der Barbaren aus dem unwirtlichen Tudasgart, das zwischen dem Rauen Gebirge und dem Großen Grabenbruch an der Grenze zu den Jenseitigen Landen lag. Junge, ungestüme Kling‘Arta wurden wegen der häufigen Hungersnöte immer wieder von ihren Stämmen, die in primitiven, hölzernen Taboren hausten und untereinander in Blutfehden und Religionsstreitigkeiten verstrickt waren, verstoßen und verdingten sich als Söldner in allen Armeen der Welt. Sie waren an allen Fürstenhöfen begehrte und gefürchtete Krieger, die voller Todesverachtung in die Schlachten zogen.
»Vorsicht, Großer«, murmelte er. »Manche Insekten können stechen!«
Sahar wartete ruhig, bis Wer‘Quer heran war. Dann nahm er seine geballte Hand aus der Tasche und hob sie seinem übermächtigen Gegner entgegen. der nur noch zwei Schritte entfernt war; schleuderte ihm eine Handvoll Salzkörner, die er während seines Märchenvortrags vom Bühnenboden aufgesammelt und dann zu sich gesteckt hatte, ins Gesicht. Er wusste, dass dies ein unfeiner Trick war, aber in einer offenen Auseinandersetzung konnte er dem tätowierten Hühnen nichts entgegen setzen. Das hatte er in seiner Ausbildung gelernt: Es war besser, einen Kampf ehrlos zu gewinnen, als ihn ehrenhaft zu verlieren. Besonders, wenn ein Gegner so überlegen war wie dieser. Der Kling‘Arta stolperte, heulte auf und hielt sich kurz seine Hände vor die Augen. Dabei vernachlässigte er wie erhofft seine Deckung.
Das Ende kam schnell. Sahar sprang ausweichend zur Seite. Gleichzeitig stach er gezielt mit seinem Degen zu und rammte seine fast wie ein Spielzeug wirkende Waffe bis zum Heft durch die breite Brust des Kriegers. Sie durchbohrte das Herz seines Gegners und trat an seinem Rücken wieder aus seinem Leib. Aber der Zusammenstoß, dem der Mönchssoldat nicht mehr ausweichen konnte, war trotzdem heftig. Der abwehrende Fausthieb des Kling‘Arta traf ihn krachend im Gesicht und brach ihm die Nase unter der Halbmaske, die er noch immer trug. Sahar wurde wie ein Sack Wäsche zur Seite geschleudert und stürzte halb besinnungslos in die Rosenbüsche.
Nach einer ganzen Weile war Sahar wieder einigermaßen bei sich und krabbelte aus den Dornen, die ihn zerstochen und seine schicke Galauniform zerrissen hatten. Er richtete sich mühselig auf und wischte sich mit den Ärmeln das Blut vom Mund, das in zwei Bächen aus seiner Nase lief. Ihn schmerzte jeder Knochen im Leib, aber er hatte bei dem kurzen Kampf keine weitere Verletzung davon getragen. Der tote Kling‘Arta kauerte zusammengesunken wie ein grauer Hügel auf dem Boden. Die Arme hingen schlaff herab und er hatte seinen kahlen Kopf, der durch die unzähligen Tätowierungen fast schwarz war, auf der massigen, von Sahars Waffe durchbohrten Brust liegen. Sahar humpelte näher, packte den Griff seines Degens mit beiden Händen und zog an ihm. Erst als er ein Bein zur Hilfe nahm und es gegen den Leib des Toten stemmte, gelang es ihm, seine Waffe zu befreien.
Endlich kippte die Leiche neben Galves lautlos ins Gras. Für jeden, der die beiden so entdecken würde, musste es so aussehen, als hätten sie sich in einem verzweifelten Kampf gegenseitig umgebracht. Sahar reinigte gelassen seine Klinge in der angewinkelten Beuge seines Arms und warf einen mitleidigen Blick auf die Schwalbe von Avril. Der Oberste, dessen durch eine Narbe verursachtes Dauerlächeln sich im Tod noch verstärkt hatte, war ihm sehr sympathisch gewesen und er bedauerte diesen sinnlosen Verlust. Wie würde es nun in der Lamargue weitergehen, nachdem in dieser Macht sowohl ihr Regno als auch die graue Eminenz hinter ihm ermordet worden waren? Würde es einen Krieg mit den Fünf Städten geben? Sahar gab es nur ungern zu: Auch Italmar nutzte diese Schwächung ihres östlichen Nachbarn, der auch das Protektorat über die Provinz ausübte, die altes Kernland des Kirchenstaats war, aber seit der Kokardenrevolution vor dreihundert Jahren selbständig war.
Der Mönch zögerte nur kurz, dann schob er seine Waffe zurück in die Scheide, die er am Rücken unter seiner Kleidung trug und kniete sich zu dem Leichnam hinunter, taste ihn mit professionellen Griffen ab. Sehr schnell wurde er fündig: In einer Innentasche der kurzen Uniformjacke entdeckte er einen in seinem Umschlag steckenden Brief. Es war viel zu dunkel, um ihn auf der Stelle zu lesen und er schob ihn in die Tasche. Nun erschienen ihm Galves gebrochende Augen vorwurfsvoll und er schloss sie sanft, während er ein eiliges Gebet an Oberone, den Herrn des Waldes, sandte.
Obwohl Miladí und ihre mörderische Dienerin einen großen Vorsprung hatten, nahm Sahar trotzdem ihre Verfolgung auf. Er hatte zwar wenig Hoffnung, sie noch einzuholen, aber ihr Fluchtweg war ihn die beste Möglichkeit, selbst unbemerkt aus dem Palast zu schleichen, ohne von der Treuwacht festgenommen zu werden. Schließlich trug er ja noch immer eine lamargische Uniform und sah mit der schmerzhaften Wunde im Gesicht sicherlich nicht sehr vertrauenerweckend aus.
Die hinter einer Efeuwand gut verborgene Pforte in der Gartenmauer erwies sich als ein geheimer Durchgang, den sicher einmal die Diebesgilde geschaffen hatte oder auch ein Namenloser, der sich gerne mit seinem Vezir unerkannt unter sein Volk mischen wollte. Er führte durch ein paar leere Stallungen hinaus auf die Hafenseite des Elfenbeinernen Palasts, wo die schroffe Mauer nur durch einen engen Kais vom an dieser Stelle strudelnd und eilig fließenden Marat getrennt war. Er sah zu dem gurgelnden, schwarzen Wasser eine Mannshöhe unter sich hinab. Hier hatte unmöglich ein Boot oder ein Schiff ankern und die Botschafterin aufnehmen können. Sie war also weiter zu Fuß geflohen. Doch in welche Richtung? Sahar hatte endgültig ihre Spur verloren. Er blinzelte, weil sich in diesem Augenblick jenseits des breiten Stroms über dem Stadtviertel Koras die Sonne erhob und ihre bereits jetzt am frühen Morgen hitzigen Strahlen in sein blutiges und schmutziges Gesicht sandte.
Sahar nieste und zuckte durch den plötzlichen Schmerz zusammen. Sollte Miladí ihm doch durch die Finger flutschen: Er glaubte an den Spruch Baruch im ersten seiner heiligen Bücher, wo geschrieben stand: „Unsere Wege führen zu vielen Kreuzungen und an einer von ihnen werden wir uns wiedersehen“. Darauf konnte er warten.
Neugierig nahm der Adept den bei Galves‘ Leichnam gefunden Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Die Handschrift kannte er nicht und die Unterschrift war nicht zu entziffern, aber was dort ein lamargischer Spion knapp und in militärischem Ton geschrieben hatte, warf ein ganz neues Licht auf die Geschehnisse der Nacht. Der Brief war an den Regno gerichtet, hatte diesen aber wahrscheinlich nie erreicht, weil ihn Galves vorher abgefangen hatte, legte dar, dass der älteste Sohn von Raul VI. hier in Karukora lebte und einer kurzen, aber stürmischen Liaison mit einer Palastangestellten während eines Staatsbesuchs entsprang. Noch erstaunlicher war, dass jener Sohn, von dem der Regno nie etwas erfahren hatte, noch vor seiner Hochzeit mit Dora Kahlja gezeugt worden war und deshalb in der Thronfolge noch vor seinen jüngeren Brüdern Raul und Rafik stand und zudem von der mütterlichen Linie her ein Bingh war, also direkt von der Dynastie des ersten Namenlosen abstammte. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war dieser junge Mann, der Selin hieß, auch noch der Enkel von Alis, Sahars Konkurrenten bei dem Märchenwettbewerb! Der Briefschreiber warnte am Ende eindringlich vor einem angeblichen Plan des alten Märchenerzählers, der die bestehende Ordnung und das Leben einiger Mächtiger gefährden würde. Leider war diese Warnung sehr unklar und verworren.
Wenn das alles stimmte, was er gelesen hatte, waren die Konsequenzen ungeheuerlich und diese Nachricht musste sofort seinem Meister Jac Javac Mauvaise und dem Hohen Rat des Kirchenstaats übermittelt werden. Das war wichtiger als seine Suche nach Botschafter Adelph und dem flüchtigen Meister Siebenhardt, die er, falls sie überhaupt noch lebten, in der durch den Putsch aufgewühlten Wüstenstadt wahrscheinlich niemals finden würde. Das Machtgefüge der ganzen Welt konnte sich durch dieses Schreiben verändern. Sahar musste Karukora so schnell wie möglich verlassen.
Der junge Mönch sollte übrigens der Botschafterin der Oststädte schneller wiederbegegnen, als ihm lieb war. Aber dies ist eine weitere Geschichte …
Ende des 9. Kapitels
_______
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 9 – Teil 7)“
[…] [Hier geht es weiter …] […]