Kategorien
der in den Tag führt Der Weg Fantasy Fortsetzungsroman Literatur Märchen Phantastik Roman Science Fiction

Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 9 – Teil 5)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

Der Stumme schüttelte mitleidig den Kopf, nahm Eóra beschützend in den Arm und begleitete sie zur Zelle hinaus. In der Tür blieben sie noch einmal stehen und die Tochter sah zurück zu ihrem Vater.

»Ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen und Muhar und Radik haben mir diesen Wunsch erfüllt. Verstehe doch. Ich liebe meinen Gemahl und würde alles für ihn tun.« Sie wandte sich endgültig um und Muhar führte sie eilig aus dem Kerker.

»Liebe!«, rief ihr Ómer hinterher und seine Stimme überschlug sich. »Du hast mich nur wegen der Liebe verra­ten? Wie erbärmlich. Kein Sud hat bisher irgendetwas aus Liebe getan. Sie vergeht wie ein Blatt am Baum. Wenn der Herbst kommt, dörrt sie aus und fällt nutzlos in den Kehricht. Aber der Baum selbst, das Geschlecht der Sud, bleibt bestehen, denn er hat Wurzeln in die Zeit und die Tiefe gebohrt. Liebe vergeht, doch die Macht bleibt beständig.«

Ómer schwieg. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass seine Tochter würde seine Worte nicht mehr hören und auch nicht verstehen konnte. Radik, der noch in der Zelle verblieben war, rümpfte die Nase und kam einen Schritt näher. Er achtete sorg­fältig darauf, wohin er seine seidenen Pantoffeln setz­te. Er wollte seinen Triumph auskosten und übersah dabei vollkommen, dass sein alter Feind auch in dieser Situation ein gefährlicher Mann war.

»Und wo ist sie jetzt hin, deine Macht?«, fragte er spot­tend. »Ich habe dich entwurzelt.«

Ómer sprang auf. »Meine Macht willst du sehen? Ich zeige sie dir, du schwanzloser Bastard!«

Er stürzte sich auf Radik, dem es nicht mehr gelang zurückzuweichen und riss ihn mit sich zu Boden hinein in den schmutzigen Strohhaufen. Mit einem Satz saß er rittlings auf seinem Widersacher, der verzweifelt um sich schlug. Ómer hob die zweizinkige Fleischgabel, die er noch im Speisesaal hatte an sich bringen können, bevor ihn die Treuwächter ergriffen, und die er ganze Zeit unter seinem Gewand verborgen gehalten hatte. In der Aufregung und der Eile hatten sie es unterlassen, ihn zu durchsuchen, bevor sie ihn in die Zelle geworfen hatten. Mitleidlos rammte Ómer die Gabel in Radiks rechtes Auge, der gepeinigt heulte und sich aufbäumte. Aber es gelang ihm nicht, Ómer abzuabwerfen. Er beugte seinen Kopf herab und legte seine Lippen auf das Ohr des Gepeinigten, während er ihm seine Hand auf den Mund presste.

»Und für dich habe ich auch eine Lehre, die für mich genauso schmerzhaft war wie für dich jetzt, als ich sie begriffen habe. Unterschätze niemals einen Gegner. Selbst wenn er vor dir auf dem Boden liegt«, flüsterte er. Radik stöhnte nur.

»Oh, nein«, fuhr Ómer fort, »ich werde dir nicht das Leben nehmen. Diesen Schatten werde ich mir nicht auf die Seele legen. Du wirst hier verrotten.«

Er richtete sich wieder auf und drehte noch einmal grausam die blutige Gabel in der schrecklichen Wunde, die einmal das rechte Auge des Beschnittenen gewesen war. Radik schrie noch einmal auf, dann sank er bewusstlos in sich zusammen. Ómer warf seine besudelte Waffe zur Seite und schmierte gedankenverloren das Blut an seiner Hand in das schimmlige Stroh. Dann spuckte verächtlich aus, riss Radik zum Abschluss den gestohlenen Edelstein vom Turban und stand auf.

»Das gehört mir«, murmelte er und steckte das große Juwel, das bereits seinem fernen Vorfahren Turini gehört hatte und seit vielen Generationen im Besitz der Familie Sud war, in die Tasche seiner schmutzigen Pluderhose. Er überlegte fieberhaft. Jetzt blieb ihm nur eine schnelle Flucht, doch sie wollte gut geplant sein. Ein kopfloses Herumirren im elfenbeinernen Palast würde ihn nur wieder in die Hände der Treuwächter führen, die bestimmt wie ein zorniger Hornissenschwarm durch die Räume jagten. Ob es ihm gelingen konnte, sich unter die fliehenden Gäste seines in dieser Katastrophe geendeten Festmahls zu mogeln und zwischen ihnen verborgen den Palast zu verlassen? Nur mit einem blutigen und schmutzigen Hemd bekleidet wohl kaum. Die Wahrscheinlichkeit, dabei entdeckt zu werden, war viel zu hoch. In seine eigenen Gemächer konnte er auf keinen Fall zurückkehren, auch wenn er sich gerne andere Kleidung besorgt und sich aus seiner übervollen Schatzkiste bedient hätte.

Doch ein kluger Mann wie der ehemalige Vezir hatte für alle Schicksalswenden vorgesorgt. Er hatte noch einen Fluchtplan für schlechte Zeiten vorbereitet und er beeilte sich, ihn umzusetzen. Als der Attentäter, dessen Platz er vorhin in dieser Zelle eingenommen hatte und den jetzt Radik übernommen hatte, festgenommen worden war, hatte Ómer persönlich nach dem Weg gesucht, auf dem der Mönch in den Palast eingeschlichen und bis zum Thronsaal vorgedrungen war. Der schwer verwundete Adelph war zwar nicht ansprech- und damit auch nicht verhörbar, aber die Blutspur, die er in den Korridoren hinterlassen hatte, war deutlich genug gewesen. Sie hatte den neugierigen Vezir in einen heutzutage kaum benutzten Teil des Palastes nahe der Lagerräume bis zu der Stelle geführt, wo sie völlig überraschend vor einer scheinbar massiven Wand endete. Doch nach ein wenig herumprobieren hatte er einen gut verborgenen Schalter im bröckligen und arabesken Gipszierrat der Mauer entdeckt, der eine geheime Tür zu einem längst vergessenen Raum öffnete, dessen Rückwand gewaltsam aufgebrochen war. Von dort gelangte man über einen Tunnel zu den Kanälen, die die Abwässer des Gebäudes in den Syris leiteten.

Damit war das Geheimnis, auf welche Weise der Mönch aus Italmar bis zum Namenlosen hatte vordringen können, gelüftet. Es blieb zwar noch die Fragen offen, wer ihn dabei geholfen hatte und wer ihn angeschossen hatte, aber die wollte Ómer auf sich beruhen lassen, bis er Adleph verhören konnte. Den versteckten Eingang jedoch hatte er versiegeln und den Korridor davor von seinen eigenen Leuten Tag und Nacht bewachen lassen. Dies war zwar nicht der einzige Geheimweg, den es aus dem Elfenbein-Palast gab, von dem der Vezir wusste. Aber er lag dem Zellentrakt am nächsten und war deshalb seine erste Wahl bei der Flucht.

Ómer kümmerte sich nicht weiter um den langsam wieder erwachenden und sich in Schmerzen auf Boden wälzenden Rivalen, mit dem er längst abgeschlossen hatte. Er hatte sich entschieden und verließ deshalb eilig die Zelle. Ihre massive Tür versperrte er sorgfältig mit dem Schlüssel, der praktischerweise noch im Schloss steckte. Den nützlichen Schlüsselbund nahm er danach an sich, denn mit ihm würden sich für ihn auch andere Türen öffnen lassen. Er wollte ihn später in einem der vielen unterirdischen Kanäle entsorgen, wo ein schon lange vorbereitetes kleines Ruderboot auf ihn wartete, das ausreichend Proviant und eine gut gefüllte Kiste mit Goldmünzen und Pretiosen an Bord hatte. Mit diesen Reichtümern, die er als oberster Steuerbeamter aus den Taschen der Bürger von Karukora gestohlen hatte, wollte er den Marat überqueren und das Juwel der Wüste für immer verlassen, um irgendwo im barbarischen Süden, aus dem seine Familie stammte, neu zu beginnen.

Der kleine Mann aus dem Gefängnis, bevor ein Wächter auf die Idee kam, hier unten nach dem Rechten zu sehen.Er schlich an den vielen Zellentüren vorbei, in denen hunderte Gefangene eingesperrt waren. Die meisten hatten es nicht der Gerichtsbarkeit des Namenlosen, sondern seinem grausamen Minister Ómer zu verdanken, dass sie hier unten verfaulten. Hier und dort war nur ein leises Seufzen und Jammern zu vernehmen, manche schlug mit der flachen Hand oder mit blutigen Fäusten gegen das Holz ihrer Gefängnistüren. Doch hinter den meisten war es merkwürdig still.

Seltsam, dass ausgerechnet Adelph und nur er befreit wurde, überlegte Ómer. Und das diese Flucht während des Fests, das mit seiner Palastrevolution enden sollte, geschehen war, war doch ein wirklich merkwürdiges zeitliches Übereintreffen. Das konnte kein Zufall sein. Ob es mit Muhars Verrat und dem Anschlag auf den Regno zusammenhing? Warum hatte ihm der Märchenerzähler Alis vorhin zugezwinkert? Hatte er gewusst, was er für seinen Enkelsohn plante?

Und wer schließlich hatte den Regno Raul ermordet? Gehörte das zu den Plänen seiner Feinde oder steckte ein ganz anderer dahinter, an den er nicht dachte? Oder an die er nicht dachte?

_______

[Zur Fortsetzung …]

Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 9 – Teil 5)“

Kommentar verfassen