Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 6)

[Zum ersten Teil]

»Wenn du meinst. Das sind meine jüngsten Arbeiten; andere müsste ich erst aus meinem Lagerraum holen. Die Bilder für die Ausstellung befinden sich bereits im Rathaus. Ich kann dir einen Termin vor der Vernissage verschaffen.«

»Mach dir keine Mühe«, winkte ich ab, ergriff ein groß­formatiges Bild und stellte es vorsichtig auf dieleere Staffelei. Während ich das tat, gewann ich den flüchti­gen Eindruck eines terrakottafarbenen und grauen Cha­os‘. Die Leinwand war zu meiner Überraschung wesent­lich schwerer, als ich erwartet hatte. Ich trat ein paar Schritte zurück und stellte den Grund fest: Einige Kno­chenstücke, wahrscheinlich von Rindern oder Schwei­nen, waren mit Draht auf ihr befestigt. Grünliches Wachs war gestaltet und aufgebracht, um es wie Gedärm und Haut­fetzen wirken zu lassen. Die verkrusteten Spritzer einer einge­trockneten, dunkelroten Flüssigkeit, die die Kno­chen und das falsche Gekröse besudelten, sahen weder wie Farbe noch wie Ketschup aus; wenn ich mich nicht täuschte, war es diesmal echtes Blut, das Nix verwendet hatte. Die Leinwand wirkte so, als hätte er sie einen Tag lang auf dem Boden eines Schlachthauses liegen gelassen. Der Eindruck, den diese unappetitliche und Übelkeit er­regende Collage auf mich machte, war erschlagend und ich hatte noch einmal den Geschmack meines Mittages­sens im Mund. Ich schluckte zweimal, bis ich meine Stimme wiederfand.

»Das ist … außergewöhnlich. Wie nennst du es denn?«, fragte ich ein wenig heiser. Da er schwieg, sah ich zu ihm hin. Er hatte meine Frage scheinbar nicht gehört, denn er starrte selbstvergessen auf die Leinwand, die Stirn gerunzelt, die Lippen gespitzt. Er wirkte nicht all­zu zufrieden mit seinem Werk. Er schnalzte mit der Zunge.

»Kennst du die Erzählung Tradition von Lara Ledorc?«, erkundigte er sich nach einer Weile. Ich verneinte und gestand ihm ein, dass meine Literaturkenntnisse nicht die fun­diertesten waren. In der Schule hatte ich im Deutschunterricht meistens geschlafen oder Männchen gemalt und auch später nur ein paar Bestseller gelesen, um mitreden zu können. Insgesamt hielt ich Prosa für langweilig und nicht mehr zeitgemäß. Mein Erweckungserlebnis stand mir erst noch bevor.

 »Das ist eine belgische Schriftstellerin, die erst im letzten Jahr gestorben ist. Die schrieb so, wie ich gerne Bilder malen möchte«, erklärte er. Ich sah schaudernd zurück zu der Sudelei auf der Leinwand und nahm mir vor, nie etwas von dieser Ledorc zu lesen.

»Ich habe das Bild nach dieser Er­zählung benannt; es gibt sehr genau die Stimmung wie­der, die ich beim Lesen hatte.« Er machte eine Pause, sammelte sich.

»… da unsere Träume, die wir sorgsam um­hegten, starben, wird zur Klage, was dunkel uns berührt«, fuhr er fort. Ich nahm an, er würde die Autorin zitieren. Tatsächlich war diese Zeile aber aus einem Gedicht von Andernaj, wie mir später Nikolaus Klammer bestätigte. Ich stellte die Leinwand irritiert wieder zurück und nahm das zweite Bild. in die Hand. Es wirkte auf den ersten Blick pflegeleichter und es waren keine Knochensplitter darauf.

»Damit bin ich nicht fertig. Dem Bild fehlt noch etwas. Es ist zu viel Fremdes drin, zu wenig Originalität«, schränkte Nix an den Lippen kauend sofort ein. »Ich habe kürzlich eine Ausstellung von Cy Twombley gese­hen. Man sollte als Maler nicht ins Museum gehen.«

Ich verstand, was er meinte. Ein paar fahrige, schwarze Striche waren zu erkennen. Sie glichen den obs­zönen Schmierereien auf Klotüren. Auch hier fanden sich wieder die Spritzer jener schwärzlich geronnenen Flüssigkeit, die eigentlich nur echtes Blut sein konnte. Da waren auch noch schmutzige, braune Flecken, nach deren Ursprung ich nicht länger nachforschte, und dann, viel zu über­mächtig, stand dort der Anfang eines poetischen Gedichtes hingeschmiert. Es waren zehn, zwölf Zeilen in leuchtend roter, direkt der Tube ent­nommener Farbe – hektisch und aggressiv, wie unter Zeitdruck ausgeführt. Ich weiß noch den Anfang des Gedichts, weil es mich beeindruckte und mich in seiner ausweglosen Düsternis berührte. Es hatte viel mehr Kraft als die Zeilen von Andernaj:

Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verlässt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben.

Ich fragte Nix nicht, von welchem Dichter das war. Die Verse konnten nicht von zeitgenössischen Dichter stammen, dafür wa­ren sie zu gut. Inzwischen habe ich erfahren, dass sie der Anfang des Psalms von Georg Trakl sind. Jonas ver­ehrte diesen expressionistischen, viel zu früh verstorbenen Dichter, zu dem er eine starke Affinität verspürte. Ganz im Gegensatz zu mir war er, wie er mir dann auch in dem Interview und bei anderen Gelegen­heiten lässig und recht überheblich demonstrierte, äußerst belesen.

Wie kann ich ein Bild wie dieses mit Worten beschrei­ben? Es war bedrückend, ja, beängstigend. In der Farbgebung spiegelte sich das verzweifelt Triste des Gedichttextes. Aber es be­traf mich bei weitem nicht so tief wie die Collage aus Knochen auf der anderen Leinwand oder wie sein Frühwerk damals in der Ausstellung. Ich habe vielleicht nach dem Schock eben zu viel von ihm erwartet. Das mag sein. Aber Nix hatte mit seiner Eigenkritik recht. Er hatte es selbst gesagt: Das hier war nur eine durchaus gelungene, aber beliebige Illus­tration der Gedichtzeilen ohne Kongenialität.

Ich nickte ein wenig enttäuscht und holte das dritte Bild, das mich nun wirklich erstaunte, weil es so ganz anders als die beiden vorher war. Es war ein echtes, will sagen, klassisches Öl­gemälde, ein gelungenes Portrait, das in der Weichheit der Pastelltöne und der expressiven Auffassung entfernt an Oskar Kokoschka erinnerte und abei trotz des locker hingeworfenen Farbauftrags eine nur un­zulänglich verborgene Wut ausstrahlte. Obwohl das Portraitgemälde in Auffassung und Handwerk besser als alles war, was ich selbst je schaffen würde, missfiel es mir so­fort. Nix schien das zu bemerken und er sagte abwer­tend:

»Das ist eine Auftragsarbeit. Ich muss leben. In meine Ausstellung kommt solch ein Bild selbstverständlich nicht. Ich glaube aber, es ist im Großen und Ganzen eine durchaus gelungene Fingerübung. Allerdings hätte ich natürlich lieber ein anderes Sujet gehabt, das liegt ja auf der Hand.«

Wie wahr! Das Sujet war wirklich denkbar schlecht gewählt, es beeinflusste meine Meinung über das Bild entscheidend, weil ich die dargestellte Person aus tiefer Seele Grund verabscheute. Es war Dr. Pauli, der mir aus seinen schmalen Schweinsäuglein feist und selbstzufrieden ent­gegen sah. Er wirkte arrogant, überheblich, auch ein wenig gefährlich, sein Lächeln war ein Zähnefletschen – ganz der erfolgreiche CSU-Politiker.

»Man erzählt sich, du bist sein Neffe. Ist das wahr?«, hakte ich ein. Ich hatte ihn erwischt. Das Gesicht verziehend, rutschte Nix nervös auf seinem Stuhl hin und her.

»Das bleibt jetzt unter uns«, sagte Nix beschwörend. Ich nickte beschwichtigend, obwohl ich durchaus nicht die Absicht hatte, interessante Enthüllungen für mich zu be­halten. Schließlich fühlte ich mich als kritischer Journalist und nicht als Hofberichterstatter.

»Meine Mutter ist seine Halbschwester aus der zweiten Ehe meines Großvaters, des ehrwürdigen Karl Maria Pauli, der ehemals Vorstandsmitglied der Follia-Textilwerke war, aber nun im gut verdienenden Ruhestand ist. Der Alte ist die graue Emi­nenz der Familie. Auch ihn soll ich endlich malen, aber ich habe mich bisher erfolgreich dagegen gewehrt. Lan­ge kann ich mich allerdings nicht mehr sträuben, denn Opa ist der Besitzer dieses Hauses hier und er lässt mich hier mietfrei wohnen«, erklärte er.

Seine letzten Worte stieß er undeutlich zwischen geschlossenen Zähnen hervor. Seine Unzufriedenheit war greifbar. Warum erzählte er mir das? Ihm war doch bewusst, dass ich von der Presse war und er musste sich gewahr sein: Diese Enthüllung war für mich ein gefun­denes Fressen.

[Zum 7. Teil …]

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