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Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 9 – Teil 3)

Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«

Zwl

Die suchenden Hände des Mönchs hatten links und rechts an den Seiten der Armlehnen zwei geschnitzte Arabesken gefunden, die wie die starren Augen von Echsen aussahen. Auf deren Mitte, auf die schlitzförmige Iris, legte er nun entschlossen seine Zeigefinger und drückte sie fest nach Innen. Adelf musste sich dabei anstrengen, denn der Mechanismus war alt und eingerostet, aber dann schnappten geräuschvoll zwei Riegel an der Hinterseite des Throns auf. Auf Rückenhöhe senkte sich dort kleine versteckte Klappe herab, hinter der sich offenbar ein Geheimfach verbarg, das der Mönch mit seinen seltsamen Sinnen erspürt hatte.

»C’est le noyau du caniche«, murmelte Juel.

Selin wand sich aus dem Griff des Meisterdiebs und eilte hinter den Falkenthron. Die anderen folgten ihm neugierig. Auch Adelf stand schwankend auf. Er schien sich nur schwer von seinem Sitz lösen zu können, als wäre er mit einem zähen Teer dort festgeklebt worden. Selin langte aufgeregt in das kleine Fach im Holz der Rückfront und beförderte eine schmale, in ein brüchiges Pergament eingeschlagene Platte hervor. Er befreite die Platte grob von ihrer schützenden Hülle. Das uralte braune Papier zerfiel ihm unter der Hand in seine Bruchstücke und segelte wie Herbstlaub zum Boden. Selin hob das rechteckige Fundstück etwas enttäuscht ins Licht. Er hatte etwas anderes – etwas viel Spektakuläreres – erwartet, als nur eine grüne Scheibe, auf der messingfarbene Linien ein seltsames und chaotisches Muster bildeten.

»Ist das alles?«, fragte er. »Was soll das denn sein? Das ist doch keine Landkarte!«

Juel trat neben in und bückte sich, untersuchte die ausgeblichenen, bräunlichen Tintenspuren auf den Papierstücken am Boden. Er hob eines auf und zerrieb es zwischen den Fingern.

»Die Karte hast du eben zerstört«, sagte er und stand wieder auf. »Das ist nicht so tragisch, denn du hast etwas viel Besseres …« Juel nahm ihm die Platte vorsichtig aus Selins Hand. Er betrachtete sie fasziniert.

»Nein, das ist zwar keine Karte, aber viel, viel mehr!« Er drehte die einen Handteller große Platte ein paar mal im Lichtschein der Fackeln herum und reichte sie dann ehrfürchtig an Selin zurück.

»Pass gut darauf auf«, flüsterte er, »dies scheint mir ein Vorgängerrelikt von unschätzbarem Wert zu sein und du solltest es niemandem zeigen. Es ist gut möglich, dass du damit sogar den Ewigen Krieg beenden kannst. Manchmal genügt es, ein kleines Steinchen an einer bestimmten Stelle ins Wasser zu werfen und alles ändert sich. So haben schon Weltreiche geendet – mit einem kleinen Stein. Ceci est parfois le cours du destin. Ich will behaupten, dass diese Platte, die die Vorgänger übrigens Platine genannt haben, viel wertvoller ist als die funkelnden Brillanten im Auge des Falken, für die sich die Diebesgilde interessiert. Wenn sie das wüssten, könnte es sein, dass sie ihr Abkommen mit euch ein wenig … modifizieren.«

Er warf einen warnenden Blick auf Semiras Dienerin, die das Interesse an dem Fund verloren hatte und auf den Thron kletterte, wo sie – breitbeinig auf den Armlehnen balancierend – mit ihrem Dolch an einem der großen Brillanten in den Augen des Falken herumstocherte, um ihn aus der Fassung zu hebeln. Das Holz des Stuhls knirschte und ächzte. Es klang, als wolle es sich über diese ruchlose Tat beklagen. Auch Adelf, der in der Nähe stand und mit einer Hand weiterhin die glatte, schwarze Oberfläche des Throns streichelte, schien nicht einverstanden. Er verzog das Gesicht und litt eine Qual, als fühle er den kalten Stahl am eigenen Leib, als würde die Diebin ihm selbst ihr Werkzeug in die Augenhöhlen bohren. Doch er sagte nichts und ließ sie gewähren.

Selin versteckte die grüne Platte eilig in seinem Hemd. Sollte sein Großvater entscheiden, was mit dem Fund anzufangen war.

»Aber wie soll uns dieser alte Gegenstand helfen, die Ebenen des Ewigen Krieges zu durchqueren?«, fragte er Juel, zu dem er immer mehr Vertrauen fasste. Obwohl er wusste, dass der Dicke ein Dieb war und wahrscheinlich eine beachtliche Liste von Gaunereien und anderen Gesetzesübertretungen auf dem Kerbholz hatte, hatte er doch das Gefühl, dass der angebliche Kaufmann es gut mit ihm meinte. Dieser seltsame Mann verbarg ein Geheimnis und eine Geschichte, die er gerne einmal gehört hätte.

»Du hast doch vorhin der Geschichte vom Ur-Meister Straif und seinem Schlüsseldolch gelauscht, die der Märchenerzähler vorgetragen hat«, erwiderte Juel und wirkte plötzlich sehr aufgeregt, »diese … Platine ist etwas ganz ähnliches. Sie ist der echte Weg, der in den Tag führt und nicht diese Papierfetzen, in die sie eingewickelt war. Auch diese Platine ist ebenfalls eine Art Schlüssel. Doch in ihr sind nicht die Schriften Baruchs verborgen. Ich bin solchen Gegenständen schon häufiger begegnet. Im Moment ist die Platine so nutzlos wie ein versiegeltes Buch in einer Sprache, die niemand versteht. Wir werden ein Gerät brauchen, das den Inhalt lesen kann. Ich habe zum Glück eines in meinem Kaufmannswagen.«/p>

Er sah sich kurz um, dann schob er nur für Selin sichtbar seinen Kragen ein wenig zur Seite. Ein Halsband wurde sichtbar, an dem eine weitere der seltsamen grünen Platten befestigt war. Sie war wesentlich kleiner als die Platine aus dem Thron und wirkte wie ein Schmuckstück.

»Schau hin, auch Adelf trägt solch eine um den Hals. Es ist das Symbol der Kirche der Gemeinschaft der leidenden Gene, das die wahrhaft Gläubigen bei ihrer Initiation zur Erinnerung an den Gründerabbas Straif verliehen bekommen. Damit erkennen wir einander. Doch unsere Platinen sind nur ein Abzeichen, ein wertloses Schmuckstück, von dem niemand mehr weiß, in welcher alten Vorgänger-Maschine es einmal steckte und wozu es diente. Es ist Schrott, der zuhauf bei Kellerausschachtungen oder in alten Bergwerksschächten gefunden wird. Die Hindersöhne schmücken damit die Wände ihrer Häuser und man kann sie auf den Märkten von Hossberg billig als Glücksbringer kaufen.«

Juel zögerte und nahm den jungen Mann zur Seite. Er senkte weiter seine Stimme, aus der inzwischen jeder Ost-Akzent verschwunden war, und Selin musste sich anstrengen, ihn noch zu verstehen. Doch es schien sich niemand für ihr Gespräch zu interessieren. Semira und Adelf sahen ungeduldig Jalah zu, die inzwischen das erste Auge des Falken an sich gebracht hatte und sich mit dem zweiten beschäftigte.

»Doch manche dieser Platinen haben noch ihre Kraft. Sie können Goleme besänftigen und Vorgängergeräten Befehle geben. Wenn ich mich nicht irre, macht Der Weg deinen Großvater und dich zu sehr mächtigen Männern. Ich hatte meine Zweifel, doch ich bin mir nun sicher, dass uns diese Platine nach Pardais führen kann. Und ich möchte, wenn ich darf, mit euch gehen.«

Es knackte hässlich und dann hielt Jalah triumphierend auch den zweiten Schmuckstein in der Hand. Eilig kletterte sie von dem entweihten Thron, der viel von seiner einschüchternden Wirkung verloren hatte.

» Jeder hat, was er wollte. Es ist an der Zeit, dass wir verschwinden!«

Juel legte kurz seine Hand auf die von Selin.

»Wir reden später weiter, wenn wir in Sicherheit sind.« Laut sagte er:

»Einen Moment noch, isch ‘abe beinahe etwas vergessen …«

Juel kramte in seiner Tasche und trat an den Thron. Dort legte sorgsam einen Zettel auf den Sitz, dann befestigte er ihn mit dem geliehenen Dolch, den er tief durch das Papier in das Holz trieb.

»Isch denke mal, das ‘ier wird der „Unterwerfer“ wohl kaum überse’en können«, stellte er dann mit einem fachmännischen Blick auf sein Werk fest. »Le cube est tombé!«

Selin, der schon hinter den anderen hergehen wollte, drehte sich noch einmal neugierig um.

»Was ist das denn?«

»Dies ist eine Nachricht für den Namenlosen. Alis hat sie mir gegeben. Isch sollte sie ‘ier zurücklassen. Isch weiß nicht, was auf ihr steht.«

Juel zuckte mit den Schultern und Selin tat es ihm nach, obwohl er seinen ganzen Besitz verwettet hätte, dass ihn der Dieb gerade belogen hatte. Juel hatte mit Sicherheit gelesen, was auf dem Zettel stand. Aber er fragte nicht nach. Er hatte schon lange aufgegeben, sich Gedanken über die Beweggründe seines Großvaters zu machen. Er vertraute ihm einfach, denn bisher hatten alle seine Pläne funktioniert. Sogar seine Semira würde ihn bei der Flucht nach Pardais begleiten. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte das Mädchen sich zu ihm und winkte ihn weiter. Sie lächelte ihm zu und dem jungen Mann wurde es warm in der Brust.

Was konnte denn jetzt noch schiefgehen?

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