Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 3)

[Zum ersten Teil]

Nachdem ich also auf dem üblichen Wege durchaus nichts in Er­fahrung bringen konnte, wollte ich mich direkt an das städtische Kulturreferat wenden. Denn über dieses Amt musste die Entscheidung gelaufen sein, das Rathaus­fletz für die Ausstellung bereitzustellen. Doch ich war wegen einiger unfreundlicher Artikel, in denen ich Dr. Pau­lis spießbürgerlich-konservative Haltung kritisiert hatte, in seinem Referat persona non grata und wurde bereits von einer unbedeutenden Sekretärin im Vorzimmer sei­nes Stellvertreters, des schmierigen und absolut unfähi­gen Winfried Dieckmeyer, abgewiesen. Frustriert ließ ich deshalb dieses Geheimnis ein Geheimnis bleiben und widmete mich privaten und erfreulichen Dingen, bis mich Alfons Andernaj etwa eine Woche spä­ter über den Tresen, an dem ich ihm sein Dunkles zapfte, ne­benhin ansprach:

»Du, Schorsch, i‘ hab‘ g’hört, dass du di‘ für den ge­heimnisvollen Jakob Nix interessiersch. Willsch du wissen, wer’s is‘?«, sprach er mich mit seinem furchtbaren Schwäbisch an. Ich hatte mich gut unter Kontrolle und ver­schüttete nur wenig Bier. Ich sah ruhig zu Andernaj hin, der jetzt freundlich grinste und dabei seine unappetitli­chen Zahnruinen zur Schau stellte.

Alfons Andernaj war ein öffentlicher Alkoholiker und ge­hörte nicht gerade zum engen Kreis meiner Bekannten. Er war ein immer unrasierter, früh in Unehre ergrauter Mittvierziger, der schmutzige kleine Gedichte und Shortstorys im Stil von Bukowski schrieb und sie bei ei­nem kleinen örtlichen Verlag veröffentlichte. Da ihm das jedoch nur wenig Geld einbachte und er ein durch und durch arbeitsscheues Subjekt war, ließ er sich von älteren Frau­en aushalten, die er sich mit seinem Holzfällercharme und seiner aufgesetzten Exzentrizität einfing. Sie lie­ferten ihm ihrerseits wieder ausreichend Stoff für sei­ne unanständigen Gedichte. Da er es wegen seines Alkoholkonsums nie fertig brachte, den schönen Schein eines genialischen Künstlers längere Zeit aufrecht zu erhalten, setzten ihn seine Damenbekanntschaften meist nach einem Vierteljahr angeekelt vor die Tür. So hatte er zwischendurch immer wieder Bettelphasen, in denen er bei gutmütigen Freunden oder im Nachtasyl sein Zwi­schenlager aufschlug, bis er seinen nächsten Fang machte. Er lebte in diesen Zeiten hauptsächlich von gelie­henem Geld, das er selbstverständlich nie zurückzahlte. Seine Gedichtvorträge besaßen für die, die ihn noch nicht kannten, einen hohen Unterhaltungswert und waren für seine doch recht zahlreichen Fans ein absolutes Muss:

Er war pünktlich zu je­der seiner Lesungen stockbetrunken, so betrunken, dass er schon nicht mehr stehen konnte. Er lag dann quer über dem Tisch und schleuderte seinen teils entsetzten, teils amüsierten Zuhörern kaum verständliche Wortfetzen und Beschimpfungen und Speichel entgegen. Das machte er so lange, bis auch der Letzte angeekelt gegangen war oder er selbst erschöpft auf dem Tisch einschlief. In unserer kleinen Stadt lockten seine Exzess-Lesungen kaum mehr einen Hund hinter dem Ofen hervor, aber wenn er mit seinen dünnen Gedichtbänden über die Dörfer ging, war er im­mer wieder ein vieldiskutierter Skandal.

An jenem Abend in der Kneipe war er einmal mehr mitten in einer sei­ner Hungerphasen; er wirkte sehr verwahrlost und war angetrunken. Er versuchte, seinen Blick auf mich zu konzentrieren, aber er rutschte immer wieder ab.

»Schpendier‘ mir ’n Bier, dann verrat‘ ich’s dir«, reimte er lachend und ich stellte ihm nickend sein Dunkles auf den Tresen. Während er sofort nach seinem Glas griff, beugte er sich nach vorne und hielt die andere Hand seit­lich an den Mund. Sein fataler Atem schlug mir entge­gen, er roch, als hätte er gerade ein überfahrenes Frettchen gefressen.

»Nix is ’n unversöhnlicher Feind von dir«, flüsterte er mit Verschwörermiene.

»Ein Feind? Du nimmst mich auf den Arm. Ich habe keine Feinde. Dazu bin ich zu unbedeutend und friedliebend«, erwiderte ich achselzuckend. Ich wollte mich kopfschüttelnd ab­wenden, aber er hielt mich flink am Ärmel fest.

»Doch, das behauptet er allen Ernstes! Ehrlich, Schorsch, interessiert dich das denn nicht? Du kennst ihn und er hasst dich.« Widerwillig drehte ich mich wieder zu dem Säufer. Andernaj konstatierte erfreut meine Aufmerksamkeit. Befriedigt ließ er mich noch ein wenig zappeln und trank zuerst genüsslich von seinem Bier.

»Jetzt? Was ist?«, fragte ich ungeduldig. Er genoss offen­sichtlich diese kleine Macht. Obwohl ich mich eigentlich über ihn ärgerte, tat er mir ein wenig leid, weil er so et­was nötig hatte.

»Du kennst ihn«, sagte er nach seiner Kunstpause, in der er sich den Schaum vom Dreitagebart wischte. »Du warst mit ihm auf der Schule, hat er mir erzählt. Jakob Nix ist kein anderer als … Tataaa! Jetzt halt dich fest … als Jürgen Niedermayer.«

Für einen Moment hatte mich Andernaj tatsächlich sprachlos gemacht. Aber meine Reaktion war nicht die, die er erwartet hatte, das war ihm anzu­merken. Denn ich überlegte stirnrunzelnd und versuchte eine Weile vergeblich, den Namen einzuordnen. Dann fielen mir Jürgen und das kleine Erlebnis während der Schulaus­stellung wieder ein. Wegen meiner damaligen kurzen und flapsigen Bemerkung, die ich längst wieder verges­sen und auch nicht sehr böse gemeint hatte, hasste er mich? Konnte ein so gefestigt wirkender Mensch auf diese Weise empfindlich und nachtragend sein? Oder war ich ihm später noch einmal unbeabsichtigt auf die Füße getreten? Wenn ja, dann konnte ich mich nicht mehr entsinnen.

»Ich erinnere mich dunkel an den Niedermayer: Er ist ziemlich fett, hat aber ein auffallend mageres Gesicht, richtig? Aber das ist doch mindestens drei, was sage ich, vier, eher fünf Jahre her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich wusste gar nicht, dass er noch in der Stadt ist. Woher kennst du ihn denn?«, fragte ich. Ander­naj strich sich durch seine Schmalzlocke. Es war ein Fehler von mir, ihn das zu fragen, denn eine von seinen Unarten war seine egomanische Geschwätzigkeit, die er auch sofort mit einer Wortflut unter Beweis stellte:

»Nun, vor, lass mich sagen, vier Wochen, kriege ich einen Brief. Die Post hat eine Weile gebraucht, bis sie ihn zu mir in meine jetzige Bleibe nachsandte. Ich bin nicht mehr so einfach zu finden, weil ich ja nicht mehr unter der Adresse wohne, die auf der ersten Seite meines letz­ten Gedichtbandes steht. Er heißt: Aus meiner Gesäßtasche. Toller Titel, nicht wahr? Leider habe ich ihn geklaut. Kennst du ihn? Das ist mein bisher bester! Verstehst du, da war ich ganz nah dran.« Er stellte sich in Position. Dann rezitierte er sich selbst mit zitternder Stimme, von seiner eigenen Wortgewalt er­griffen.

»Wo Beginne
ihr Ende schon in sich tragen,
Sein nur Wille ist,
da will ich sein,
will Anfang und Wehe,
Schmerz und Dich«,

begann er recht verheißungsvoll, landete jedoch bei der nächsten Strophe wieder bei seiner üblichen Pornogra­fie. Eines muss ich ihm lassen: Als er bemerkte, wie peinlich ich berührt war und ungeduldig wurde, brach er sofort ab und nahm seine Erzählung wieder auf.

»Weißt du, da war ich noch mit Elli zusammen, das war eine Frau! Ich sage es dir: Elvira Böckelmann, Scheiße, Mann, ich sage es dir … Aber, naja, du weißt ja, wie das bei mir ist, hehe. Die fühlte sich plötzlich ausgenutzt. Kannst du das verstehen, ich soll … dabei bin ich doch ein Künstler.« Andernaj geriet auf Abwege. Ich seufzte deshalb hörbar. Er richtete sich sofort in die Höhe.

»Wo war ich eben stehen geblieben?«

 »Ja, genau. Also, stell dir mal vor, dieser Brief war die erste Fanpost, die ich je erhalten habe. Ich habe zwar schon mal einen Schrieb von Günter Grass …«

»Von Niedermayer?«, warf ich eilig ein, denn ich wollte die abendfüllende Geschichte von ihm und seinen Er­fahrungen mit dem PEN-Club nicht noch einmal hören.

[Zum 4. Teil …]

4 thoughts on “Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 3)”

  1. „Ich hatte mich gut unter Kontrolle und ver­schüttete nur wenig Bier.“
    Ich musste sehr über diese kleine feine Komik lachen😊😅

  2. Da ich gerade übers Wochenende zum Wandern im Bayerischen Wald bin, muss ich jetzt auch mit meinem Handy kommentieren. Ich freue mich, dass du noch dabei bist. Da ich immer Montags eine Fortsetzung bringe und noch nicht bei der Hälfte angelangt bin, wird es noch ein wenig dauern, bis der Jürgen hier vollständig zu lesen ist. Grüße aus dem sonnigen Bodenmais. Ich werde jetzt auf den Großen Arber steigen.

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