Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 2)

[Zum ersten Teil]

Er trat zum nächsten Ausstellungsobjekt, die anderen folgten ihm. Erneut vernichtete er Sinn und Gestalt des Bildes mit seiner herablassenden, leider jedoch auch zu­treffenden und gerade in ihrer Kürze bösartigen Kri­tik. Dann gingen alle weiter zum folgenden Gemälde. Jürgen war ihr König, ihr Führer. Sie waren nur sein johlendes Gefolge ohne eine eigene Meinung. Jede Spit­ze von ihm fand lachenden und zustimmenden Beifall. Für einen Gänsehaut erzeugenden Moment sah ich statt Jürgen Joseph Goebbels vor mir. Ein bitterer Geschmack lag plötzlich auf meiner Zunge.

Nachdem Jürgen auch mein Bild mit einem von einem herablassenden Schulterzucken begleiteten Verriss dem Gespött der Gruppe preisgegeben hatte, was ich, ob­wohl ich es erwartet hatte, wie einen Tritt in den Unter­leib empfand, konnte ich mich auf keinen Fall mehr zu­rückhalten, als alle, vor Ehrfurcht erstarrt, ergriffen schwiegen und über das Wahre, Gute und Schöne medi­tierend vor seiner Collage standen. Ich musste mich rä­chen. Ich musste den weihevollen Augenblick kaputt machen. Das war ich den anderen Malern und der boh­renden Kränkung in meinem Herzen schuldig. Voller Abscheu stieß ich meine Worte wie Hagens Speer in Jür­gens Rücken und hoffte, dass ich seine verwundbare Stelle fand:

»Schade, dem Bild fehlen ein paar vertrocknete Pommes frites. Dann wäre es gelungener und ausgewoge­ner«, stieß ich zornig heraus. Zehn wütende Augenpaare wandten sich zu mir. Sie musterten mich feindselig und auch ein wenig unsicher. Ich empfand eine ehrliche Be­friedigung dabei, ihnen ihre heilige Kuh geschlachtet zu haben. Jürgen zuckte erschreckt zusammen, fuhr herum und sah mich sehr überrascht an. Er bemerkte mich erst jetzt. Er kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zu­sammen und schob das Unterkiefer mit einem hörbaren Knacken nach vorn. Dadurch verwandelten sich seine vergeistigten Gesichtszüge plötzlich in eine brutale und aggressive Maske. Ein sezierender Blick glitt sehr langsam an mir her­ab. Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück, mich gegen einen körperlichen Angriff wappnend, der nun als eine unausgesprochene Drohung in der Luft lag. Doch dann lachte Jürgen überraschend auf. Dieses freudlose und kurze Lachen war ein Markenzeichen von ihm.

»Da hast du recht, ich hatte leider Angst vor Schmerzen und Konsequenzen«, stellte er wegwerfend fest. Dabei klang er äußerst unzufrieden. Ich verstand damals seine Bemerkung nicht. Aber ich verschränkte die Arme, hob die Augenbrauen und lächelte wissend. Wenn sich zwei Künstler unterhalten, hat der verloren, der zuerst seine Unwissenheit bekennen muss. Diese Regel hatte ich da­mals bereits gelernt und gut verinnerlicht. Ich wartete auf die unvermeidliche verbale Auseinandersetzung, die mir besser lag und bei der ich einige Punkte gut machen wollte. Doch mit Jürgen konnte man solche Spiele nicht machen. Er mus­terte mich noch einmal scharf und nickte einmal, zu ei­nem sicherlich nicht schmeichelhaften Ergebnis kom­mend. Dann ließ er mich und die ganze Gruppe einfach stehen, ging mit schnellen Schritten aus der Aula. Fast rannte er. Seine Epigonen eilten nach einer Schreckse­kunde hinter ihm her. Einer fand noch die Zeit, mir im Vorbeigehen ein Schimpfwort zuzuflüstern. Ich sah die­sem ungeordneten Rückzug nach und glaubte, ich wäre als Sieger auf dem Schlachtfeld verblieben. So naiv war ich damals noch.

Das war meine erste Begegnung mit Jürgen. Sie verlief nicht allzu glatt. Ich hielt es auch nicht für besonders wahrscheinlich, dass ihr noch weitere folgen würden. Tatsächlich hörte ich längere Zeit nichts mehr von ihm. Übrigens zog er bereits am nächs­ten Tag sein Bild beleidigt von der Ausstellung zurück, was ich als eine äußerst kindische Reaktion empfand.

Ich habe ihn dann noch ab und an von der Ferne gesehen, immer von seinen Leuten umringt, die fast alle aus seiner Klas­se waren. Einmal, vielleicht ein Jahr später, in einem Café, schnorrte ich ihn um eine Zigarette an, die er mir dann auch gab. Nach dem Fachabitur jedenfalls verlor ich seine Spur, bis ich von einem Bekannten Erstaunli­ches über ihn hörte. Das war vor nun fast vier Jahren.

Ich hatte wegen akuten Geldmangels mein Kunststudi­um unterbrochen; natürlich nur kurzzeitig, wie ich mir beruhigend einredete. Ich arbeitete, da meine Bilder kei­ner kaufen wollte, als freier und schlecht bezahlter Mit­arbeiter bei der Stadtzeitschrift MegaSzene von Rainer Werner. Abends stand ich zusätzlich viermal in der Woche in ei­ner Musikkneipe hinter der Theke und perfektionierte das gleichzeitige Einschenken von vier Weißbieren. Davon wurde ich zwar nicht reich, aber es genügte für das sparsame Leben, das ich damals führte. Zu jener Zeit war ich nur für mich selbst verantwortlich. Es gab für mich Wichtigeres als neue Kleidung und einen vollen Bauch. Freilich hatte ich meine Hoffnungen noch nicht aufgege­ben, dass ich einmal mit meiner Kunst groß heraus käme, aber die Umstände zwangen mich doch zu diesen Zugeständnissen. Immerhin musste ich nicht mehr bei der Post Briefe austragen.

Ich sah mich selbstbewusst durchaus als einen bilden­den Künstler an. Nur wenn ich malte, fühlte ich mich mit mir und meinem Leben eins. Doch ich musste auch leben und so wurden die Dinge, die mir wichtig waren, durch eine außer Kontrolle geratende, geradezu mysti­sche Dynamik in eine immer knapper bemessene freie Zeit gedrängt, die zusätzlich durch eine sich langsam entfaltende, enge Partnerschaft mit meiner späteren Frau Christine noch einmal beschnitten wurde. Ich war nur noch ein Wochenend-, ein Sonntagsmaler und mir gelang es über Jahre hinweg nicht, mich in meiner Kunst weiter zu entwickeln: In der Rückschau betrach­tet, dilettierte ich vor mich hin. Falls ich diese Tatsache damals überhaupt akzeptierte, litt ich jedoch noch nicht unter ihr. Ich hatte mich mit dieser Art zu leben arran­giert und hoffte, sie würde ewig währen.

Ich ging mit meinen Werken kaum an die Öffentlichkeit. Das lag vor allem in meiner Unsicherheit und Schüch­ternheit begründet. Anstatt der banalen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, machte mir vor, mich würde in erster Linie die Prostitution bei irgendwelchen dum­men Menschen, die dazu nötig gewesen wäre, ekeln. Es ist doch so: Schon um zu kleineren Erfolgen zu kom­men, muss man sich als Künstler bei einer Anzahl von Leuten anbiedern; ihnen, um es einmal deutlich zu sa­gen, in den Arsch kriechen, um ein paar kleinere Gefäl­ligkeiten zu erhalten: Vielleicht einen Raum, in dem man seine Bilder ausstellen kann, Genehmigungen, falls man sie verkaufen will, einen Rezensenten bei der Zei­tung oder beim lokalen Rundfunk, eine Firma oder ein Lokal, die mit einem kleinen Zuschuss das Plakat zur Ausstellung finanzieren, eine Bank, die bei der Werbung hilft. Und dann ist man wie kein an­derer der unqualifizierten Kritik von Personen ausgelie­fert, die in unangreifbaren Stellungen sitzen und ernst­gemeinte und tief empfundene Arbeiten mit einer nach­lässigen Handbewegung als wertlos einstufen können.
Nun, bei Jürgen war das allerdings alles anders. Ihm ge­lang offenbar mühelos, woran sich andere ein Leben lang vergeblich abarbeiteten. Die wenigen Spötter – ich gehörte selbst zu ihnen – behaupteten, es läge an seiner Verwandtschaft mit dem Kulturreferenten Dr. Arno Pauli. Jürgen war, das ist inzwischen ein offenes Ge­heimnis, sein Neffe. Die Wohlmeinenden konterten, Qualität würde sich eben auch heutzutage noch durch­setzen. Wo die Wahrheit auch zu finden sein mag, Jür­gens Aufstieg zu einer Berühmtheit ging atemberau­bend schnell. Er benötigte nur drei Monate nach seinem ersten öffentlichen Auftritt, um die Kunst- und Kultur­szene der Stadt zu überwinden und auch überregional unvermeidbarer Mittelpunkt und Gesprächsthema Nummer Eins zu werden. Er konnte seine Bilder, die auf dem Markt erstaunliche Preise erzielten, problemlos verkaufen.

Ein Bekannter, ich weiß nicht mehr, wer, erzählte mir Anfang Januar, dass bald ein gewisser Jakob Nix seine Bilder ausstelle und das, man höre und staune, im obe­ren Rathausfletz. Das ist bekanntlich ein altehrwürdiger, überladen barocker Gang von den Ausmaßen eines Saal­es, den höchstens alle Jubeljahre einmal, meist kurz vor der Wahl, der hiesige BBK für eine Sammelausstel­lung bekommt. Der Vorstand des Bundes Bildender Künstler, damals noch mit tatkräftiger Unterstützung der guten Margot Bitt­ner-Bach, muss dafür jedes Mal von Neuem einen harten Kampf mit den Stadträten und den Betonköpfen der CSU-Fraktion ausfechten, die den Saal lieber für Tagun­gen und Gesellschaften, für den Ball des Sportes oder ähnlichen Unsinn benutzt sehen wollen.

Ich hatte für diese Mitteilung meines Bekannten nur un­gläubiges Kopfschütteln. Ich konnte es erst recht nicht glauben, als ich erfuhr, dass dieser Nix ein junger Künstler aus unserer Stadt war. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Das geschah ausgerechnet mir, der ich mich immer als gut informiert betrachtete, für die MegaSzene Künstlerportraits machte und dort mit spitzer Feder Ausstellungen rezen­sierte.

Nach ein paar Tagen tauchten allerdings überall in der Stadt schlichte Plakate auf, die auf die Ausstellung von Nix im Rathaus Anfang des nächsten Monats hinwie­sen. Wie aus den Plakaten ersichtlich war, hatte er sie unter das seltsame Motto GrauSamen gestellt. Ich holte ein paar Erkundigungen ein, aber meine sonst recht zu­verlässigen Quellen wussten nichts über den geheimnis­vollen Phantomkünstler zu berichten, der ihnen so un­bekannt wie mir selbst war. Natürlich fiel mir die se­mantische Bedeutung des Nachnamens auf: Es lag klar auf der Hand, dass Nix ein Pseudonym war. Es gab auch niemanden mit diesem Namen im Telefonbuch. Wer steckte also dahinter?

[Zum 3. Teil …]

2 thoughts on “Die Wahrheit über Jürgen – Ein Künstlerroman (Teil 2)”

  1. Endlich habe ich die Zeit gefunden, um ein wenig weiter zu lesen ^^
    Ich bin sehr gespannt und freue mich auf die weiteren Teile! Da muss man wirklich sagen, du weißt, wie du den Leser fesselst..
    Kann es Kaum erwarten bis es so richtig los geht😊
    Eine Mini Anmerkung hätte ich nur… Ich finde es etwas seltsam, dass in einem Abschnitt steht, er hätte beinahe. Berühmtheit erlangt und sei überregional Gesprächsthema Nummer eins, während weder der Erzähler noch seine Freunde ihn kennen würden. Ich meine das ist zwar an sich möglich, doch beides so wie es da steht schließt sich etwas aus, wie ich persönlich finde…
    Ist. Aber auch nur ein verschwindend kleiner Gedanke 😅😉
    So, weiterer geht’s mit lesen😊

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