Tradition – Teil 2 (Erzählung)

6 Er lag im Bett und schlief. Plötzlich wurde an den versperrten Glasflügeln des Türsaals lautstark gerüttelt, dann trat jemand fest gegen ihr Schloss, sprengte es. Krachend wurden die Türhälften aufgeschleudert. Ein Mann trat polternd ein und schlug die Türen wie endgültig hinter sich zu, lehnte sich gegen sie, damit sie sich nicht wieder öffneten. In dieser Haltung wartete er geduckt und lauschend, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es kostete ihn Überwindung, sie ganz zu öffnen. Die Angst saß zu tief. Vorsichtig sah er sich um. Er spürte keine Gefahr. Erleichtert atmete er aus.

Darüber erwachte der Alte. Verwundert richtete er sich halb in die Höhe. Das war der erste Besuch, dessen Ankunft ihm nicht bereits Tage vorher ein bohrender, nadelfeiner Schmerz in der Mitte der Stirn angekündigt hatte. Jetzt musste er schnell sein: Der Alte stieg aus dem Bett und trat eilig zu seinem Tisch, dessen Berührung ihm Geborgenheit und Kraft schenkte. Er schüttelte benommen und unwillig den Kopf, wartete, bis der Besuch den Weg durch die Küche zu ihm gefunden hatte. Der Mann kam ungeschickt lärmend herein Er rutschte mehrmals auf den schmierigen Küchenfliesen aus und fluchte mit Nachdruck. Dann standen sie sich gegenüber. Nein, der Besuch war kein Verwandter. Er hatte ihn noch nie gesehen. Er fürchtete sich. Dankbar war er nun seinem Tisch, der ihn stützte.

Der Besuch spuckte auf den Boden. Er sagte:

Ich heiße, wie ich heiße, nenne mich, wie du willst.“

Der Alte begleitete seine Antwort mit einem heftigen Nicken:

Ich weiß das. Ich weiß das doch. Du bist mir nicht unbekannt. Manchmal habe ich auf dich gewartet. Oft habe ich dich gefürchtet. Jetzt bist du mir gleichgültig. Wenn du das jetzt nicht verstehst, dann verstehst du es später.“

Nenne mich, wie du willst“, wiederholte der Besuch. Eine Spur von Ungeduld war nun in seiner Stimme.

Ich habe jetzt keinen Namen für dich, denn du bist mir nicht mehr wichtig. Aber einmal gab ich dir einen Namen. Ich kann mich erinnern. Das ist lange her, denke ich. Tage sind vergangen. Ja, ich gab dir einen Namen.“

Nenne mich“, beharrte der Besuch. Er richtete sich drohend auf. Der Alte zuckte zurück. Aber er ließ seinen Tisch nicht los.

Ich habe den Namen vergessen, auch wenn es ein guter Name war. Aber ich habe ihn aufgeschrieben. Er steht irgendwo, ich kann mich nicht erinnern. Ich habe ihn in einem Gang an die Wand gemalt. Das ist Tage her, Tage“, keuchte er hektisch.

Die Stimme des Besuchers wurde lauter, zwingender, kaum merklich zwar, aber es genügte, dass der Alte zusammenschrak.

Nenne mich. Ich bin, der ich bin. Nenne mich, wie ich bin. Nenne mich, wie ich es brauche!“

Ich nenne dich …“, erwiderte der Alte schnell. „Ich nenne dich … Ich weiß es doch nicht mehr!“ Er richtete sich ganz auf, deutete zu seinem Kothaufen, den der Besucher nur mit einem kurzen, angeekelten Blick streifte. „Dahinter ist eine Wandtür und hinter ihr ein kurzer, blinder Gang. Das weiß ich noch. Dort an der Wand steht dein Name.“

Er stemmte sich aufgeregt weg von seinem Tisch, tappte schlurfend zu seinen Exkrementen, stapfte achtlos in sie hinein. Er zerrte am Riegel der kaum sichtbaren Wandtür, die sich nur unwillig öffnete. Sein Besucher folgte ihm mit den Augen, machte keine Anstalten, ihm zu helfen.

Nenne mich“, wiederholte er zornig.

Ja, aber ja!“ rief der Alte. Er hörte selbst die Hysterie in seiner Stimme, ihre ungewohnte Lautstärke und die pfeifende Gefahr, die tief unten in seiner Lunge lauerte. Sein Atem war viel zu schnell, er flog, drängte hart gegen seine Rippen, bohrte glühenden Schmerz in seinen ausgemergelten Körper. „Ja!“ rief er erneut. „Sie geht auf, schau, sie geht auf!“

Tatsächlich gelang es ihm, die Tür ein wenig zu öffnen, sein Verdautes zur Seite zu schieben. Der enge Spalt genügte ihm, um hinein zu schlüpfen. Seine eiligen Schritte verhallten in dem Gang.

Es war still in dem Schlafzimmer. Nur der gleichmäßige Atem des Besuchers war zu hören. Er stand ruhig und breit, beide Beine gewichtet, die Arme verschränkt. Die Augen waren jetzt geschlossen, das Gesicht entspannt. Er wartete. Dann waren erneut Schritte zu hören, noch eiliger diesmal. Gleich darauf quetschte der Alte sich gequält durch den Spalt. Er humpelte keuchend zu seinem Besucher, berührte ihn am Arm. Der Mann öffnete ein Auge.

Ich hatte recht, da steht es. Da steht dein Name an der Wand. Aber es ist dunkel in dem Gang. Ich konnte meine Schriftzüge aus Kreide mit den Fingern ertasten. Schau, sie sind ganz weiß an den Spitzen Aber ich konnte nicht lesen. Es war zu dunkel. Ich bitte dich, hast du Licht bei dir?“

Der Besucher öffnete auch das zweite Auge, sah den Alten lange an. Dann griff er gleichgültig in seine Hosentasche und förderte ein kleines metallenes Feuerzeug zu Tage. Sein Gegenüber haschte gierig danach, aber er ballte seine Faust fest darum.

Ich gehe mit“, sagte er.

Der Alte stimmte eifrig zu, auffordernd winkend trat er zurück zur Tür, zwängte sich erneut hindurch. Mit der selben Gleichgültigkeit, die der Besucher bisher ausgestrahlt hatte, trat auch er jetzt durch den kniehohen Kot. Mit einer spielerischen Bewegung öffnete die Wandtür weit, trat ins Dunkel und folgte den vorauseilenden Schritten des Alten. War der Gestank in dem Zimmer schon entsetzlich, hier in dem düsteren Gang stand der feucht und heiß, brannte ätzend in der Luftröhre des Besuchers. Er konnte in dem Halbdunkel kaum etwas erkennen. Mehrmals stieß er seltsam geformte größere Gegenstände, die am Boden verstreut lagen. Auch auf nachgiebige Dinge trat er, sie waren mit schimmligem Stoff abgedeckt. Er verharrte und entzündete sein Feuerzeug. Ein müdes Licht flackerte an den Wänden, aber es genügte seinen scharfen Augen. Der Besucher sah sich um. Die Gegenstände zu seinen Füßen waren elektronische Geräte, Fernseher, Radios und Schallplattenspieler in allen Stadien der Zerstörung. Er kniete sich herab, um ein Handy näher zu untersuchen. Er scheute davor zurück, eine der Decken hoch zu heben.

In diesem Augenblick hörte er in seiner Nähe erregtes, krampfartiges Keuchen. Sein ruhiger Blick wanderte in die Höhe. Der Alte stand da, hielt hoch erhoben, mit beiden Händen von sich gestreckt, eine schwere Schusswaffe auf ihn gerichtet.

Da hast du deinen Namen“, rief er kreischend, von einem Bein auf das andere stampfend. Das gierige Rot seiner Augen funkelte zornig. „Da hast du deinen Namen! Er lautet: Stirb!“

Der Besucher nickte.

Das ist mein Name. Ich bin der, der ich bin. Ich bin Stirb.“

Die Antwort des Alten war ein geiferndes Lachen, das er nicht beherrschen konnte. Es schallte vielfach von den Wänden zurückgeworfen den engen Gang hinab. Es war ein gefährliches Lachen. Es war böse und endgültig.

Ja, das ist dein Name!“, lachte er. „Ja, stirb!“

Er verkrallte seine Zeigefinger am Abzug der Waffe. Der Revolver knackte sehr trocken. Vergeblich wartete der Alte auf den Knall, der schnell auf das Knacken folgen sollte. Deshalb drückte er noch einmal ab, dann wieder und wieder, immer schneller. Die Trommel des Revolvers drehte sich gehorsam, aber kein Schuss löste sich. Schließlich gab er es auf.

Er sank in die Knie und schleuderte die nutzlose Waffe unwillig beiseite. Dann weinte er laut und verzweifelt. Stirb trat langsam neben ihn, hob ihn sanft wie ein verwundetes Tier auf. Er trug ihn aus dem Gang, legte den Schluchzenden auf sein dreckiges Bett. Stirb konnte den Alten verstehen. Er begriff seine Furcht und seinen Hass. Deshalb setzte er sich an das Kopfende des Bettes. Er begann, ein Kinderlied zu summen und strich dem Weinenden beruhigend über das fettstarre, dünne Haar. Nach einer Weile schlief der Alte, die Knie an den Leib herangezogen, einen Daumen im Mund, aus dem ein Speichelfaden rann.

Stirb erhob sich leise. Er sah sich in der Wohnung um. Als erstes ging er zum Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Er war hungrig und wühlte die letzten essbaren Reste hervor, aß gierig. Im Schrank unter der Spüle fand er anschließend Konserven und in Kartons verpackte Notrationen. Das konnten nicht alle Lebensmittel sein, sondern nur ein kleiner Teil, den der Alte der Bequemlichkeit halber hier aufbewahrte. Der Rest muste sich an einem anderen Ort befinden, vielleicht in einem trockenen Keller, wenn es überhaupt einen gab. Als Stirb den Schrank schloss, entdeckte er eingetrocknetes Blut und ein verklebtes Stück Hirn auf dem Fußboden. Er untersuchte beides neugierig, nickte wissend.

Im leeren Beerdigungszimmer hielt er sich nicht länger auf, ein kurzer Blick auf die Grabhügel genügte ihm.

Eine genaue Untersuchung nahm er aber im Spiegelraum vor. Stirb öffnete den Schrank weit. Er warf sämtliche Kleidung auf den Boden und den Spaten obenauf. Dann kramte er eine größere hölzerne Zigarrenkiste hervor, die verschlossen war und nach den Öllappen roch, in die sie eingewickelt war. Er brach sie über seinem Knie in zwei Teile. Briefe und beschriebene Blätter flatterten auf den fleckigen Teppich. Er nahm mehrere und las sie oberflächlich. Dann legte er sie zu dem Kleiderhaufen, schob den Rest mit dem Fuß dazu, suchte weiter.

Er spürte den starken Drang, zu suchen. Es war eine fixe Idee. Es wurde bereits dunkel, als er mehr durch einen Zufall als durch zielstrebiges Nachforschen hinter dem Spiegel die Bücherwand entdeckte. Das war der erste Fund, den er mit einer Regung quittierte. Er lächelte leicht. Sanft nahm er das erste Buch heraus, blätterte fas ehrfurchtsvoll in seinen brüchigen Seiten. Er nahm den Kopf in den Nacken, hielt das Buch weit von sich, las dann stockend ein paar Worte.

„ … der sogenannte nervus probandi dieses Arguments …“

Er schleuderte das Buch unwillig auf seinen Abfallhaufen. Er nahm das nächste Buch, es folgte nach kurzer Prüfung dem Weg des ersten. So machte er weiter, bis er auf einen dünnen Band mit handgeschriebenen Gedichten stieß, bei dem er etwas länger verweilte. Er öffnete den zerfledderten Band sehr vorsichtig, folgte den Sätzen mit dem Finger und las halblaut einige Gedichte:

unter tränen
wiegen die winde
die träume die sterben
unter tränen
wiege ich mein kind
das stirbt
tränen
unter tränen: leben.

da wir geboren wurden in den stunden der nacht
wird düster was dunkel wir berühren
da wir geboren wurden in den stunden des leids
wird trauer was heftig wir umarmen.

narren der helle
wanken wir in den schatten des lichts
sehen die fruechte der wiesen des mondes
wo selbst namen ihre wege verlieren
wir sehen dort
sehen doch nichts.

wo beginne ihr ende schon tragen
da will ich sein
will anfang und wehe
will schluss und leid.

ist es falsch
wenn ich nun schon sage
es wird schlechter
tag für tag
träume sterben
zuhauf gehegt.

Stirbs Lächeln verstärkte sich. Das erschien ihm sinnvoll. Er klappte das Büchlein liebevoll zu und schob es in die Innentasche seines weit geöffneten Overalls. Die restlichen Bücher leerte er mit wenigen Griffen auf den Boden, schob sie zu dem Abfall.

Er nahm sein Feuerzeug heraus und zündete den Haufen an mehreren Stellen an. Die Bücher und Kleidungsstücke entflammten sehr schnell, eilig brannten sie, als wäre es ihre Erfüllung. Stirb wich der Hitze zögernd. Langsam trat er rückwärts aus dem Zimmer. Er schloss befriedigt hinter sich die Tür, lehnte sich gegen sie. Das Lächeln war noch nicht von seinen Lippen verschwunden.

7 Ich ekle mich vor diesem Lächeln. Ich wünsche, niemals mehr wie Stirb zu lächeln.

8 Stirb saß geduldig auf dem knirschenden Tisch und wartete. Er hatte die Beine an den Leib gezogen und hielt die Augen geschlossen. Die Hände ließ er mit den Handinnenflächen nach oben auf den Schenkeln ruhen. Unbeweglich saß er und wirkte wie ein flüchtiger Entwurf. Nichts an ihm war fertig, überall fehlte die beendende Hand des Künstlers. Er lauschte auf die Geräusche des schlafenden Alten. Dessen Atem war unregelmäßig und jagend, manchmal durch laute Schnarchtöne unterbrochen. Einige Male zischte der Liegende auch Worte. Sie klangen vorwurfsvoll, aus seinem Inneren hervor gequält.

Stirb wartete auf das Erwachen des Schläfers. Er dachte dabei über seinen Namen nach. Er gefiel ihm. Das war ein guter Name. Er wünschte sich viele Verwandte, die ihn aussprechen würden. Der Alte hatte ihm einen passenden und einen schönen Namen gegeben. Er mochte den Alten. Langsam fiel er auf eine weiche Stimmung herein. Es fehlte nicht viel und er wäre ebenfalls eingeschlafen.

Es war ein plötzlicher Schreck in ihm, ein leeres Durchsacken in seinem Unterleib, einen Schock, der ihn wie eine überraschende Ohrfeige traf: Er dachte an draußen. Er hatte tatsächlich in der kurzen Zeit, seit er sich in der dunklen, abgeschotteten Geborgenheit der Wohnung aufhielt, beinahe das Draußen vergessen. Für Stirb war es bereits jetzt wie ein böser Traum. Seine Eindrücke waren im Verschwimmen. Da waren flüchtige Erinnerungen an Gefahr, an die beißenden Strahlen einer Sonne, der man nicht entfliehen konnte, an die platzenden Schwären, die sie verursachten, wirre Gedanken an eine staubige, entsetzliche Weite, an Hitzeflimmern über eingetrockneten Flussläufen, an schwarz verbrannte Baumstümpfe, an das Ducken und Kauern, an Furcht in gefrorener gefrorenen Nacht, an seltsame, bösartige Kreaturen und unheimliche Lichter. Mittendrin, im Mittelpunkt dieses wirbelnden Chaos, sah er sich selbst, den noch Jungen, Namenlosen, einer Chimäre hinterher jagend. Er hat ein fernes Ziel, er singt seinen Pfad, achtete nicht der Blasen an seinen Füßen. Er versteckte sich, schwitzt und friert, hungert, tötet und hasst. Aber er weicht nicht ab von seinem Weg, denn er führt ihn hierher in dieses Haus. Und nun, in der Geborgenheit der Wohnstatt des Alten, vergaß Stirb rasend schnell. Er war wie ein Kind, das über einem Alptraum in die Höhe schreckt.

Stirb öffnete vorsichtig die Augen, er spürte einen Blick. Der Schläfer war erwacht, betrachtete ihn aufmerksam. Die Angst des alten Mannes war jetzt verschwunden, er hatte sich mit seinem Schicksal versöhnt. Lange Zeit sahen sich die beide stumm an.

Weise mich ein“, sagte Stirb schließlich.

Der Alte setzte sich schwerfällig auf, urinierte. Er sah spöttisch an sich herab, lächelte gelassen. Stirb folgte seinem Blick. Der Alte sprach. Stotternd, tastend, als würde er wie jemand, der lange nicht mehr geübt hat, auf einem Klavier Harmonien suchen, entwickelte er aus den Worten Klänge, dann so etwas wie eine Melodie. Stirb runzelte die Stirn und lauschte angestrengt, er versuchte, sich die Worte des Alten zu merken.

Der Heilige Ignaz von Loyola bitte für uns“, begann der Alte. „Er hat geschrieben: ‚Welch eine Ansammlung von eklen Ausflüssen ist doch der Mensch. Schau ihn an und vergleiche ihn mit den Pflanzen des Herrn. Des Menschen Früchte sind Kot und Urin, sein Geruch ist immer Gestank. Wie viel mehr wert sind da die Pflanzen, deren Früchte wohlschmeckend und dem Auge angenehm, deren Gerüche Düfte sind, die der Mensch benutzt, seinen Gestank zu überdecken.’“

Erzähle von ihm“, unterbrach Stirb. Der Alte runzelte unwillig die Stirn, aber er besann sich. Er hob gehorsam seine dünne Stimme, die während seiner Worte an Kraft gewann:

Er kam auf Erden, das Gesetz zu verkünden. Seine Stimme war voller Kraft und sein Auftreten war nicht von dieser Welt. Die Menschen, die ihn sahen, liebten ihn und lauschten seinen kraftvollen Worten. Es gibt viele Geschichten von ihm, denn er hat viel getan und viele Wunder sind in seinem Namen geschehen. Es kam der Tag heran, da stellte er sich vor das Volk, das sich versammelt hatte, ihn zu hören und er sprach also:

‚Gesegnet seid ihr, die ihr seid gekommen, mich zu hören, denn euch wird große Wahrheit widerfahren. Ich, der ich bin und eins bin mit mir, sage euch, die ihr nicht seid und nicht eins seid mit euch: Wer mir nachfolgen will, sein will, wer er ist und eins mit sich sein will, der soll mir nicht nachfolgen. Jeder erkenne die Freiheit, die er besitzt. Er gehe den Weg, den er gehen will. Ich bin den meinen gegangen, geht nun den euren.’ Da schwieg er. Das Volk murrte, denn es hatte nicht verstanden. Also fuhr er fort:

Ich will euch ein Gleichnis geben. Zwei Männer gingen von Hier nach Dort. Der eine ging die breite Straße, sie führte ihn sicher und gerade nach Dort. Der andere ging einen anderen Weg, der war steinig und beschwerlich, doch er kam ebenfalls Dort an. Welcher Weg war nun der rechte, in absoluter Weise? Der gerade, einfache oder der schwere, steinige? Ist der Weg wichtig oder das Ziel? Also sage ich: Jeder Weg führt zu mir, so wie jedes Leben in den Tod führt.’ Und siehe: Da erhob sich ein scharfer Wind vom Tal und verwehte die Wege, doch er besänftige ihn mit einer Handbewegung. An diesem Tag sprach er noch viel zum Volk. Es hörte zu und erstaunte sich.“

Wieder schwieg der Alte. Er sackte erschöpft in sich zusammen. Aber Stirb sah unwillig darüber hinweg. Er wollte noch mehr wissen. Noch war alles unsicher, noch konnte er nicht klar erkennen.

Erzähle mehr von ihm“, forderte er den Alten auf.

Als es an der Zeit war, da er sterben sollte, denn er war nur ein Mensch wie die anderen, versammelte er seine Jünger um sich und sprach:

Seht, ich werde euch verlassen. Doch ihr braucht nicht zu trauern, denn mir widerfährt eine große Freude. Eines aber will ich euch noch verkünden, denn deshalb sind wir versammelt. Eine grundgültige Wahrheit weiß ich noch. Ich habe mich bis jetzt gescheut, sie euch mitzuteilen. Es ist eine bittere Wahrheit. Ich wünschte, ich könnte sie verschweigen, euch gnädig belügen. Es wird euch schwerfallen, mit ihr zu leben.’

Er sah das Erstaunen seiner Jünger und zögerte lange, bis er sprach: ‚So höret denn: Dies ist das Leben. Hier ist euer Weg. Hier seid ihr eins mit euch auf dem Weg zum Ziel. Doch es gibt nur dieses Leben. Es endet mit dem Tod. So ist euer aller Ziel der Tod, wie auch mein Ziel der Tod ist. Der Tod ist das Ende. Es gibt kein Jenseits. Gestern ist vergangen und Morgen ein Traum. Es gibt nur das Heute. Euer Weg ist eure Reise in den Tod. Jeder geht den Weg anders, doch jeder gelangt an sein Ziel. Das ist die schwere Wahrheit, die ich euch verkünden musste.’

Und da er die Niedergeschlagenheit seiner Jünger ob seiner Worte sah, da weinte er ehrliche Tränen und sagte also: Seht die Opferlämmer eines barbarischen Gottes. Wir sind alle verdammt.’“

Der Alte hustete einen harten, schmerzenden Husten, er drängte gewaltsam gegen seinen Hals und unterbrach alles Reden. Stirb hatte während der Worte des Alten zustimmend genickt.

Wohl“, sagte er und dachte nach. „Wohl. Wir sind verdammt. Erzähle weiter.“

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