Nikolaus Klammer Aber ein Traum,Über den Roman,Der Autor,Essay,Gesellschaft,Heimat,Kolumne,Leben,Literatur,Roman,Werkstattbericht Erträumte, erdachte und ungesehene Orte (Inspirationen zu „Aber ein Traum“)

Erträumte, erdachte und ungesehene Orte (Inspirationen zu „Aber ein Traum“)

Der Roman „Aber ein Traum“ spielt im Weichbild einer mittelgroßen deutschen Stadt, deren Alltäglichkeiten Jonas Habakuk immer wieder die Chance bieten, sich an ihnen festzuklammern, wenn er das Gefühl hat, ihm wird der Boden unter den Füßen weggerissen. Aber auch dieser vermeintlich sichere, durch seine Wiederholungen und Gewohnheiten sichere – gezähmte – Alltag hat seine Tücken und der Grund, auf dem sich Jonas bewegt, ist brüchiger, als er zu Beginn der Geschichte glaubt.

Da ich denke, dass ein Autor nur von Dingen schreiben sollte, von denen er etwas versteht, ist diese „Realität“ der meinen zumindest nahe:

»Rechts an der Seite des gotischen Rathauses führten vom Platz weg einige Stufen hinunter in die überschaubare Altstadt, die nahezu quadratisch in ihren Ausmaßen von Kanälen und großen Ausfallstraßen begrenzt in Jonas Erinnerung von Tourismus und Bauvorhaben nahezu ungestört von den Zeiten träumte, als man noch eine bedeutende Handelsstadt war. Noch immer zeugten die schmalen, schattigen Gassen, die einander zugeneigten Hausfronten, die vorspringenden Erker und verwinkelten Hinterhöfe vom Versuch, der Enge Raum abzutrotzen und die sprechenden Straßennamen erzählten vom Leben in der mittelalterlichen Stadt. Ein buntes Volk hatte sich in den Achtzigern in den kleinen, niederen Wohnungen eingemietet; die renovierungsbedürftigen Fassaden hinter Efeu und Geißblatt versteckt und bot damals in den Läden Kunsthandwerk, gebrauchte Bücher, Tätowierungen, verschrumpelte Bioäpfel und billige Haarschnitte an. Nirgendwo in der Stadt gab es mehr gemütliche Kneipen, die eine leicht ranzige Wohnzimmeratmosphäre ausstrahlten.

Seit Jonas nicht mehr studierte und aufgehört hatte, mit seinen Freunden nachts um die Häuser zu ziehen – besser gesagt, ihm waren die Freunde ausgegangen, mit denen er Kneipentouren machen konnte, weil alle außer ihm praktisch von einem Tag auf den anderen wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin begannen, Familien und Heime zu gründen – war er immer seltener in die Altstadt gekommen und irgendwann dann überhaupt nicht mehr. Es war nicht so, dass er sie mied, aber er hatte mit einem Mal keinen Grund und keine Zeit gefunden, am Rathaus vorbei hinunter in die Unterstadt zu gehen. Sein Leben spielte sich oben in der Moderne ab, hinter den Stahl- und Betonfassaden und den verspiegelten Fensterfronten der Geschäftshäuser. Doch nun betrat er, nach einer alten Adresse suchend, die Orte seiner Studentenzeit und stellte mit jedem Schritt fest, wie sehr sich Wirklichkeit und Erinnerung unterschieden. Obwohl er nur wenige Jahre nicht mehr hier gewesen war, hatten sich Charakter und Stimmung vollkommen verändert. Der Charme des Verrottens und der heimeligen Bewegungslosigkeit war dahin. Die Stadt hatte den Wert ihres Schatzkästleins für den Tourismus erkannt, Kanäle aufgedeckt und das alte, schadhafte Pflaster gegen leblos terrakottafarbenes Katzenkopfpflaster eingetauscht; findige Bauherren die Altstadthäuser aufgekauft, Fassaden renoviert, das Innere entkernt, Bäder eingebaut und in großflächige Eigentumswohnungen verwandelt. Es saß jetzt auch ein anderes Publikum vor den Lokalen, die nicht mehr einfache Studentenkneipen waren, sondern sich mit viel Echtholz und Chrom in mondäne Straßencafés und Pubs verwandelt hatten, in denen es zwanzig Sorten Kaffee und fünfzig Sorten schottischen Whiskey gab. Auch die liebenswert amateurhaften Läden waren verschwunden, hatten ihren Platz den Filialen großer Parfümerieketten und Boutiquen, Goldschmieden, Blumenläden, Coiffeuren und einem Apple-Store geräumt. Jonas fühlte sich alt, von gestern. Auf seiner Suche fand er nur noch wenige Erinnerungsorte und einmal hätte er sich beinahe verlaufen, ganz, als hätten sich Straßenzüge verschoben, wären Querstraßen gewandert, Plätze verbaut und an anderer Stelle wieder eröffnet worden. Viel trugen auch die nun offenen Kanäle, die die schmalen Straßen noch enger machten, zu diesem Eindruck bei. Insgesamt wirkte die Altstadt nun auf Jonas wie desinfiziert, wie ein steriles, lebloses Museumsdorf.

‚Mir geht es nicht anders’, dachte er, ‚auch ich habe mich verändert, bin zu einer lackierten, oberflächlichen Version meiner selbst geworden. Der Mann, der hier durch die Straßen geht, hat mit dem Jonas von vor fünfzehn, zwanzig Jahren wenig gemein – er ist nur eine flüchtige Erinnerung, der vergängliche Schatten einer platonischen Idee.’«

Auszug aus dem 3. Kapitel

Aber auch die geträumten, erzählten oder erdachten Orte – die ‚Anderswelten‘ – müssen exakt beschrieben sein, nur dann bekommen sie die Bedeutung, die ihnen zusteht:

»Ich fiel also an einem feuchtkalten Wintertag vom Kopf der Treppe und landete zu ihrem Fuß im rötlichen Staub eines Sommernachmittags, mit schützend nach vorn gestreckten Armen. Wo waren die Handschellen plötzlich hingekommen? Langsam und verwirrt richtete ich mich auf und sah mich zögernd um. Hier war mir alles fremd und bekannt zugleich, als würde ich eine vertraute Umgebung durch einen Zerrspiegel betrachten. Da waren hinter mir die Treppe und die Residenz, hier lag der Hof, standen meine Statuen – aber das Haus und die Treppe hatte jemand vor langer Zeit mit abblätternder, weißer Farbe getüncht und der Hof mit meinen Kunstwerken war in eine Terrasse verwandelt. Alle anderen Häuser, ja, das ganze Viertel waren verschwunden: Ich sah über von heißem Sommerwind bewegte Olivenbäume in ein Tal, das sich in sanftem Bogen zu einem Meer hin öffnete. Dort unten am Ufer lag eine kleine rotbraune Stadt, die mit unserer hier wenig Ähnlichkeit hatte, verschachtelte Häuser, schmale Gassen, barocke Gebäude, ein strahlend weißer Dom. Rechts am Meer thronte eine ausladende, gut erhaltene mittelalterliche Zitadelle. Und über allem glitzerte ein staubig gelber Himmel. Es war eine fremde, südländische Welt irgendwo in Spanien oder Italien, in die ich gefallen war. Mein Verstand weigerte sich lange, zu glauben, was meine Augen sahen. Trotzdem war ich sicher, diese Landschaft zu kennen, vielleicht aus einem nahezu vergessenen Traum heraus, der mich erneut gefangen hielt. Aber ich war mir meiner bewusst, alles war fest und unveränderlich, ich spürte den heißen Wind auf meinem nackten Oberkörper, konnte die scharfen Kanten meiner Kunstwerke unter den Fingern spüren. Es roch nach Salz und Rauch. Das konnte kein Traum oder ein Drogenwahn sein.

Ich setzte mich, so, wie ich war, nackt bis auf die Unterhose, auf den Boden, unfähig, etwas anderes zu tun, als zu starren. Eine unheimliche Macht, vielleicht Gott, hatte mich mitsamt meinem Haus aus meiner Welt ausgeschnitten und auf die Postkarte einer unwirklichen Mittelmeeransicht geklebt. Mit dem Bild einer Postkarte war ich übrigens näher an der Wahrheit, als mir bewusst war. Ich weiß nicht, wie lang ich saß, über den verwilderten Olivenhain hinunter auf die unter der Hitze flimmernde Stadt starrte und mich den brennenden Strahlen einer hinter dem Haus stehenden Sonne aussetzte, aber dann merkte ich: Hier war etwas ganz und gar nicht richtig. Die kleine Stadt dort unten war zu bewegungslos, selbst wenn ich die nachmittägliche Siesta einrechnete. Ich konnte keine Fußgänger oder Fahrzeuge erkennen. Auf dem Wasser dümpelten keine Boote, nirgendwo reflektierte ein sich öffnendes Fenster die Sonne, kein Hundegebell klang herauf, kein Glockengeläut von den Kirchen. Die einzigen Bewegungen machten die sich unter dem heißen Wind beugenden Zweige der Olivenbäume, die ihre Grünspanblätter unendlich langsam vor mir neigten.

Auch der Stand der Sonne änderte sich nicht. Obwohl ich bestimmt schon eine Stunde oder länger im Hof saß, war der Schatten, den mein Körper vor mir auf das Pflaster warf, nicht gewandert. Die Sonne stand wie festgenagelt am Firmament. Wie heißt noch einmal dieser Prophet im alten Testament, der den Lauf der Sonne bremste? Egal. Als ich diese unheimliche Bewegungslosigkeit bemerkte, war ich endlich fähig, wieder etwas zu unternehmen. Ich stand auf. Mein Rücken spannte und juckte bei jeder Bewegung schmerzhaft – ich hatte mir durch meine Entschlusslosigkeit einen ordentlichen Sonnenbrand geholt. Ich traf die Entscheidung, alle großen Fragen hintan zu stellen und mich um den offenbar endlosen Augenblick zu kümmern: Ich musste aus der Sonne und ich hatte Hunger.«

Auszug aus dem 3. Kapitel

Mein Drang, Orte in der Beschreibung zu fixieren, mich an ihnen festzuhalten und sie in das Gedächtnis zu meißeln, mag manisch erscheinen. Aber Orte sind die wichtigen Landmarken im Leben, unsere Erinnerungen führen uns immer wieder zu ihnen zurück.

Einen Roman muss man schreiben, indem man Orte beschreibt und die Beziehungen, die Menschen zu den Orten (ihrer Heimat?) haben – auch wenn sie nur in ihrer Fantasie oder in der Erinnerung existieren:

Zum Schluss noch ein Ausschnitt aus dem noch in Arbeit befindlichen letzten Kapitel von „Aber ein Traum“:

… a work in progress.

Schließlich kehre ich doch zum See meiner Erinnerung zurück.Ich wusste, er liegt dort oben zwischen hohen Bergflanken eingezwängt, ruht still und unberührt in ein schmales Tal eingebettet, das nur über einen streng abschüssigen, schwer erklimmbaren Wald erreichbar ist, den ein dünner, kaum sichtbarer Pfad in engen, steilen Serpentinen durchquert. Um diese Frucht zu ernten, braucht es Glück und Anstrengung. Ich wusste: Der See wartet dort auf mich. Er ist geduldig.

Sind wirklich schon fünfzehn Jahre vergangen, seit ich den letzten Tag meiner Sommerfrische für ein Bad in seinem durchsichtigen Wasser nutzte, von winzigen, schmalen Fischschwärmen silbern glänzend umspielt? Tatsächlich. Mir erscheint jener ferne Moment in der Erinnerung wie gestern, so klar sehe ich seine Farben und kenne die Konturen meiner Gefühle. Ein verspieltes, ein groteskes Leben, in dem ich mir barfuß und vorsichtig wie ein Balletttänzer über die scharfen Kiesel tanzend einen Weg  durch den scharfblättrigen, bleichen Schilfbewuchs des flachen Ufers suchte. Dann kraulte ich mit ein paar kräftigen Schwimmzügen erleichtert hinaus zur dunklen Nachtkühle der Seemitte, wo mir das eisige Wasser die Schweißtropfen wegbiss. Dort drehte ich mich mich auf den Rücken, spielte toter Mann und die tiefe Sonne eines hitzigen Juniabends blickte neugierig auf meine nackte Haut.

Obwohl mir die Erinnerung so nahe ist, mich berührt, – wortwörtlich erst gestern war – sehe ich mich selbst nur von weiter Ferne; wie durch ein umgedrehtes Fernglas betrachtet. Ich bin mir fremd geworden. Fünfzehn Jahre sind seit diesem kurzen Moment, den ich einen glücklichen nenne, vergangen. Sie haben einen gesunden, muskulösen Körper aufgeschwemmt und in seinem Inneren gewütet; die Organe zerfressen, die Seele zernarbt; fünfzehn Jahre können so lang wie ein ganzes Leben sein – wie zwei Leben!

Heute steht ein ganz anderer am zwar schneefreien, aber eisig kalten Ufer, das er zeitlos und unverändert wiedergefunden hat, allen glückselig machenden Gedanken ans Gestern zum Trotz. Heraklit mag ja recht haben, wenn er sagt, man könne nicht zweimal in das gleiche Wasser steigen, aber mir scheint sich nur der Mensch verändert zu haben. Der Gebirgssee selbst blieb sich gleich und treu, sich selbst genügend, in sich ruhend. Sogar die flinken Fischlein scheinen mir die gleichen zu sein. Das Wetter ist ideal. Seit Tagen bläst ein starker Föhnwind. Er hat die Wolken vertrieben und die aufgeweichten Pfade den Bergwald hinauf längst getrocknet. Nur wenig Schnee lag in den schattigen Mulden. Erneut: Ein fast schmerzhaft hellblauer Himmel spannt sich wie ein straff gezogenes Laken über dem See. Einige wenige, fedrige Wolken verschmutzen ihn. Als ich vor acht Tagen in der Pension im Dorf einzog, hatte ich noch wenig Hoffnung, meinen kleinen Ort wieder zu entdecken. Im Fremdenverkehrsamt und von den maulfaulen Bauern, deren Sprache ich nur rudimentär übersetzen konnte, erhielt ich keine vernünftigen Auskünfte. Also drehte ich im Schneeregen, der so hartnäckig nach Silvester fiel, immer größere Runden und Spiralen ums Dorf. Meine von den „Jahren des Ausharrens“ erschlafften Beine wurden wieder kräftiger, mein Atem ausdauernder, mein nächtlicher Schlaf störungsfrei. Ich gewann etwas zurück von der zähen und geduldigen Haltung des Wanderers, die ich schon lange für immer hinter mir gelassen wähnte. Dann endlich wagte ich mich mit der plötzlichen stabilen Föhnlage auch in die höher gelegene Bergregion, suchte, wurde aber nirgends fündig. Der See spielte Verstecken mit mir.

Heute morgen jedoch geschah etwas Seltsames. Ich kam pünktlich um 07:00 Uhr von meiner muffigen kleinen Zimmerflucht hinunter in den spärlich beleuchteten Speiseraum, um alleine vor all den anderen Touristen frühstücken zu können. So habe ich mir das angewöhnt in der letzten Woche; ich brauche keinen Kontakt zu anderen Menschen. Ich bin mir manchmal selbst schon zuviel. Mein Wirt hatte mir schon das Kännchen mit dem dünnen Kaffee auf den Tisch gestellt. Diesmal fand ich neben der üblichen „Semmel“, der „Brezel“ und dem trockenen Gewürzkuchen zusätzlich einen zusammengefalteten Zettel in meinem Brotkorb, der sich auseinander gefaltet als eine zerknitterte Karte erwies, auf der mit einem dicken Rotstift ein Weg markiert und eine Wasserfläche eingekreist war. Ich rief nach dem Wirt, der in der Küche nebenan rumorte und diensteifrig und auch ein wenig erstaunt zu mir trat; denn bislang hatte ich ihn noch nie mit einem Wunsch belästigt. Seit ich am ersten Morgen meines Urlaubs nicht auf seinen Versuch eingegangen war, mich mit ihm in eine belanglose Konversation über das Wetter einzulassen, ließ er mich in Ruhe frühstücken.

„Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Doktor?“ Ich deutete stumm auf die Karte. Sein Blick folgte verständnislos meinem Zeigefinger.

„Haben Sie mir das hier in den Brotkorb gelegt?“ Der Mann schüttelte erstaunt den Kopf.

„Ich sehe es zum ersten Mal“, erwiderte er beinahe empört. „Das Papier wird wohl bereits in der Semmeltüte gelegen haben, die heute früh der Bäckerjunge gebracht hat. Es muss dann mit in den Brotkorb gerutscht sein. Das tut mir leid. Ich bringe Ihnen sofort eine neue Semmel.“
Das war zumindest das, was ich von seinem alpenländischen Idiom verstand. Er brabbelte noch mehr in seinen voluminösen weißen Bart, aber er wirkte vollkommen aufrichtig.

„Ich danke Ihnen“, wimmelte ich den beflissenen Herbergsvater ab, „das wird nicht nötig sein.“
Neugierig beschäftigte ich mich wieder mit dem Plan, der wie eine Schatzkarte auf mich wirkte. Woher und von wem also die geheimnisvolle Wegweisung stammte – wer mir den Weg zum See auf diese ungewöhnliche Weise angezeigt hatte – bleibt damit erst einmal ein Rätsel.

Aber die Wanderkarte hat mich sicher geleitet. Nun stehe ich hier, an dem Ort, an dem ich mein neues Leben beginnen, mir ein Haus bauen will. Endlich. Es gibt keinen Weg mehr zurück.

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