Der Weg, der in den Tag führt
Eine Geschichte aus der Welt von »Brautschau«
Ohne weiter auf das verendende Tier zu achten, hob Straif erneut seine tropfende Klinge empor. Sie blitzte kurz auf, schien ungeduldig auf den nächsten Angriff zu warten. Doch der blieb erst einmal aus, denn die verrohten Ungeheuer der Eiswüsten stürzten sich sofort gierig auf ihren waidwunden Bruder und zerrissen das wehrlose Tier vor den Augen von Straif, ohne sich auch nur im geringsten um ihn zu kümmern. Allein die nachtschwarze Leitwölfin blieb auf ihrem Platz abseits des Geschehens sitzen und starrte dem jungen Krieger direkt in die Augen. Doch auch sie war im Moment mehr an dem Spatz in der Hand, als an der Taube auf dem Dach interessiert. Fast spielerisch richtete sie sich auf, sich einmal um sich selbst drehend. Ein kurzes Bellen markierte ihren Anspruch auf die gerissene Beute und die anderen Wölfe wichen sofort von den blutigen Fetzen zurück, die gerade noch einer der ihren gewesen waren.
Straif erkannte die Chance, die sich ihm bot und er nutzte sie. Er schob seine Waffe zurück in die Scheide, wirbelte herum und rannte davon. Die Eiswölfe folgten ihm nicht, doch ihr grässliches, gieriges Jaulen und Schmatzen verfolgte ihn während seiner Flucht und trieb ihn an. Endlich erreichte er den Felsen. Er wäre fast gegen ihn gerannt, so plötzlich tauchte er vor ihm auf. Seine Wand schien ihm unnatürlich düster und glatt. Sie ragte senkrecht wie ein fugenloses Mauerwerk empor. Nirgendwo war ein Einschnitt, den er erklimmen, ein Spalt, in den er sich zwängen, eine Höhlung, in der er sich vor den Wölfen schützen konnte.
Ein Bellen an seinem Ohr! Straif riss den Kopf zur Seite, die Rechte griff zum Schwert, aber es war zu spät. Die Wölfin war ihm doch gefolgt und sie warf ihn mit dem Schwung ihres Sprunges um. Er ging unter dem schweren Gewicht des Tieres zu Boden. Sofort war das geifernde Ungeheuer über ihm und die Fangzähne suchten seine Kehle.
»Es ist vorbei. Du hast verloren!«, dachte Straif noch und erlitt dann einen grausamen Schmerz, den ihm die Wölfin in den schützend vor den Kopf gehaltenen Unterarm biss. Sein eigenes Blut tropfte ihm schwer ins Gesicht und die Wärme prickelte auf seinen Wangen. Straif schrie, sein Verstand verflüchtigte sich in diesem Schrei. Bald fühlte er eine Dunkelheit, in der er versank. Das letzte, was er vor seiner Ohnmacht sah, waren die fiebrig gelben, tellergroß erscheinenden Augen des Fenrir-Muttertiers, die ihm plötzlich allwissend und sehr weise erschienen.
Der für Momente verschwundene Schmerz in seinem Arm kehrte mit zorniger Heftigkeit zurück und riss Straif ohne Erbarmen aus seiner Bewusstlosigkeit. Trotz des Schocks, der ihn am ganzen Körper zittern ließ, fiel ihm auf, dass das Gewicht des Ungeheuers nicht mehr auf ihm lastete. Er kniff die Augen zusammen und sammelte sich. Sein Wille schaffte das Unmögliche: Der junge Mann machte an der Schwelle zum Tod kehrt und fand einen Weg zurück in die Wirklichkeit. Der Schnee, in dem er halb begraben lag, half ihm dabei.
Mit der Unterstützung seines unverletzten Armes richtete er den Oberkörper auf und öffnete vorsichtig die verklebten Augen. Die Wölfe waren nicht mehr in seiner Nähe. Er konnte sie nicht einmal mehr jaulen hören. Die einzigen Geräusche, die an seine Ohren drangen, waren das stete Heulen des Windes und ein Knirschen weit über ihm, das er nicht einordnen konnte. Straif lag vollkommen allein gelassen am Rand des düster aufragenden Todesfelsens in einer Schneewehe. Er atmete tief ein und aus und sein jagender Puls beruhigte sich etwas.
Er atmete tief ein und aus und sein jagender Puls beruhigte sich etwas. Obwohl er dankbar war, dass die monströse und seltsame Fenrir-Wölfin von ihm abgelassen und während seiner kurzen Ohnmacht verschwunden war, fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Er blickte die glatte schwarze Felswand hinauf, von deren Gipfelplateau das mahlende Knirschen zu ihm herab drang. Er blinzelte wegen der nassen Flocken, die ihm ins Gesicht trieben. Aber jetzt war er sich sicher: Diese steinerne, aus geschmolzenem Vulkangestein errichtete Wand war nicht durch eine Laune der Natur oder wie das Raue Gebirge durch den Druck der Großen Welle nach dem Sturz entstanden, sondern ein mächtiges, meilenlanges Bauwerk aus einer längst vergangenen Zeit, das zumindest in einer Höhe einen Vergleich mit dem Südwall nicht scheuen musste. Auch hier im Norden hatte jemand eine Grenzmauer errichtet, die die Jahrtausende fast unbeschadet überstanden hatte, weil sie fast vollkommen unter Eis und Schutt begraben lag. War der Fjall TuDasq etwa ein Vorgängerbauwerk oder wie der Wall erst zweitausend Jahre später in der Zeit der Reichskriege entstanden? Wobei „erst“ ein etwas unpassender Begriff war, denn beide Daten lagen auch für Straif schier endlos weit zurück in einer vom Nebel der Jahrhunderte verschleierten Vergangenheit, über die er nur übertriebene und bruchstückhafte Geschichten kannte.
Doch diese Mauer, unter deren Schatten er sich duckte, war keine tote Ruine. Sie strahlte Macht und Boshaftigkeit aus, als wäre sie gerade eben erst von ihren Erbauern verlassen worden. Wie einen Geruch dünstete sie aus dem spiegelglatten und speckig glänzenden Obsidian, aus dem sie errichtet war, dieses Böse aus. Sein Instinkt warnte Straif vor einer Gefahr, die größer war als die Eiswölfe, größer als alle Ungeheuer, denen er in den Überlebenden Ländern je begegnen mochte. Konnte diese Bedrohung der Grund sein, aus dem die Wölfe geflohen waren? Hatte ihre feine Witterung sie aufgenommen, ihr Instinkt sie gewarnt? Hatten sie das Böse gespürt, aber auch das Licht und die Wärme?
Straif bekam eine Gänsehaut, als er sich seine Gedanken bewusst machte: Licht? Wärme?
Der junge Mann drehte ungläubig den Kopf. Tatsächlich: Hinter ihm, nur wenige Fuß entfernt, war eine Öffnung in der Wand entstanden. Eine Tür hatte sich lautlos nach Innen geschwungen und einen Eingang in die bislang so fugenlos erscheinende schwarze Felswand gezaubert. Falls er noch Zweifel gehegt hatte, ob der Fjall von Menschen errichtet worden war, wurde Straif damit auf eindrucksvolle Weise bewiesen, dass der Felswall ein uraltes Bauwerk war, das ihn seltsamerweise gerade freundlich und unmissverständlich dazu aufforderte, einzutreten. Aus dem unauffälligen Türrahmen, durch den gerade ein Mann aufrecht eintreten konnte, fiel ein scharf geschnittener, aber unruhig flackernder Lichtschein auf den Schnee. Die Wärme eines kräftigen Feuers dampfte in ihm und der nur wenige Fuß entfernt sitzende Straif konnte sie auf seinem nassen Rücken und seinem Gesicht spüren.
Obwohl er von Ygdras aus bei einer Expedition seines alten Korps ein Stück weit in die zerstörten Jenseitigen Lande vorgedrungen war und viele Geschichten über die tödlichen Waffen und Gifte gehört hatte, die die Vorgänger überall auf der Welt hinterlassen hatten, blieb ihm keine Wahl. Die geöffnete Tür und die Wärme wirkten auf ihn wie eine für leichtsinnige Wanderer ausgelegte Köderfalle, doch wenn er die Nacht überleben wollte, musste er aus dem Eis und der Kälte heraus und diese offensichtliche Einladung annehmen, auch wenn sie eine Falle war.
Schwerfällig stand Straif auf, trat, sich aufmerksam umsehend, näher und spähte den Lichtkegel meidend ins Innere. Nichts deutete auf eine Bedrohung hin. Er konnte den Anfang eines festgemauerten Gangs erkennen. Er endete nach wenigen Yard an einer Treppe, die nach oben führte. An beiden Seiten waren Feuerschalen in der Wand eingelassen, in denen heiße Ölflammen, die unheimliche Schatten warfen, tänzelten. Doch niemand schien sich in dem vollkommen leer wirkenden Gang aufzuhalten. Der junge Mann lauschte in sich hinein, doch sein sonst recht zuverlässiger Sinn für Bedrohungen schwieg. Er warf einen letzten Blick zurück auf die eisbedeckte Hochebene, wo sicherlich hinter der nächsten Schneewehe das Wolfsrudel auf ihn lauerte. Dann trat er entschlossen ein.
Er war nur wenige Schritte in den Gang getreten, als sich die Tür hinter ihm wieder schloss. Genau so lautlos, wie sie sich geöffnet hatte, fiel sie zu. Straif konnte auch auf dieser Seite keinen Riegel oder Türgriff erkennen: Was immer ihn ins Innere des Felsens des Todes gelockt hatte, es hatte ihn eingefangen. Er saß wie eine Maus in der Falle. Es gab für ihn kein Zurück mehr, sondern nur noch den einen Weg die Treppe hinauf. Straif hatte keine Ahnung, was ihn dort erwarten konnte. Mutlos setzte er sich auf die erste der steinernen Stufen. Ihm fiel dabei auf, dass sie blank gescheuert waren und keinerlei Staub auf ihnen lag, als hätte eine Gruppe Dienstmädchen sie erst kürzlich nass abgewischt. Und doch war Streif sich sicher, dass er der erste seit einer Ewigkeit war, der diesen Gang betreten hatte.
Aber Straif war längst über das Sich-Wundern hinaus und genoss die Wärme und die augenblickliche Sicherheit, die ihm der Eingang bot. Jetzt konnte sich endlich um seinen verletzten Arm kümmern, in den die Wölfin vorhin ihre Reißzähne geschlagen hatte. Der wattierte Ärmel seines Wamses war zerfetzt, hatte aber die größte Wucht des Bisses aufgehalten. Die noch immer blutende Wunde sah schlimmer aus, als sie war. Er spürte von ihr im Augenblick nur eine stumpfe Taubheit. Die Knochen schienen ihm unversehrt und auch die Schlagader des Armes war nicht betroffen. Aber ein großes Stück Fleisch war herausgerissen und als Straif vorsichtig den zerrissenen Ärmel zurückrollte, brannte es an dieser Stelle höllisch. Dies war nicht die erste Verwundung des Kriegers und er wusste, was er tun musste. Er reinigte die Wunde so gut es ging mit Wasser aus seinem Schlauch, dann biss er die Zähne zusammen und presste seinen Unterarm ein paar Augenblicke gegen eine der glühend heißen Feuerschalen, um die Blutung zu stillen. Fast wäre er dabei wieder ohnmächtig geworden.
Anschließend riss er sich den Ärmel mit den Zähnen und der anderen Hand an der Schulter ab und benutzte ihn als notdürftigen Verband. Der Schmerz war pochend und Straif würde sein Schwert nicht mit seiner verletzten Rechten halten können, aber wenn die Wunde sich nicht entzündete, würde ihn in einigen Wochen nur noch ein Narbengewebe an sie erinnern.
Eine Antwort auf „Der Weg, der in den Tag führt – Fantasyroman (Kapitel 7 – Teil 3)“
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