Eine Welt aus Kälte, Eis und Schnee

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»Die meisten von euch, meine südlichen Freunde«, begann Sahar seine Sage, nachdem er sich mit ein paar Blicken versichert hatte, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Zuhörer besaß, »kennen den Winter nicht und haben noch nie Schnee gesehen, deshalb lasst ihn mich euch zuerst beschreiben. Eine Schneeflocke ist ein kleiner, weicher Stern, der durch die Wolken zum Boden fällt, sich dabei weiß glitzernd um sich selbst dreht und wendet und im leichten Wind mutwillig wie ein eisiger Schmetterling tanzt. Fällt er auf deinen Handrücken, spürst du von ihm einen winzigen, eiskalten Mückenstich. Doch bevor du dir den ausgefransten Schneestern genauer betrachten kannst, taut er schon, schmilzt auf deiner warmen Haut zu einem köstlich kühlen Tau. Die Kinder in meinem Land versuchen, die Schneeflocken mit ihren Zungen zu fangen und sie erzählen sich, dass sie die gefrorenen Schweißperlen der dunkelsten unter den Wolkenriesen seinen. Eine genau auf die Spitze der Zunge segeln zu lassen, soll Glück bringen!

Fällte der Schnee jedoch auf die ewig gefrorene Erde der Tundra, so schmilzt er durchaus nicht, sondern er bleibt liegen und verbindet sich mit all den anderen Flocken, die sein Schicksal teilen, verwebt sich zu einer immer höher anwachsenden, blendend weißen Decke, die alles bedeckt, unter sich erstickt, abtötet, erfriert – egal, ob Pflanze, Tier, Mensch, Baum, Gebäude oder Berg. Die Konturen verschwimmen, die Welt wird kleiner, fast gemütlich, doch sie ist menschenfeindlich, gefährlich, sie verzeiht keinen Fehler. Ja, Schnee ist eine Todesfalle.

Bewohner von Karukora! Meine Geschichte spielt vor gut zweieinhalbtausend Jahren in den dunklen Jahrhunderten nach dem Fall der Drei Länder, nach deren schrecklichem Krieg alle Zivilisation, Kultur und Wissen, Mitmenschlichkeit und Friede für immer verloren schienen und die Menschen ganz langsam aus dem Albtraum zu erwachen begannen, der unsere Welt verwüstet und in einen Ort der Tränen und Verzweiflung verwandelt hatte. Sie beginnt im fernen Frostje im ewigen Eis, hoch im Norden der Welt, dort, wo der dämmrige Tag nur einige kurze Stunden und die Nacht oft ewig andauert. Schnee taumelte feucht aus den grauen, tiefen Wolken und er fiel so dicht und schwer, dass Straif nur wenige Fuß weit sehen konnte. Er stapfte müde und verzweifelt über das unter seinen Schritten knirschende, blendend-weiße Leintuch einer namenlosen Hochebene. Sie erstreckte sich weit unterhalb des vergletscherten Berges Trudgelmir, dessen Sattel der junge, tapfere Mann von Süden her überschritten hatte. Über dieser tief verschneiten Tundra, die längst alle Umrisse und Landmarken unter ihrer kalten Last verloren hatte und deren Horizont mit den Wolken verschmolz, tanzten munter die Schneeflocken, doch es war ein Totentanz, zu dem sie den verlorenen Jüngling aufforderten.

aus: „Der Weg, der in den Tag führt“, Anfang von Sahars Sage

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Eindrücke von einer Winterwanderung im eisig kalten und tief verschneiten Bayerischen Wald.

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Die Fotos sind in den Wäldern von Lam entstanden.

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