Neujahrsgrüße

Ein paar Gedanken zum neuen Jahr

Mein Abreißkalender leidet an der Magersucht. Besorgt beobachte ich seit geraumer Zeit, wie er täglich Blatt um Blatt verliert und dabei immer dünner und hinfälliger wird. Inzwischen ist er in einem erbarmungswürdig desolaten Zustand, ein Hauch seiner selbst. Mit meinem Verstand habe ich den treuen Begleiter meiner Tage längst aufgegeben und doch zögert mein Gewissen bei jedem Blatt, das ich abreiße, denn ich weiß, dass uns jeder neue Morgen seinem nahenden Ende und seiner letzten Weisheit näherbringt. Ich muss der Wahrheit ins Gesicht sehen. Nur noch wenige Blätter trennen 2016 vom Papierkorb – seiner letzten Ruhestätte. Ich habe mir ein neues, fettes, vor Gesundheit strotzendes 2017 gekauft. Es liegt noch eingeschweißt und ungeduldig wartend in einer Schublade. Ich halte es vor 2016 verborgen, denn ich habe nicht den Mut, das alte Jahr mit der jugendlichen Frische des neuen zu konfrontieren, damit, wie es selbst noch vor einem Jahr ausgesehen hat, als wir gemeinsam und voller Hoffnung dieses vielversprechende Neue angegangen sind und das noch in der Silvesternacht seine Unschuld verlor.

Ich selbst bin übrigens nicht dünner geworden – eher im Gegenteil – aber ich bin ein Jahr älter und manchmal fühle ich mich ebenso erschöpft und abgerissen wie mein alter Kalender.

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Mein Leben will mir manchmal einer Garnrolle gleichen, deren Faden von der Zeit abgerollt wird. Am Anfang fiel mir überhaupt nicht auf, dass etwas fehlt. Zwischen den Umdrehungen – zwischen Weihnachten und Weihnachten – lagen gefühlte Jahrhunderte. Aber je mehr ich von meinem Lebensfaden abgegeben habe, um so schneller drehe ich mich durch die Jahre, wirble ich um mich selbst und durch die Tage und Wochen. Inzwischen wird mir von der Geschwindigkeit meines Schleuderns durch die Zeit schwindlig.

Diese letzten Tage im Dezember und jene ersten des Januar, die eigentlich noch dem letzten Jahr gehören – jene Zeit zwischen den Jahren, die so aus der Zeit gefallen wirkt – diese Zeit lügt von Bewegungslosigkeit, davon, dass mit dem Sterben des Kalenders etwas enden würde, dass ein Einschnitt käme, das Ende eines Kapitels, vielleicht sogar eines Romans. Dass ich vollkommen neu beginnen könnte. Und ich falle jedesmal auf ihre vielversprechenden Märchen herein: Zwischen Weihnachten und den Drei Königen – diese Zeitspanne erscheint mir im Voraus jedes Mal eine Ewigkeit zu dauern, viel, viel länger als nur knappe zwei Wochen.

Und ich packe diese Tage voll, will Beziehungen pflegen, Liegengelassenes vollenden und mit meinen Weihnachtsgeschenken spielen. Doch allzu schnell ist auch dieses Stück Faden abgerollt – so verzweifelt ich mich auch an ihm festhalten will – und der Alltag zeigt sich von seiner dunkelsten, kältesten und schmuddeligsten Form: Es ist Januar, der schrecklichste, grausamste und längste aller Monate. Eine Drehung ist gemacht. Wieder einmal. Schnell verliert der neue Kalender Gewicht und ich wirble wieder etwas schneller um meine Achse.

Ich wünsche allen ein gutes neues Jahr. Macht was draus.

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