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Aber ein Traum – Roman (4. Kapitel – Teil 5)

Wieder zerdehnte sich die Zeit. Ich war erneut hilflos den Taschenspielertricks von Ruben ausgeliefert. Gegen einen Gegner, der buchstäblich zaubern konnte, hatte ich keine Chance. Ich war es so leid: Meine Segeltuchschuhe lösten sich vom Parkett. Ich schleuderte meinen Körper und die geballten Fäuste voran, dem Feind entgegen, sprang ich wie ein Marvel-Held auf ihn zu. Das alles war allerdings nicht, wie ich gehofft hatte, die Sache eines Augenblicks, der meinen Gegner überrumpeln und mit mir gemeinsam zu Boden gehen lassen würde, damit sich Lina befreien konnte, sondern mein Sprung gerann zu einer kleinen Ewigkeit. Ich war wieder in eines dieser verdammten Zeitlöcher geraten, als hätte ich einen Kopfsprung in ein Fass mit klebrigem Honig gemacht! Dieses Phänomen erfasste diesmal allerdings nur mich selbst. Denn während ich wie ein Blatt Papier in leichtem Wind durch den Raum auf Ruben zusegelte, sah ich, wie er in aller Seelenruhe mit Lina einen Schritt zur Seite machte, problemlos mir und Edaines Fingernägeln auswich. Dabei ließ er seine schwangere Geisel mit einer Hand los, während er sie mit der anderen noch so fest im Griff hielt, dass sie unter seiner Gewalt vor Schmerzen stöhnend auf die Knie gezwungen wurde. Er lächelte mir zu:

„Das mit dem Schnippen ist eine gute Idee von dir. Diese Geste ist nicht notwendig; aber ich finde, sie sieht gut aus. Das werde ich mir merken.“

Und er schnippte tatsächlich mit den Fingern. Genau an der Stelle, an der er eben noch mit seiner Geisel gestanden war, implodierte die Wand, als wäre dort die Bildröhre eines Fernsehers zu Bruch gegangen. Mit einem Knall entstand ein weiterer kleiner Tunnel, ein kleiner Bruder der gigantischen Windhose draußen. Etwas nicht Greifbares wirbelte um ein plötzliches Loch in der Luft vor dem Fenster, das aber, kaum entstanden, sofort wieder in sich zusammenfiel. Damit endete auch meine persönliche Zeitlupe. Ich stolperte in normaler Geschwindigkeit vorwärts und landete auf allen Vieren genau an der Stelle, an der eben noch Ruben und Lina miteinander gerungen hatten. Aber sie waren nicht mehr da, hatten sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Das also war sein letzter Trumpf im Ärmel gewesen, das Hintertürchen, durch das er entkommen konnte. Aber das durfte einfach nicht das Ende sein! Nicht nach all den Anstrengungen, die wir unternommen hatten, in dieses Zimmer zu gelangen. Es war einfach nicht fair. Ich sah zu Edaine, die betreten neben mir stand und langsam ihre Arme herunter nahm.

„Was war das?“, fragte ich und rappelte mich mal wieder auf. Wie oft war ich eigentlich seit heute morgen schon der Länge nach hingestürzt? Hatte nicht alles mit einem Fall begonnen?

Edaine schüttelte resigniert den Kopf. Die Antwort auf meine Frage kam nicht von ihr, sondern von einer Stimme in unserem Rücken. Dort stand plötzlich der Tourist; aus dem Nichts hinter dem Türrahmen aufgetaucht, in dem sein böser Bruder gerade scheinbar verschwunden war. Er hatte den Untergang dieser Welt also doch überlebt. Und er hatte eine der Tauben vom Domplatz mitgebracht. Sie flatterte benommen durch den Raum und landete ungeschickt auf der Kommode, wo sie es sich zitternd und aufgeplustert bequem machte. Ihr Hals bewegte sich aufgeregt hin und her. Sie kippte ihren kleinen Kopf zur Seite und schien uns durch eines ihrer schwarzen kugelrunden Äuglein neugierig zu belauschen, aber es ging kein Geräusch von ihr aus, kein Gurren, kein Schaben.

„Er ist entkommen. Und er hat Lina mit sich genommen“, flüsterte Alban heiser, „wir waren einfach zu spät dran.“

Ich wandte mich von dem seltsamen Tier weg zurück zu ihm. Dabei entdeckte ich, dass der zweite Linus und auch Pablo verschwunden waren, sich ebenfalls mit Rubens Fingerschnippen aufgelöst hatten. Schade, ich hätte den Maler jetzt gut brauchen können. Er war fast noch mehr als Edaine der Halt gewesen, der mich den ganzen Irrsinn hatte überstehen lassen. Ich musterte Alban, der sich offenbar etwas erholt hatte. Mir fiel jetzt auf, dass er sich durch eine dünne, helle Narbe an der Stirn von seinem Zwilling unterschied. Er wirkte auf mich fast noch mutloser und verzweifelter als in dem Moment, als ich ihn aus dem Herkulesbrunnen vor dem Dom gezogen hatte. Das farbenfrohe Hawaii-Hemd mit dem hässlichen Ananas-Muster und das lächerliche Baseball-Cap, das er wieder auf dem Kopf trug, bildeten einen grotesken Widerspruch zu seiner in sich zusammengesunkenen, kraftlosen und aller Hoffnungen beraubten Gestalt. Er schwankte.

„Wo ist er hin?“, fragte ich. „Was können wir tun? Können wir hinterher?“

Alban musterte mich scharf. Ich entdeckte einen Funken Hoffnung in seinen verzweifelten Augen. Ruhig schloss er hinter sich die nur noch halb in ihren Angeln lehnende Tür, dann schleppte er sich langsam zum Bett, auf das er sich ächzend fallen ließ. Da waren wir nun, die drei letzten Menschen auf der Welt und eine Taube, gefangen in einem kleinen, schäbigen Zimmerchen mit abgenutztem Mobiliar, dem einzigen Ort, der in diesem Nussschalen-Universum noch Bestand hatte und sich nicht in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Alban deutete auf einen Stuhl, der neben seinem Ruhelager stand, auf dem er es sich eben bequem gemacht hatte. Erst nachdem ich mich gesetzt hatte, ging er auf meine Fragen ein:

„Willst du das wirklich für mich machen? Ich könnte dich auch aus diesem Alptraum zurück in deine Realität bringen, aus der du so unverhofft für uns alle aufgetaucht bist.“

„Dort erwartet mich außer Knochenbrüchen und Leid nichts. Ich habe es nicht eilig. Mit deinem Bruder habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Und ich habe noch ein paar weitere Fragen“, warf ich eilig ein, bevor Alban ebenfalls mit den Fingern schnippte und mich heimschickte. „Du hast mir vorhin ein paar ehrliche Antworten versprochen.“ Er seufzte zögernd und sah hilfesuchend zu Edaine, die ihm aufmunternd zunickte. Sie trat neben mich und nahm mich an der Hand.

„Er wird uns helfen“, sagte sie überzeugt. „Er und Georg Habakuk. Ich habe eure Zukunft schon in meiner Vergangenheit erlebt, vergiss das nicht.“

„Wer ist Georg Habakuk?“, fragte ich erstaunt. Ich kannte nur eine Person mit dem Namen Habakuk. Und das warst du, Jonas“, fügte Linus hinzu und sah vorsichtig zu seinem Freund hinüber.

Bevor er fortfahren konnte, lachte Jonas laut auf und begann zu klatschen.

„Fast hättet ihr mich drangekriegt.“

traum4-5

Er unterbrach erneut die Erzählung des Bildhauers, der ihn betroffen und auch ein wenig verärgert aus seinem Rollstuhl heraus musterte.

„Nein, wirklich, ich war so in der Geschichte gefangen, dass ich bereit war, alles zu schlucken. Du bist ein großartiger Erzähler, Linus, und ich wollte wissen, wie weit du gehst. Nicht an mir, sondern an dir ist ein Schriftsteller verloren gegangen. Eine jenseitige Welt ohne Menschen und Naturgesetze, in der man die Zeit wie einen Berg erklimmen muss, eine Burg, die sich auf den Kopf stellt und sich in ‘Nichts’ zusammenfaltet, ihr Gott ist ein amerikanischer Tourist, dann sind da noch deine Zukünftige, Picasso und eine Kopie von dir selbst. Die Zukunft findet in der Vergangenheit statt. Ich würde gerne das Buch lesen!“ Jonas schüttelte den Kopf. „Und jetzt noch mein Vater. Aber das ist ziemlich geschmacklos. Wohin soll das denn noch führen?“

Linus wechselte wieder einen Blick mit seiner Frau.

„Bring uns das Foto“, sagte er. Edaine zögerte und der Bildhauer strich ihr über das Haar.

„Es wird nicht anders gehen. Und hole bei der Gelegenheit auch gleich noch eine Flasche vom Pinot. Du weißt schon, den, den ich vor dir im Atelier versteckt halte. Den du immer absichtlich übersiehst.“ Er wandte sich an Jonas. „Weißt du, ich sollte eigentlich nichts mehr trinken. Durch die Lähmung sind auch meine inneren Organe angegriffen. Meine Nieren arbeiten nicht mehr richtig und meine Leber, nun … sie ist ein zäher, aber inzwischen recht großer Teil von mir. Sie hat auch schon einiges durchmachen müssen.“

Jonas wusste nicht, ob Binderseil mit seinen letzten Worten seine Leber oder seine Frau meinte. Die beiden Männer sahen Edaine hinterher, die barfuß mit tänzelnden Schritten aus dem Zimmer schwebte. Und das ‘Schweben’ war fast wörtlich zu nehmen. Was war das für eine wunderschöne, reizvolle Frau, diese zarte, fast durchsichtige Erscheinung mit den nachtschwarzen Haaren, die angeblich aus einer anderen Welt stammte und auf Jonas paradoxerweise sowohl zerbrechlich als auch voller Kraft wirkte. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, musste sich Jonas eingestehen: Er war trotz dessen Behinderung ein wenig neidisch auf den Bildhauer. Er selbst hätte sofort seine körperliche Unversehrtheit und Gesundheit auf dem Thron der Liebe geopfert, wenn er sie gegen eine Partnerin wie diese hätte eintauschen können. Aber Katharina, die seine große Liebe gewesen war, hatte ihn verlassen, weil er viel mehr an seine Karriere als an ein Familienleben gedacht hatte. Er hätte auf ihren Kinderwunsch eingehen und ihn nicht rigoros von sich weisen sollen …

„Bitte?“ Jonas drehte ertappt den Kopf. „Ich habe nicht zugehört.“

Binderseil lächelte sardonisch. „Das ist mir nicht entgangen. Und ich will auch überhaupt nicht wissen, was du gedacht hast. Ich sagte, Edaine ist ein Engel. Wie ich eben sagte: Sie wird dir …“

Er verstummte mal wieder und Jonas hatte den Eindruck, der Bildhauer würde sich auf die Zunge beißen. Linus ließ sich auch durch ein aufforderndes Nicken nicht überreden, seinen Satz zu vollenden. Offenbar bewegte er sich auf einem verbalen Minenfeld, das für den früher so lautstark pöbelnden und kein Fettnäpfchen auslassenden, allzu leichtfertig schwatzenden Künstler ein äußerst heikles Terrain war. Jonas überlegte, was er eben versäumt hatte, welches Geheimnis der Bildhauer beinahe ausgeplappert hatte. Die beiden musterten sich stumm, als hätte Edaine ihre Fähigkeit zu reden mit sich genommen.

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