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Aber ein Traum Literatur Roman

Aber ein Traum – Roman (4. Kapitel – Teil 4)

Edaine! Was muss ich tun?“, rief ich, aber sie hatte jetzt wieder fest die Augen geschlossen, murmelte erneut ein paar Worte einer fremden Sprache, stockend, aber konzentriert. Durch einen seltsamen Zufall der Akustik drangen sie so deutlich zu mir herauf, als würde sie neben mir stehen und in mein Ohr flüstern.

Chuir iad an Caisteal a’ Ghlinne mi“, sagte sie bedächtig, “an seòmar ìosal cho fuar.“ Später erfuhr ich von ihr, dass es der Beginn eines nicht besonders gelungenen gälischen Gedichtes war, das ich inzwischen ebenfalls auswendig kann. Nicht die Wörter waren entscheidend, sondern die Art, wie sie sie sprach, sich in ihnen konzentrierte. Edaine hätte stattdessen auch den Waschzettel meines Hemds vorlesen können; diese Strophen schienen ihr aber angemessener: „Chàraich iad mis’ ann am prìosan, ‘s an fhìrinn agam ga luaidh …

So schnell wie er begonnen hatte, endete der Spuk. Der Zerrspiegel war zerschlagen. Zwischen zwei Augenzwinkern festigten sich mit einem zitternden Schauder die Proportionen des Flurs. Der Teppich war kein nach mir haschendes Monstrum mehr, sondern lag wieder friedlich unter meinen Füßen. Gleichzeitig kehrte die normale Gravitation zurück. Ich ließ die Kante, die mich eben noch gerettet hatte, vorsichtig los und stand endlich wieder fest auf dem Boden, während neben mir die Glasscherben wie nach einem kurzen Moment der Verwirrung in ihrer Flugbahn stoppten, als würden sie gegen ein unsichtbares Hindernis stoßen und dann schnell senkrecht zu Boden fielen, dort in tausend Teile zersprangen.

Durch die zerstörten Fenster drang nun die ungebremste Wut des Gewitters, das die Burg umtobte, Sturmgebrüll und sintflutartiger Regen peitschten schräg durch die Öffnungen ins Gebäude und schnell war ich wieder nass bis auf die Haut. Das Ganglicht flackerte, erlosch. Ich atmete tief ein, spähte nach vorn. Die Tür, die ich eben noch über mir, nun erneut vor mir hatte, war noch immer nicht ganz geschlossen, an zwei Seiten strahlte durch die handbreite Spalte, die sie noch geöffnet war, ein heller Schein in den Gang. Dort im Zimmer, in dem sich meine mir noch unbekannten Feinde verbarrikadieren wollten, funktionierte das Licht offensichtlich noch.

Mach schnell“, hörte ich Edaines Stimme hinter mir, „lange werde ich diese zerbröckelnden Reste dieser Welt nicht mehr zusammen halten können. Sie gehört inzwischen Raban Waldescher und er ist viel stärker als ich!“ 

Hatte sie mir erneut geholfen? War es ihr und ihren seltsamen Worten zu verdanken, dass sich alles wieder normalisiert hatte? Hatte ich mich eben in eine Hexe verliebt? Es war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken; jetzt musste ich schnell sein. Erneut lief ich los, ignorierte den heftigen Seitenwind und den Regen, den er wie aus Kübeln in den engen Gang schüttete. Ich hatte gerade noch meinen Fuß in der Tür, bevor sie ganz geschlossen wurde. Das war ein Fehler, denn die dünnen, durchweichten Segeltuchschuhe boten keinen Schutz gegen die Gewalt, mit der auf der anderen Seite an der Klinke gezerrt wurde. Der heftige Schmerz im Fuß ließ mich um Atem ringen, aber es gelang mir, mit den Händen in den Türspalt zu fassen und zu ziehen. Tatsächlich verbreiterte sich der Spalt ein wenig.

Edaine, hilf mir!“, brüllte ich, aber da war sie schon an meiner Seite und klammerte sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Klinke, stemmte sich mit einem Fuß gegen die Wand neben der Tür. Ich nahm meinen wehen Fuß aus dem Spalt und folgte ihrem Beispiel. Damit hatten wir den besseren Hebel als unser Gegner auf der anderen Seite. Mit gemeinsamer Anstrengung gelang es uns millimeterweise, die Tür weiter zu öffnen. Hinter ihr stöhnte jemand vor Anstrengung und ich hörte ein widerwärtig knirschendes Geräusch, das nicht von dem überanstrengten Holz stammte, sondern tatsächlich unser Gegner mit seinen Zähnen erzeugte. Lange konnte er uns keinen Widerstand mehr leisten, das merkte ich. Jedoch war der Spalt noch zu klein, sich durch ihn in das Zimmer hineinzuquetschen, aber ich konnte doch einen Blick ins beleuchtete Innere werfen. Vor Überraschung hätte ich fast losgelassen: Von der anderen Seite starrten mich hasserfüllte, mordlüsterne Augen an; Augen, die ich kannte.“

Linus Binderseil machte an dieser Stelle seiner Erzählung eine bedeutungsvolle Pause. Er kratzte sich am Kinn. Wieder schien es, als würde er überlegen, was er erzählen durfte. Auch Edaine musterte sehr nachdenklich Jonas, dessen Schläfrigkeit verflogen war. Er hatte interessiert gelauscht und war gespannt nach vorn an die Kante seines Sitzplatzes gerutscht. Jonas war nur noch eine Armlänge vom Rollstuhl des gelähmten Bildhauers entfernt und machte eine ungeduldige Handbewegung.

Und?“, fragte er gespannt. Linus nickte. Er hatte sich entschieden:

Ich sah in meine eigenen Augen. Wer mir den Eintritt verwehrte, das war ich selbst“, sagte er.

Jonas stutzte kurz, dann lehnte er sich zurück und begann langsam und künstlich zu lachen. Er bemühte sich um einen zynischen Ton, aber es wollte ihm nicht ganz gelingen. Der Bildhauer hob die Hand.

„Freilich war das nicht ich, sondern nur ein weiterer Doppelgänger. Aber ich starrte diesem Komplizen des Waldescher-Bruders fassungslos ins Gesicht. Glaube mir, es war meines. Ich blickte in einen lebendig gewordenen Spiegel. Der Linus dieser Welt knurrte mich an und ich prallte zu Tode erschrocken zurück. Die Tür rutschte aus meinen Händen. Sie schlug trotz Edaines Anstrengungen vor meiner Nase zu.

In diesem Augenblick flog wie bestellt, und vielleicht habe ich das ja auch, ein dunkler Schatten an mir vorbei und landete donnernd auf der Tür, deren Schloss gerade einschnappte und die die Wucht des Aufpralls fast aus den Angeln sprengte, nach innen in ihre Zargen drückte. Genau im richtigen Moment war Pablo wieder da! Die Gewalt seines Sprungs gegen das Holz der Tür war so stark, dass das Phantom drinnen zurücktaumelte und den Türgriff, an dem es bisher gezogen hatte, losließ. Zumindest vermute ich das, denn der stämmige Maler konnte anschließend ohne Mühe die Türe öffnen, um die ich eben noch so verzweifelt gegen mich selbst gekämpft hatte. Sie schwang ihm halb zerborsten entgegen. Zuerst sah ich nur mein Ebenbild verdutzt auf dem Boden sitzen und sich die gestauchte Hand halten, deren Schmerz ich kurz selbst im Gelenk zu spüren vermeinte. Pablo hechtete sofort auf ihn und verwickelte ihn in eine wüste Balgerei. Ineinander verkeilt rollten die beiden hin und her. Der Linus dieser anderen Welt schrie, denn der Maler biss in sein Ohr. Ich fasste mir fast mitleidig an meines. Er musste der eigentliche Bewohner der Residenz oben auf dem Hügel sein und ich fragte mich, was ihn bewogen hatte, Raban zu unterstützen.

Dann fiel mein Blick in den billig und spärlich möblierten Raum, vielleicht war es das Zimmer des Hausmeisters der Burg. Am anderen Ende stand vor einem vergitterten und mit einem Rollladen abgedunkelten Fenster der Tourist und umklammerte eine sich verzweifelt wehrende Frau. Nein, das war nicht der Weltenschöpfer, den ich in der Kathedrale zurückgelassen hatte. Er sah nur aus wie er. Das musste sein irrer Bruder sein. Langsam bekam ich diese Doppelgänger-Schimären wirklich satt. Gab es denn jeden mehrmals? Jener ältere und breite Mann dort hinten trug keine Shorts oder ein kurzärmliges Hawaii-Hemd wie sein Bruder, er hatte stattdessen einen Anzug und einen bis zu den Knöcheln reichenden schwarzen Regenmantel an, der ihn wie den Bösewicht in einem Italowestern wirken ließ.

‘Wie passend’, dachte ich noch, gekleidet zum Showdown! Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und ich bemerkte, dass er nicht mich ansah, sondern an mir vorbei zum leeren Türrahmen blickte.

Es ist so weit“, stellte er fest. „Alles endet. Alban hat doch noch verloren.“

Gleichzeitig mit Edaine, die sich wieder aufgerichtet und neben mich gestellt hatte, drehte ich mich um und sah in den Weltuntergang. Der um sich selbst wirbelnde Malstrom, der die Burg zerfetzte, hatte inzwischen auch die Tür erreicht. Mir war, als würde ich direkt von oben in das Auge eines unermesslich großen Tornados blicken, dessen kreisrunder Schlund in gewaltige Tiefen zu reichen schien. Felsbrocken und Einrichtungsgegenstände der Burg wurden gemeinsam mit Wasserfontänen und staubiggrauen Wolkenschwaden um das bodenlose schwarze Loch vor der Tür geschleudert, aus dem mich wie ein Auge das Nichts anstarrte. Seltsamerweise war trotz der alles zermalmenden Gewalten dort draußen kein Geräusch zu hören, diese Welt starb in vollkommener Stille. Der Anblick erzeugte einen hypnotischen Sog, dem ich mich mit all meiner Kraft entgegenstemmen musste, damit ich nicht in das wütende Wetter hineinstolperte, in das Nichts, das alle Existenz auslöschte. Ich trat wirklich ungewollt einen Schritt vorwärts, dann noch einen, angezogen wie eine Motte vom Licht einer flackernden Kerze. Edaine neben mir packte mich verzweifelt an der Schulter, krallte sich so fest mit ihren Fingern durch mein dünnes Hemd in mein Fleisch, dass es schmerzte. Aber auch sie schien von dem Anblick gefangen, denn sie trat wie von unsichtbaren Fäden gezogen mit mir gemeinsam auf den Türrahmen zu, hinter dem wir verlöschen würden, zerblasen und zerrieben von dem Wirbel, der diese wundervolle Welt des ewigen Sommernachmittags zerrissen hatte.

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Ich wäre ausgesprochen dankbar, wenn mir vielleicht jemand ein wenig zur Hand gehen könnte“, hörte ich hinter mir Pablos lakonische Stimme und mit ihr brach der Bann sofort.

Ich drehte mich zurück zum Zimmer, weg von dem Armageddon, das ich weiterhin in meinem Rücken spüren konnte. Der Wunsch, im Nichtsein zu verlöschen wie ein Funke in der Leere des Alls, wich sofort der handfesten Realität des Zimmers, auch wenn in diesem Universum nun nichts mehr außer diesen vier Wänden existierte. Das spielte keine Rolle mehr, denn was mir diese Welt noch zu bieten hatte, hielt ich gerade in meinen Armen. Edaine war es wert, für sie den Rest zu opfern. Ich nahm sie also fest an der Hüfte und schob sie sanft von dem Schlund, der sie genauso bezaubert hatte wie mich. Ich zwinkerte Pablo zu, der breitbeinig auf dem Oberkörper und den Armen meines hilflos knurrenden Doppelgängers saß und triumphierend eine Hand zum Victory-Zeichen hob. Ich war bereit für die letzte Auseinandersetzung.

Gemeinsam mit Edaine trat ich auf den Kerl im schwarzen Mantel zu, der weiterhin mit grausamem Griff die Frau in Armen hielt. Sie hatte seiner Umklammerung nichts entgegenzusetzen und sah hilfesuchend in meine Richtung. Mit ihrer altmodischen Kleidung und ihren kurzgeschnittenen Haaren wirkte sie wie aus der Zeit gefallen. Mir fiel auf, dass sie zu ihrem weit geschnittenen Rock keine Schuhe trug, sondern mit  nackten Füßen auf der Suche nach festerem Stand über den Teppich scharrte. Dabei stemmte sie sich verzweifelt nach hinten gegen ihren Widersacher, suchte vergebens, ihn von sich wegzudrücken. Die Frau war hochschwanger, musste bereits im fünften oder sechsten Monat sein.

Welches Ass hatte der Zwilling des Touristen noch im Ärmel, nachdem Pablo seine Unterstützung so lässig schachmatt gesetzt hatte? Ich fragte mich kurz, wo der Tourist selbst in dem Chaos des Weltuntergangs da draußen vor der Tür verblieben war. Hatte er sich mit den Olivenhainen, dem Meer, dem Strand und der rostroten Stadt aufgelöst oder saß er noch immer erschöpft auf der Kirchenbank im Dom? Ich stellte mir das erhabene Gebäude vor, wie es noch immer auf seinem Teil des Platzes ruhte und zwischen den Trümmern und dem Nichts umher schwebte.

Jetzt beenden wir mal die Sache“, sagte ich. „Du hast deinen Spaß gehabt, aber nun sind wir dran. Mich kannst du nicht mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen.“

Mein Gegenüber musterte mich geringschätzig und schnaubte belustigt durch die Nase.

„Du bist aus Albans Realität. Das war ein kluger Schachzug von ihm. Ich hätte nicht gedacht, dass er noch die Kraft aufbringt, den Gegenpart meines Helfers hierher zu bringen. Und selbstverständlich hat er dir wie immer seine Hexe an die Seite gestellt. Was hat er dir versprochen? Welchen Wunschtraum hat er dir erfüllt? Oder bist du tatsächlich zufällig in diese Lande gestolpert? Das würde erklären, warum von allen Menschen hier ausgerechnet dein Zwilling noch existiert.“

Lass einfach das Mädchen los!“, brüllte ich. „Du ekelst mich an!“

Ich hatte genug. Raban schüttelte den Kopf.

Den Teufel werde ich tun“, erwiderte er ruhig. „Ich bin diesen langen Weg nicht gegangen, um jetzt den Schwanz einzuziehen. Bevor ich dir Lina überlasse, erwürge ich sie mit meinen eigenen Händen. Es wäre ja nicht das erste Mal.“ Edaine stöhnte auf. Sie riss ihre Hände nach oben, die Finger wie Waffen nach vorn gestreckt. Dabei ging sie auf Ruben zu, der Lina ein wenig zur Seite schob. „Bleib stehen, Hexe!“

Das war mein Moment. Er war abgelenkt. Jetzt konnte ich ihn überwältigen!

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