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Palimpsest (Eine Kurzgeschichte)

“Eine Geschichte ist nur dann zuende gedacht,
wenn sie ihre schlimmste Wendung nimmt.”
Dürrenmatt

Ich öffnete heute morgen meine Haustür, um die Zeitung herein zu holen, fand den Winter und die Nachrichten, die die Nacht mir vor die Türschwelle gelegt hatte.

winterimnovember

Leute! Ich war doch nur eine Woche krank. Könnt ihr nicht mal sieben Tage auf euch selbst aufpassen?

Aus aktuellem Anlass meine Geschichte zum 9. November – dem “Schicksalstag der Deutschen” und nun wohl auch Amerikas.

 

Palimpsest

Palimpsest

 Um die Mittagszeit brach eine aufgewiegelte Kolonne von rund zweitausend Mann am Münchener Bürgerbräukeller auf. Viele von ihnen waren bewaffnet. Die kleine Polizeiabteilung, die den Aufmarsch verhindern sollte, floh vor solch einem massiven Ansturm und ließ die Putschisten unbehelligt durch das Isartor und das Tal hinauf zum Marienplatz ziehen. Dort entschieden sich ihre Arm in Arm voranschreitenden Führer, Max Erwin von Scheubner-Richter, Erich Ludendorf und Adolf Hitler, ein Triumphirat mit so etwas ähnlichem wie Mussolinis ‚Marsch auf Rom’ im wirren Sinn, zum Kriegsministerium zu ziehen. Gruppen rufender und winkender Anhänger auf den Gehsteigen feuerten sie an. Manche dachten in diesen unruhigen Zeiten allerdings, sie erlebten gerade die Ankunft der neuen Regierung.

Am oberen Ende der Residenzstraße gelangten die Marschierer zum Odeonsplatz an der Feldherrenhalle. Dort endete der Spuk, wartete doch ein zweites, wesentlich größeres Kordon der Bayerischen Landespolizei auf die Putschisten, die Gewehrläufe gegen den Mob gerichtet.

„Da kommen’s, Heil Hitler!“ schrie ein Zuschauer auf. Die Aufständischen zogen ihre Waffen. Welche Seite den ersten Schuss abgab, konnte später keiner sagen, aber es folgte ein wilder, fast halbminütiger Kugelhagel. Als das Feuer endlich eingestellt wurde, lagen 15 Putschisten und vier Polizisten tot am Boden. Die Menge stob auseinander.

Unter den Toten waren zwei der Initiatoren des Putsches, noch immer Arm in Arm lagen sie im Dreck der Straße und in ihrem Blut. Scheubner-Richter hatte zwei Kugeln in der Brust, Hitler war mit einem gezielten Kopfschuss zwischen die Augen gerichtet worden. Es war Freitag, der 9. November des Jahres 1923.

Alles war genau geplant und hatte perfekt geklappt. Dr. Simon Renning zog den langen Lauf seines etwas veralteten M40-Scharfschützengewehres ins leer geräumte Zimmer zurück und schloss die zerschlissenen Vorhänge vor dem Fenster. Er wollte nichts von dem Chaos sehen, das er weit dort unten am Ende der Residenzstraße mit zwei Schüssen ausgelöst hatte. Er nahm sicherheitshalber die letzten drei Kugeln 7.62mm NATO Präzisionsmunition aus dem Magazin und stellte das gut einen Meter lange Gewehr zur Seite, lehnte sich dann gegen die unverputzte Ziegelwand des Zimmers und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.

Er lachte im Halbdunkel höhnisch auf und blies den Rauch des ersten, hektischen Zuges in die Luft. Als er eben das unverwechselbare Antlitz Hitlers im Fadenkreuz seiner Waffe gehabt hatte und in zehnfacher Vergrößerung nahezu jede Hautpore des noch recht jungen Mannes sah, war er die Ruhe selbst gewesen, nur ein Gewicht auf dem Druckpunkt des Abzugs, ebenso kühl und metallen wie seine Waffe. Ruhig hatte er zugesehen, wie auf der Stirn seines Opfers ein roter Punkt erschien, sein Kopf wie durch einen heftigen Schlag nach hinten gerissen wurde, der Körper fiel und die Nebenstehenden mit sich zu Boden riss.

Aber jetzt jagte das Adrenalin durch Rennings Körper, sein Herz pumpte rasend und er zitterte vor Aufregung. Sie hinkte hinterher wie ein alter Mann, der noch auf die Straßenbahn aufspringen will. Dabei war alles getan, er lebte schon im Danach, hinter dem imaginären Vorhang, der sein Leben zweigeteilt hatte: Er, Dr. Simon Renning, Quantenphysiker und würdevoller Nobelpreisträger, ein dreiundsiebzigjähriger, unscheinbarer Herr mit schütterem Haarwuchs, er war der Drachentöter; er hatte das Monstrum mit einem Kopfschuss erlegt. Voller Genugtuung inhalierte er den beißenden Qualm der billigen Inflationszigarette, nahm den Moment bewusst in sich auf, diesen Augenblick, dem er zwanzig Jahre seiner Lebenszeit geopfert hatte. Nun war er endlich an seinem Ziel ankommen, das so lange absurd fern und fremd schien: Der alte kleine Dr. Renning hatte die Geschichte geändert, den Nationalsozialismus mit zwei gut gezielten Schüssen aus der Historie gefegt.

Die klassische Physik hatte die Teleportation, die man in Anlehnung an alte Star-Trek-Fernsehserien auch „Beamen“ nannte, lange als Hirngespinst abgetan, als 1993 theoretisch und 1997 auch praktisch gezeigt werden konnte, dass die Teleportation von Quantenobjekten unter gewissen Bedingungen aber doch möglich ist. Den Forschungsgruppen von De Martini in Rom und Zeilinger in Innsbruck gelang damals als den Ersten eine Teleportation aufgrund der nichtlokalen Einstein-Podolsky-Rosen-(EPR)-Korrelation von Spins.

2004 nahm eine Forschungsgruppe in Oxford diese Experimente wieder auf und erweiterte sie. Der Ansatz der brillanten jungen Wissenschaftler unter der Leitung des genialen Professors Dr. Simon Renning griff jedoch weit über die Teilchenteleportation hinaus.

Renning war 1942 im Ghetto von Theresienstadt geboren worden und hatte als einziger seiner Familie überlebt, weil ein mitleidiger Eisenbahnarbeiter namens Renning den Säugling als sein eigenes Kind ausgegeben hatte. Die gesamte Familie war jedoch nach Auschwitz transportiert worden und hatte sich dort buchstäblich in Rauch aufgelöst. Rennings deutschstämmige Pflegeeltern waren nach dem Krieg als Flüchtlinge in den Westen gegangen und hatten sich bei Tübingen angesiedelt, wo Simon aufwuchs und unter Claus Jönsson eine glänzende Karriere als Quantenphysiker begann. Ende der sechziger Jahre wirkte er bereits als blutjunger, aber genialer Assistent von Peter Higgs an der Universität von Edinburgh; ab 1980 war er Professor für theoretische Physik und später für Nano-Forschung am Cavendish-Laboratorium in Cambridge, bis er dann in die freie Forschung ging und sich dem scheinbar unmöglichen Traum der Teleportation zuwandte.

Das von Anfang an erklärte Ziel Rennings war, Gegenstände von einem Ort zum anderen zu ‚beamen’, was nichts weniger hieß, als zum Beispiel einen Apfel wie ein Legomodell in seine atomaren Bausteine und Beziehungen zu zerlegen, den ‚Bauplan’ zu verschicken und den Apfel mit seiner Hilfe an einem anderen Ort mit dem dort vorhandenen Material wieder zusammenzusetzen. Was mit Legosteinen problemlos funktionierte, stellte mit Atomen und Energien eine weitaus größere, nahezu unmögliche Herausforderung für Rechnerleistung, Energie und Nanotechnologie dar. Doch die Gelder der Sponsoren, allen voran der Transportwirtschaft, flossen so reichlich, dass schon wenige Jahre später die ersten praktischen Versuche unternommen werden konnten.

Dabei kam es zu ganz erstaunlichen Anomalien. Ge-‚beamte’ Gegenstände ließen sich einfach nicht gezielt von einem Ort zum andern bringen, sondern verschwanden im Nichts und tauchten stattdessen am gleichen Ort ein paar Tage später wieder auf, oder, wie der sprichwörtlich gewordene Glaswürfel in dem berühmten London-Experiment von 2007, bereits zwei Wochen vorher. Dadurch gelang es, die Existenz von Tachionen, also rückwärts in die Zeit gewandter Teilchen, zu beweisen, deren Unschärfeverhalten das Transportieren von Gegenständen unmöglich machte, nicht aber ihre Verschickung in die Zeit. Das Team um den phänomenalen Quantenforscher Renning war in einem klassischen Serenity-Effekt auf die noch viel fantastischere Möglichkeit der Zeitreise gestoßen. Dafür erhielt Dr. Renning 2010 den Physiknobelpreis.

Damit steckte jedoch die Forschung in einer Sackgasse. Die Zeitreise von Gegenständen kostete immense Energien und Ressourcen, war aufgrund der atomaren Vorgänge höchst radioaktiv und hatte keinen sichtbaren ökonomischen Nutzen. Sie war nicht genau auf ein Datum justierbar, sogar gefährlich, wenn an dem Ort, an dem ein Gegenstand erschien, zufällig eine Person stand, denn man wusste nie, wann ein Objekt wieder auftauchte. Dazu standen die Ethikkommissionen plötzlich vor ganz neuen Problemen, die man unter dem Begriff „Großvaterparadoxe“ zusammenfasste. Was wäre, wenn eine Atomuhr ins 18. Jahrhundert geschickt würde und dort Leibniz in die Hände fiele? Oder Cäsar eine Pistole in Finger bekäme und mit ganz neuen Argumenten den Senat auflöste? Würde sich dadurch unter Umständen die Geschichte ändern? Was wären die Folgen? Würden, wie die kühnste Vermutung der Wissenschaftler war, Stringereignisse ausgelöst, die Paralleluniversen schufen? Oder würde gar die Geschichte der Menschheit, die es dann so nicht mehr geben konnte, weil alles veränderbar war, im Chaos versinken? Die Mehrzahl der Forscher kam zu dem Entschluss, das Thema ‚Zeitreisen’ wie ein heißes Eisen zu behandeln. Es wurde zu den Akten mit einem Vermerk zur späteren Wiedervorlage gelegt.

Renning löste von einem Tag zum anderen sein Labor auf und zog sich mit den Geldern des Nobelpreises auf sein Landgut am Starnberger See zurück, wo er ganz offensichtlich in der oberbayerischen Abgeschiedenheit mit nur wenigen Mitarbeitern weiterexperimentierte. Nach einer Weile kam es in der näheren Umgebung des Sees zu seltsamen Ereignissen: Objekte erschienen und verschwanden, einmal tauchte ein Wanderstock in einem Biertisch in Pöcking auf, ragte wie festgewachsen oben und unten aus dem Holz. An einem 13. Juni schwebte plötzlich das Portrait Ludwigs II. über seinem Gedenkkreuz im See und fiel ins Wasser. Als dann auch noch einer von Rennings Mitarbeitern in der verschlossenen Krypta der Maria-Himmelfahrt-Wallfahrt in Aufkirchen erschien und laut rufend auf sich aufmerksam machte, während er gleichzeitig von mehreren Zeugen im sechzig Kilometer entfernten Kloster-Biergarten von Andechs angeheitert vor einer Maß Doppelbock sitzend gesehen wurde, bekam Rennings Villa in der Gegend den Ruf eines Geisterhauses und den Spitznamen ‚Villa Frankenstein’. Seltsamerweise endete dieser Spuk so schnell, wie er gekommen war und lange Zeit hinweg geschah nichts, was die Ruhe der Starnberger Bauern gestört hätte. Manche fragten sich, ob der geniale Nobelpreisträger überhaupt noch lebte. Fragten ehemalige Kollegen oder Journalisten nach Dr. Renning, wurden sie von den Assistenten oder der alten Haushälterin des Professors abgewimmelt.

In der Nacht zum 7. November 2015 kam es dann aufgrund einer enormen Spannungsspitze zu einem Stromausfall im gesamten oberbayerischen Raum und legte die Millionenstadt München für vierundzwanzig Stunden lahm. Obwohl es kein Gewitter gab, brannte gleichzeitig Dr. Rennings Villa bis auf die Grundmauern nieder, Augenzeugen berichteten, das Anwesen sei wie bei einer Bombendetonation explodiert. Bei dem Feuer fanden die drei Assistenten und die Haushälterin den Tod. Die Leiche von Dr. Simon Renning wurde nie gefunden. Er blieb verschollen.

Und nach einiger Zeit verstummten auch die Gerüchte. Von Rennings Zeitmaschine, wenn es sie den überhaupt gab, blieb nur ein schwarzer Brandfleck, ein paar verschmorte Platinen und hohe Bequerelwerte rund um den See.

Simon Renning presste seinen Hinterkopf gegen die Ziegelmauer, schloss die Augen und bemühte sich um ruhigen Atem. Das würde jetzt noch fehlen, dass er vor Aufregung einen Herzinfarkt bekäme und nicht mehr die Früchte seiner langjährigen Arbeit genießen konnte. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde er in etwa zwei Stunden von seinem Assistenten Dr. Hahnrei in seine Zeit zurückgeholt, in eine Zeit, in der Hitler nie an die Macht gekommen war. Rennings Herz begann von Neuem schneller zu schlagen. Doch jetzt beschleunigte nicht mehr die Aufregung, sondern Glück seinen Puls. Alles würde anders, auch wenn er durch die Radioaktivität, der er bei seiner Reise ausgesetzt worden war, nicht mehr lange leben würde.

Seit er um die Möglichkeit der Zeitreise wusste, war sein Ziel festgestanden. Er selbst wollte sich zurück-‚beamen’ und die Geschichte dort korrigieren, wo sie ihre schlimmste Wendung genommen hatte. Als Gast aus der Zukunft wollte er schaffen, was den vielen zeitgenössischen Attentätern nicht geglückt war: Er wollte Hitler erschießen und das möglichst früh in dessen ‚Karriere’. Der missglückte Putschversuch von 1923, bei dem sich Hitler zwar verletzte, der ihn aber ansonsten in seinen Auffassungen nur bekräftigte, war Renning ideal erschienen. In der Wirrnis der Ereignisse vor der Feldherrenhalle, in der sein Opfer ja in der ersten Reihe stand, war es ein Leichtes, der Schießerei ein, zwei weitere Kugeln hinzuzufügen und dem Spuk ein Ende zu bereiten.

So hatte er nach der Nobelpreisverleihung die örtliche Nähe von München gesucht und begonnen, in seiner Villa am See mit der Zeitreise von Personen zu experimentieren. Alles war erstaunlich glatt gelaufen, die Fortschritte rasant; allein die enormen Energien, die benötigt wurden und das zielgenaue Senden an einen ungefährlichen Ort waren problematisch gewesen, aber Renning hatte mit Hilfe seiner Assistenten Lösungen gefunden. Und so wagte er sich am 7. November 2015 zweiundneunzig Jahre in die Vergangenheit; vorausgeschickt hatte er zwei Koffer, in dem einen waren Kleidung zum Wechseln und historische Golddollar, in dem anderen, schwereren, ruhte auseinander genommen ein etwas veraltetes, aber funktionstüchtiges Hochpräzisions-Scharfschützengewehr. Renning hatte über ein Jahr an Übung benötigt, bis er damit über sechs-, siebenhundert Meter Entfernung sicher ins Schwarze treffen konnte. Das Glück blieb ihm hold. Niemand nahm weiter Notiz von dem alten Mann im eleganten Mantel, der am Mittwochmorgen am Bahnhof von Starnberg für ein paar Billionen Inflationsmark ein Ticket 1. Klasse nach München löste. Nachdem er in einer kleinen Pension am Stadtrand übernachtet hatte, gelang es ihm überraschend schnell eine Wohnung im 4. Stockwerk eines Hauses in der Residenzstraße anzumieten, von deren Fenster aus er eine perfekte Sicht auf den Odeonsplatz hatte. Niemand stellte ihm neugierige Fragen, denn in diesen Novembertagen war jeder mit sich selbst und dem Ausgeben seiner Geldscheinbündel beschäftigt, die bereits am frühen Nachmittag nicht mehr das Papier wert waren, auf das sie gedruckt waren. Oder er spielte Revolution, baute Barrikaden und prügelte sich mit dem politischen Feind.

Nun war Renning beschäftigungslos und musste einen langen Tag im alten München ausharren. Er blieb vorsichtig und verbrachte die meiste Zeit nahe seiner neuen, kurzfristigen Behausung in der Confiserie Rottenhoefer, kaufte sich Zigaretten, trank Café Hag und atmete Lokalkolorit, während es draußen auf den Straßen gärte und die Unruhen einsetzten. Der Professor fühlte sich ein wenig wie in einem Freiluftmuseum. Es war ein unwirklicher, wie geträumter Tag. Die Vergangenheit ist ein fernes, fremdes Land.

Aber das war jetzt alles vorbei, Renning hatte seinen Plan verwirklicht. Ein wenig Kopfschmerz spürte er jetzt und sein Rücken tat ihm weh, was ihn nicht weiter wunderte; schließlich war er nicht mehr der Jüngste und die Nacht auf dem kalten Linoleumboden der leeren Wohnung war trotz seines dicken Wintermantels freud- und endlos gewesen und der Weg zur verschmutzten Gemeinschaftstoilette im ersten Stock trostlos. Gegen halb acht graute endlich der Morgen, es schien ein diffuser, kühler, aber trockener Tag zu werden. Renning fühlte sich wie gerädert, aber das konnten auch die Auswirkungen der radioaktiven Vergiftung sein. Das waren nur kleine Unbillen. Ein Lächeln stand wie festgemeißelt auf seinen Lippen.

Während Renning auf den Rückruf wartete, versuchte er sich vorzustellen, was das für eine Welt wäre, die er nun 2015 vorfände. Bisher hatte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Hitler musste ausradiert werden, das war klar, dann konnte es nur besser werden. Das glaubte Renning auch jetzt noch; aber was sonst geschehen würde: Er konnte es sich nur schlecht vorstellen. Hitler würde sich jetzt nicht mehr durch eine Farce von einer Gerichtsverhandlung stärken lassen, nicht im Landsberger Gefängnis sein fatales Buch schreiben, nicht Goebbels zum wahren Glauben erwecken, er würde nicht Reichskanzler, nicht Führer, nicht Kriegshetzer, nicht zum größten Menschenmetzger in der Geschichte werden. Das alles würde einfach nicht geschehen. 1933 würde wahrscheinlich wieder von Papen Reichskanzler, die rechte Bewegung ruhte nicht allein auf Hitlers Schultern. Thälmann hätte vielleicht Hindenburg geschlagen. Wäre Weimar kommunistisch geworden? Das war alles ganz schwer einzuschätzen und machte ihm noch mehr Kopfschmerzen.

Er dachte lieber an seine eigene Geschichte. Sie wäre völlig anders verlaufen.

‚Was heißt hier wäre!’, dachte er. ‚Sie wird!’

Rennings Familie wird überleben. Seine Großeltern und Geschwister, sein Vater, seine Mutter, all diese Menschen, die ihn geliebt und die er nie zu Gesicht bekommen hatte, sie würden nie nach Theresienstadt ins Ghetto und dann nach Auschwitz verschleppt. Simon Renning wird von liebenden Eltern in einem polnischen ‚Stedl’ aufgezogen und sich statt für Physik für den Talmud interessieren. Vielleicht ist er bei seiner Rückkehr Oberrabbiner.

Ein Gedanke stach wie ein Eiszapfen in sein Rückenmark. Es war ein logisches Paradoxon, das ihm den Atem raubte. Wenn er nie Physik studierte, dann würde er auch keine Zeitmaschine bauen können! Und selbst wenn er das doch tat: Er brauchte nicht zum 9. November 1923 zurückzureisen, denn Hitler war für ihn nur eine unbedeutende Randfigur des Krisenjahres der Weimarer Republik, eine Fußnote der Geschichte, die durch eine verirrte Kugel ihrem eigenen Größenwahn erlegen war. Wenn er ihn also gerade eben erschossen hatte, dann gab es für Renning keinen Grund zurückzureisen und es zu tun. Nur wenn er Hitler nicht tötete, dann musste er zurück und ihn aus der Geschichte fegen. Für einen „Oberrabbiner Renning“ gab es keinen Grund, das zu tun. Aber er war doch zurückgekehrt! Er hatte geschossen! Hitler war tot!

Rennings Gedanken verwirrten sich, während er versuchte, sie zu fassen. Sie entglitten ihm wie Sand, den er in den Händen bewahren wollte. Im gleichen Augenblick geschah etwas Merkwürdiges.

Es war, als würde die Zeit selbst unter Wasser getaucht. Dem Professor fühlte sich im Zentrum eines gewaltigen Erdbebens. Die Wände des Zimmers wankten, zogen sich zusammen. Renning wurde gepackt, geschüttelt, herumgeworfen. Gleichzeitig zuckten vor seinen Augen grelle Lichtblitze.

‚Das muss ein Herzinfarkt sein’, dachte er, ‚oder ein Gehirnschlag. Aber es fühlt sich eher an, als sterbe nicht ich, sondern die Welt.’ Für einen Wimpernschlag rang das Universum nach Atem, setzte einen Herzschlag aus.

Renning schrie. Dann… nichts, Bewegungslosigkeit, ein eingefrorener Moment.

So schnell wie der Spuk gekommen war, verging er wieder. Nichts schien sich verändert zu haben. Das Zimmer: Linoleum, zerschlissene Vorhänge, rohe Ziegelwände, sogar der Qualm der Zigarette in seiner Hand – alles war wie vor der Erschütterung. Das Gewehr stand auf seinen zwei dünnen Standbeinen wie ein Ausrufezeichen neben ihm. Tränen liefen aus Rennings Augen. ‚War ich das’, fragte er sich, ‚habe ich das getan?’

„DA KOMMEN’S, HEIL HITLER!“, hörte Renning eine hysterische Stimme brüllen. Laute Schreie antworteten. Das konnte nicht sein! Der Professor schnippte seine Kippe zur Seite und rappelte sich auf. Eben war es doch noch so still gewesen; Ruhe nach dem Sturm, Stille nach dem Tod. Hektisch riss Renning den Vorhang auf, zerrte ihn halb aus der Schiene und starrte hinaus. Ungläubig griff er nach seinem Gewehr und überzeugte sich mit dessen Zielfernrohr.

Renning hatte richtig gesehen. Dort hinten am Odeonsplatz standen sie wieder: Auf der einen Seite eine kleine, aber entschlossene Polizeieinheit, auf der anderen die Demonstranten und ganz vorne, in der ersten Reihe – dort stand auch er, quicklebendig, zornige Parolen brüllend – der Verfluchte! Rennings Kopf sank gegen den kalten Kolben seines Gewehres.

Er hatte die Zeit nicht betrügen können, sie hatte seine Tat einfach ungeschehen gemacht. Da war er nun, Dr. Simon Renning, Quantenphysiker und Nobelpreisträger, ein kleiner, unscheinbarer und alter Mann, der einzige Mensch an diesem 9. November 1923, der einen eigenen freien Willen hatte; der sich deswegen mutwillig herausgerissen hatte aus seinem Kontext – und er konnte mit dieser Freiheit nichts anfangen. Es war, als hätte er auf eine Leinwand geschossen, auf der ein alter Wochenschaubericht lief. Der Vorführer hatte ihn einfach ignoriert, den Film zurückgespult und wiederholte jetzt die letzten Szenen.

Rennings Tränen flossen, aber so einfach wollte er es der Zeit nicht machen. Er war kein Teil dieser Schleife, er war heraus gefallen. ‚Wir wollen doch mal sehen, wem dieses Remis schneller langweilig wird – mir oder der Zeit!’ dachte er, entsicherte sein Gewehr – es hatte ja wieder fünf Kugeln im Lauf – zielte, schoss und traf.

Dann wartete er.

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