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Aber ein Traum – Roman (3. Kapitel – Teil 5)

Jonas schloss die Badezimmertür hinter sich, machte Licht in dem fensterlosen Raum und lehnte sich dann erst einmal gegen das Holz der Tür. Er hatte wieder heftige Rückenschmerzen. Sie waren zurückgekehrt, als er sich aus dem Sofa erhob. Gleichzeitig kamen mit Macht Erinnerungen zurück, als wären sie ein Teil seines Rückenproblems.

Wie hatte er das alles vergessen können? Es war doch erst gestern geschehen.

Nachdem ihm Alban Waldescher den ersten Teil seiner Geschichte erzählt hatte – fiel ihm wieder ein – hatte er sich nicht von ihm getrennt, sondern gemeinsam einen Spaziergang unternommen – ziellos, wie Jonas dachte. Wie sie vom Fußballplatz auf dem Dorf in die Altstadt gelangt waren, wusste er nicht, zu Fuß waren das über zehn Kilometer – und doch waren sie endlich vor Binderseils Haus angelangt, wo ein Straßenfest stattfand. Es wurde gerade dämmrig und die bunten Laternen, die im ersten Stock quer über der Gasse hingen, beleuchteten eine fröhliche Szenerie mit vielen Menschen. Jonas erinnerte sich: Dort hinten saß auch Katharina, die ihn erstaunt ansah.

Nochmal – wie hatte er das vergessen können? Und warum fiel es ihm jetzt plötzlich wieder ein? Dabei erklärte es auf die einfachste Weise, warum der Bildhauer und seine Frau ihn erwartet hatten. Nun – Linus hatte noch einiges zu erklären, irgendwie war er ein Teil der Sache.

Vorsichtig stieß Jonas sich von der Tür ab. Und richtig, das Messer steckte wieder in seiner Wirbelsäule, tief unten in den Lenden. Aber für den Moment war der Druck in seiner Blase übermächtiger und er sah sich vergeblich nach der Toilette um. Dies war zwar das Badezimmer, an das er sich aus früheren Besuchen erinnern konnte, aber Linus hatte es umbauen lassen. Dort, wo früher die Kloschüssel gestanden war, hatte er eine große, behindertengerechte Duschkabine einbauen lassen. Jonas schüttelte den Kopf – er hätte sich eigentlich denken können, dass der Bildhauer nach seinem Unfall seine Wohnung hatte umgestalten lassen müssen. Wie kam er eigentlich die Außentreppe hoch?

Achselzuckend verließ Jonas das Bad und kehrte zurück in den Flur, sah sich im dem Halbdunkel um, das nur von einer matten Glühbirne erleuchtet wurde. Sollte er zurück ins Wohnzimmer und sich nach dem Weg zur Toilette erkundigen? Nein, das war ihm doch zu peinlich. Binderseils Wohnung war nun wirklich nicht so groß, er würde den Weg schon finden – das aber schnell, denn jetzt musste er dringend pinkeln.

Er öffnete die nächste Tür, rechts von sich. Das war die Küche, von dort war er doch eben gekommen. Auch hier war es dunkel, durch das Fenster konnte Jonas sehen, dass es schon Nacht war. Seltsam, er war doch am frühen Nachmittag bei Binderseil und seiner Frau aufgetaucht. Konnte dessen Erzählung so lang gedauert haben?

Jetzt gab es nur noch eine Tür, sie führte zum Atelier, wenn sich Jonas richtig erinnerte. Er trat durch sie hindurch und blieb überrascht nach zwei Schritten stehen, rieb sich abgelenkt die schmerzende Stelle an seinem Rücken. Er war zwar viele Jahre nicht mehr in Binderseils Wohnung gewesen, aber so geräumig hatte er das Atelier nicht mehr in Erinnerung. Er stand in einer großen Halle, deren hinteres Ende von der kleinen Lampe rechts über der Tür nicht mehr ausgeleuchtet wurde; diese Halle wirkte auf Jonas größer als das Haus, das sie beinhaltete – auch wenn das Unsinn war. Hatte Binderseil ein Nebengebäude gemietet und entkernt? Wahrscheinlich kam er auf diese Weise mit dem Rollstuhl in seine Wohnung. Jedenfalls gab es hier statt dem alten, heimeligen und charmant unordentlichen Atelier eine düstere, riesige Stahlträgerhalle, die an ein altes Fabrikgebäude aus dem 19. Jahrhundert erinnerte. Sie war ausgefüllt mit zahllosen Skulpturen, die unheimliche Schatten warfen: Mächtige irdene, von grober Schöpferhand geformte und überlebensgroße Idole, die im schwachen Licht beinahe lebendig wirkten. Jonas sah sich um. Neben der Tür war ein fleckiges Email-Schild angebracht, auf dem ein Piktogramm einen Mann und eine Frau darstellte und darunter ein Pfeil, der nach links ins Halbdunkel zielte und auf dem ein einziges Wort stand.

„Gabinetto“, las Jonas. Was war denn das für eine Sprache? Wo hatte der Künstler dieses Schild mitgehen lassen? Nun, der Druck auf der Blase ließ nicht nach, also gönnte er den Statuen nur einen kurzen Blick. Sie standen wie Götter des ersten Zeitalters in ihren Geschäften erstarrt herum. Er lief an der Wand entlang in die Richtung, die ihm das Schild gewiesen hatte. Mochte auch der eine oder andere dieser Titanen sich heimlich wie ein Schlafwandler bewegen, weil ein letzter Gläubiger gerade ein Gebet an ihn richtete – Jonas hatte Wichtigeres zu erledigen, als sich darum zu kümmern. Tatsächlich fand er an der Seitenwand, die eigentlich eine Außenmauer sein sollte, eine Tür, auf der ‚Toiletten‘ stand und die sich zischend zur Seite öffnete, als er näher trat. Ein netter Effekt, dachte Jonas, Binderseil hatte offenbar Lichtschranken eingebaut, als er seine Wohnung behindertengerecht ausstatten ließ.

Jonas trat in eine geräumige Aufzugzelle. Die Tür schloss sich hinter ihm. Ein Aufzug? In diesem Altstadtgebäude, das nur ein Stockwerk hatte? Jonas konnte es nicht fassen. Welche Geheimnisse würde er hier noch entdecken? An der Seite war eine Tastenleiste angebracht: ‚1‘, ‚2‘, ‚3‘, stand auf den Leuchtknöpfen links, ‚K‘, ‚E‘, ‚WC‘ auf den anderen. Jonas entschied sich für den letzteren. Wenn er nicht bald eine Toilette fand, würde er doch noch in eine dunkle Ecke pinkeln müssen.

Der Aufzug nahm Fahrt auf, bewegte sich nach oben. Gleichzeitig fühlte sich Jonas leicht, schwerelos. Ja, richtig: Er schwebte plötzlich wie ein mit Helium gefüllter Ballon sanft nach oben gegen die Decke der Kabine, die er vorsichtig mit der Hand berührte, um sich etwas abzustützen. Ein wenig unbequem hing er dort, aber so ging es ihm meist, wenn er im Aufzug fuhr. Manchmal ging er auch nicht die Straße entlang, sondern glitt über sie hinweg. Das war wunderschön!

Ihm fiel auf, dass sich in der rechten Seitenwand ein großes Fenster befand, das er bisher übersehen hatte. Es gewährte ihm einen Blick über die Dächer der Altstadt, die nun in gleißendem Sonnenlicht unter ihm lag. Kräne standen überall zwischen den Häusern und bald kam die Fahrstuhlkabine an einem See vorbei, der von einem gigantischen Wasserfall gespeist wurde, der einer Betonröhre hoch oben im Berg entsprang.

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„Wir bewegen uns ja seitwärts“, sagte er zu den Leuten, die mit ihm im Aufzug standen und nicht von der angenehmen Schwerelosigkeit betroffen waren. Er sprach von oben auf sie herab, denn noch immer klebte er an der Decke. Niemand antwortete ihm, aber der Aufzug, der eigentlich kein Auf-, sondern, wie Jonas kichernd feststellte, ein Seiten-Zug war, bremste ab. Jonas wurde wieder normalschwer und er sackte ein wenig enttäuscht herab auf seine Füße. Die Tür öffnete sich; der Aufzug war nicht ganz auf der richtigen Ebene angelangt, der Fußboden des Stockwerks war in Kniehöhe. Hinter Jonas schimpfte jemand.

„So ist das immer“, sagte er beruhigend und kletterte aus der Kabine, was ihn etliche Mühe kostete, denn der Ausstiegsspalt wurde zusehend enger, er warf sich wie das Innere eines Schneckenhauses und wurde zu einer sich verengenden Röhre, durch die sich Jonas gerade noch so hindurchquetschte.

Aber er musste der erste sein, der den Aufzug verließ, er durfte die anderen nicht an sich vorbei lassen, wenn er ein unbesetztes Klo finden wollte. Schließlich gelangt er aus der qualvoll engen Röhre und kniete in der unübersichtlichen Umkleidekabine des Stadions, von der viele Türen in abgedunkelte Räume führten, die jedoch nicht leer waren. Viele Menschen bewegten sich in ihnen. In diesem Moment überholten ihn einige Leute; Jonas musste sich beeilen, ihnen zuvorzukommen. Er trat durch die nächste Tür, drängelte sich vor. Nein, das hier war eine Sauna, Männer mit Badetüchern um die Hüften sahen ihn erstaunt an.
„Ich muss mich noch umziehen“, sagte er und fühlte sich überlegen und listig. Er schloss die Tür und ließ die Männer in ihrem Dampf sitzen. Hier vielleicht, nein, das waren nur Duschen und gerade kamen wieder Menschen herein. Er musste letzte Tür öffnen, eine eiserne Leiter hinunter steigen, zur Seite war ein riesiges Aquarium, im dem bunte Fische und Taucher schwammen.

„Im Winter ist geschlossen. Der Frost schadet.“ Die Sauerstoffflasche drückte schmerzhaft in seinen Rücken. Aber er brauchte eine Toilette – er machte gleich in die Hose. Die Taucherbrille war beschlagen und füllte sich mit Wasser. Jonas schob sie nach oben. Er war in einen gefliesten Gang geschwommen. Da waren endlich die gesuchten WCs, er sah sie! Binderseil hatte es ihm nicht leicht gemacht, alles war gut versteckt. Jonas hinterließ feuchte Spuren auf den schmutzigen Fliesen, als er zum ersten Klo trat. Es hatte keine Tür. Hoffentlich sah ihn niemand. Wenn er sich vielleicht hinter die niedrige Mauer kniete. Die Leute da vorn machten ein Picknick. Die Kinder – hoffentlich spielten sie nicht mit ihrem Ball hinten am Wald, wo ein paar Feuer brannten. Das war sehr gefährlich.

Gott, war dieses Klo schmutzig. Hier würde er keinesfalls … das lief ja über … hatten wohl die Kinder verstopft. Aber er musste doch so dringend – wie noch nie in seinem Leben. Wenn er jetzt die Hose herunterließ … Ein paar Leute drehten sich sofort nach ihm um. Sie saßen an Biertischen, tranken Rotwein aus Plastikbechern und hatten Pappteller mit Nudelsalat und Würstchen vor sich stehen. Ein alter Mann klopfte Jonas verständnisvoll auf die Schulter und öffnete für ihn eine letzte Tür:

Die beiden traten hinaus in eine Gasse, die im noch braunen Schatten des Sommerabends lag. Hier staute sich noch immer die Hitze des Tages. Obwohl das schmale Sträßlein schon im tiefen Schatten der Fachwerkhäuser lag, war an diesem Sonntag eine Woche vor der Mittsommerwende die Sonne noch lange nicht untergegangen. Der Streifen Himmel, der zwischen den schiefen Dächern sichtbar war, strahlte in durchsichtigem Blau. Ein paar Schwalben zogen hoch oben ihre Kreise, aber ihr Kreischen war bis in die Gasse zu hören. Aus den Fenstern im ersten Stock der Häuser hingen Girlanden und in der Höhe kreuzten bunte Lichterketten das Pflaster. Vor einem Haus, das Jonas kannte, standen Bierbänke. Weiter hinten, an der Stelle, an der der hohe Bauzaun die Straße zur Sackgasse machte, wurde gegrillt und an der Seite war eine Bühne errichtet, auf der ein Amateurgitarrist virtuos „All along the watchtower“ zupfte. Überrascht erkannte Jonas unter den Feiernden den feuerroten Haarschopf von Katharina, seiner Ex.

Eine Taube flatterte neben den beiden Spaziergängern in die Höhe, gewann ein paar Meter Raum und pickte weiter zwischen den warmen Pflastersteinen. Alban Waldescher grinste flüchtig und drückte Jonas einen Plastikbecher in die Hand, den er achtlos leerte. Er hätte anschließend nicht einmal sagen können, ob das Getränk, das er eben zu sich genommen hatte, Wein, Bier oder Wasser war. Zu sehr war er noch von der Geschichte, die er eben gehört hatte, eingenommen.

„Ich finde, das ist ein wundervoller Abschluss für solch einen schönen Sonntagabend“, sagte Waldescher und schob den widerstrebenden Jonas zu den Tischen. „Alles beginnt mit einem Fest.“

Jonas wollte noch sagen, dass er lieber weiter den Abenteuern von Alban gelauscht hätte und wie seine Auseinandersetzung mit seinen bösen Bruder Ruben ausgegangen war, aber in diesem Augenblick hörte er einen erfreuten Ruf und erblickte Binderseil, der sich flink in einem Rollstuhl heranschob. Jonas fiel der leere Becher aus der Hand. Er konnte es kaum glauben: Das war zweifellos sein alter Freund, der Bildhauer Linus Binderseil, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Erstaunlich, dass ihn der Alte ausgerechnet hierher geführt hatte, als er ihm während ihres Spaziergangs die Fortsetzung seiner spannenden, aber völlig verrückten Geschichte erzählt hatte. Die beiden kannten sich, denn Linus rollte seinen Stuhl direkt vor Waldescher. Sie kamen nicht zufällig hier vorbei, der verwahrloste alte Mann hatte ein Ziel gehabt.

„Dich, alter Mann, habe ich heute nicht erwartet!“, rief er erstaunt aus. „Johanni ist doch erst nächste Woche. Willst du mal wieder nach Edaine sehen? Ich glaube, sie ist drinnen …“ Linus sah sich um, suchte jemanden, vielleicht die Frau mit diesem ungewöhnlichen Namen.

‘Gibt es eigentlich noch Menschen, die Maier oder Huber heißen? Und normale deutsche Vornamen haben?’, fragte sich Jonas kurz. Dabei fiel Binderseils Blick endlich auch auf ihn. Er nickte ihm leicht zu, obwohl ihn der Anblick seines Freundes zutiefst traf. Der Bildhauer war alt geworden, das Haar schütter und grau, die Falten tief in die Stirn gerutscht, der Blick nicht mehr so fest und herausfordernd wie früher. Und er war an den Beinen gelähmt. All das hatte Jonas nicht gewusst. Allerdings hatte ihn sein ehemaliger enger Freund seit vielen Jahren nicht mehr interessiert, er las nicht einmal mehr die Feuilleton-Artikel über ihn in der Heimatzeitung. Binderseil war Teil eines Lebenskapitels, mit dem er bewusst abgeschlossen hatte. Doch jetzt war alles ganz anders: Er erkannte, welch ein großer Fehler es gewesen war, wegen der Karriere seine alten Freunde im Stich gelassen zu haben. Linus kniff kurzsichtig die Augen zusammen und ein glückstrahlendes Wiedererkennen glitt über sein Gesicht.

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