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Aber ein Traum Literatur Roman

Aber ein Traum – Roman (2. Kapitel – Teil 2)

‚Und warum mache ich mir jetzt die Mühe, nach einem Sinn zu suchen, wo es doch dem Menschen nicht gegeben ist, einen zu finden?’, fragte Jonas die heller werdende Zimmerdecke über seinem Bett, als habe er die Hoffnung, dass von dort oben eine Antwort auf ihn herab fiele. Dann richtete er mit einem einzigen entschlossenen Ruck den Oberkörper in die Senkrechte. Er hatte listig sein wollen, aber der Schmerz war aufmerksam. Jonas konnte vielleicht sich selbst mit dieser spontanen Aktion überraschen, sein Schmerz war abgebrühter. Er ließ ihm nicht einmal eine Schrecksekunde, sondern fuhr ihm augenblicklich brennend heiß in den Rücken. Die Pein ließ Jonas aufstöhnen. Dann kehrte der Schmerz sofort in seine Lauerstellung zurück, harrte geduldig auf die nächste Bewegung seines Opfers. Jonas tastete nach der wehen Stelle, knetete sie; vielleicht half ja Zuwendung. Wo hatte er sich nur diese Zerrung eingefangen, denn um eine solche schien es sich eindeutig zu handeln? Doch wohl kaum beim Boulen, seinem sonntäglichen Hobby. Bei dieser Gelegenheit hatte er übrigens den Graubart wiedergesehen. Seltsam, dass ihm das erst jetzt wieder einfiel. Der Alte war eine unwirkliche Erscheinung; er fiel immer wieder aus seiner Erinnerung heraus. Wenn er doch nur wüsste, wo er ihn hinstecken sollte!

Jeden Sonntagnachmittag traf sich Jonas mit zehn, zwölf Gleichgesinnten zu diesem – wie er es bei sich nannte – Rentnersport. Tatsächlich war er mit Abstand der Jüngste der Gruppe, ihre Vereinsmeierei und ihre Ansichten lagen ihm fern. Er hatte sich dem Boulefreunde e. V., mit dem ihn sonst nichts weiter verband, vor einigen Jahren wegen seiner damaligen Freundin Katharina angeschlossen, deren Hobby neben ihrem enervierenden Hang zur Esoterik Boulespielen war und ihn zumindest mit dieser ihrer zweiten Leidenschaft angesteckt hatte. Nun, inzwischen hatte er Katharina schon so lange nicht mehr gesehen, dass es ihm schwer fiel, sich an ihr Aussehen zu erinnern; bei dem französischen Kugelspiel war er jedoch geblieben. Bei trockenem und warmem Wetter traf man sich unten im Park am Bouleplatz, für die anderen Tage hatte sich der Boulefreunde e. V. eine kleine Anlage in einer alten, leeren Fabrikhalle der ehemaligen Kattunfabrik mit Licht und Heizstrahlern hergerichtet. In diesem schönen Sommer wurde jedoch die Bahn in der Halle nicht benötigt. Jonas war wie immer etwas zu spät dran, dafür brachte er, wie es seine Aufgabe war, Kaffee in einer Thermoskanne und Tassen mit, während die Frauen des Vereins reihum Kuchen bereitstellten. Mit seinem Rotkäppchenkorb beladen kam er von seinem nah gelegenen Haus, das er schon lange allein bewohnte.

Obwohl sein Einkommen damals noch sehr unsicher war, hatte Jonas Anfang der 90’er hohe Kredite aufgenommen und das schmucke kleine Ein-Familien-Haus erworben. Er hatte seine praktische Mietwohnung in der Stadt nicht gern aufgegeben und nur zögernd in das Dorf im Weichbild gezogen, aber er hatte dem großen Wunsch von Katharina entsprochen, die sich genau nach dieser Form der gesicherten Bürgerlichkeit sehnte. Damals war auch noch nicht absehbar, dass ihre Beziehung bereits ein Jahr später beendet war und genau das Zusammenleben in dem Haus der entscheidende Auslöser für die Trennung wurde. In Katharinas Fall war die Erfüllung ihres Herzenswunsches gleichzusetzen mit einem Fluch. Zuerst blühte sie in der Provinz auf, knüpfte Kontakte zu allen und jedem, trat allen Vereinen bei, erhob ihre Stimme in der Gemeindeversammlung, züchtete nach ökologischen Gesichtspunkten in dem handtuchgroßen Garten hinterm Haus Zucchini und Himbeeren, organisierte einen Hausfrauen-Jogaclub, kochte Marmelade und überfrachtete die Räume mit allem möglichen Krimskrams. Sehr bald schon, nach dem ersten Winter, merkte Katharina allerdings, das sie sich mit ihren Arbeiten nur ablenkte, im Dorf nie heimisch werden würde und ihr Kampf um Anerkennung in der Gemeinde der Don Quichottes gegen die Windmühlen war. Auch Jonas wurde nie heimisch, er war ein Kind der Stadt und blieb hier auf dem Land ein Fremder, der die geheimnisvollen Regeln des dörflichen Zusammenlebens nie vollkommen durchschaute; hatte allerdings seine Arbeit in der City und wurde sich deshalb seiner Diaspora nie ganz bewusst. Er verlor in dieser Zeit allerdings alle seine Freunde. Die räumliche Entfernung war zwar nicht groß, erzeugte aber emotionale Ferne. Und so kam es dann – Jonas nahm dies immer als einen grotesken Einfall des Schicksals – dass Katharina zurück in die Stadt zog und ihr altes Leben wieder aufnahm, er selbst im Dorf im gemeinsamen Haus, das noch lang nicht abgezahlt war, wohnen blieb und von allen gesellschaftlichen Kontakten, die seine Freundin aufgebaut hatte, einzig die Mitgliedschaft im Bouleclub erhalten blieb, ein Sonntagsvergnügen, das er nur selten versäumte.

Jonas ging zum Sportplatz herunter, an dessen hinteren Ende am Weiher sich die gepflegte Boule-Anlage befand. Von weitem sah er, dass die anderen schon mitten im Wettkampf waren. Sie trugen ihre roten Vereins-T-Shirts. Er musste nur noch die Straße queren und ein Stück entlang des Fußballplatzes laufen, auf dem die Alt-Herren-Mannschaft des örtlichen TSV’s übte, um zu ihnen gelangen.

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„Willst du dich nicht setzen?“ Jonas bemerkte den Alten erst, als dieser ihn mit seiner rauen, dünnen Stimme ansprach. ‚Merkwürdig’, dachte er, ‚der Mann sitzt auf einer der Zuschauerbänke des Fußballfeldes, hat dem Rasen jedoch den Rücken zugekehrt und seine ausgestreckten Beine ragen fast einen halben Meter in den Fußweg – aber ich habe ihn überhaupt nicht wahrgenommen.’ Es war, als hätte sich der Graubart erst materialisiert, als Jonas an der Bank vorbeiging und prompt seinen auf dem Kies ruhenden Füßen ausweichen musste. Er hatte den Eindruck, dass etwas völlig falsch war, so, als würde sich eine Folie mit einer Matte-Zeichnung über die Realität schieben und sie verfremden. Der Alte erschien wie ein Deus ex machina. Und seltsam, Jonas war in diesem Moment sicher, er würde den Graubart zum ersten Mal in seinem Leben sehen; ihm war vollkommen entfallen, dass sie erst am Vortag ein paar Worte gewechselt hatten. Er sah den Alten zum ersten Mal in seinem Leben, als würde dieser verkehrt herum in der Zeit leben und ihre Begegnung wäre tatsächlich ihre erste. So grotesk das klang, würde es doch erklären, warum ihm der Alte am Samstagmorgen im Café so bekannt vorgekommen war, wie ein Déjà Vu durch einen rückwärts gerichteten Zeitstrahl.

Jonas stutzte, sah kurz zu den Boulespielern am Ende des Platzes, die so in ihr Spiel vertieft waren, dass sie ihn noch gar nicht bemerkt hatten, obwohl die Kaffeetanten unter ihnen sicherlich verzweifelt auf ihn warteten. Der Alte beschattete die Augen mit der Hand und folgte seinem Blick. „Die laufen dir nicht davon.“ Er klopfte mit der anderen Hand auf den Platz neben sich. Und bevor Jonas bewusst wurde, was er tat, stellte er seinen Korb und seine Boule-Kugeln ab und setzte sich neben den Alten.

„Kennen wir uns?“, fragte er und spähte weiter zu seinen Sportfreunden hinüber. Irrte er sich oder bewegten sie sich langsamer? Auch die Fußballer in seinem Rücken schienen sich noch behäbiger den Ball zuzukicken. Er zuckte mit den Schultern. Es erschien ihm mit einem Mal völlig normal, neben dem Alten zu sitzen und dabei zuzusehen, wie der Boulefreunde e. V. in Zeitlupe die Kugeln warf oder rollte und diese sich tatsächlich so langsam bewegten, als müssten sie ein dichtes, zähflüssiges Medium durchdringen. Jonas musterte nun neugierig den Alten, der ihm völlig neu und unbekannt war. Jetzt – aufrecht im Bett sitzend und sich über den schmerzenden Rücken wundernd – in der Erinnerung, die ihm ja gestern entfallen war, konnte er diesen Eindruck mit der Begegnung im Café vergleichen. Der Alte wirkte diesmal nicht wie ein Penner, sondern eher wie ein älterer wohlgenährter Geschäftsmann, was vor allem daran lag, dass er seinen schäbigen Mantel achtlos neben sich ins Gras geworfen hatte und zu seinem eleganten, maßgeschneiderten Anzug jetzt schwarz glänzende italienische Schuhe trug, die kaum vom Staub des Kieswegs beschmutzt waren. Vielleicht wirkte er deshalb so vertrauenerweckend auf Jonas, dass er sich neben ihn gesetzt hatte. Neu war auch eine kleine Narbe an der Stirn, die ihm im Café nicht aufgefallen war. Nun, es war ein warmer Sonntagnachmittag und er schien sich so endlos vor ihm auszudehnen, wie er das seit seiner Kindheit nicht mehr kannte. Eine Taube segelte bedächtig über die Wiese. Er hatte keine Schwierigkeiten, ihrem Flug mit dem Kopf zu folgen.

„Oh, du hast Kaffee dabei, Abakoum. Schenk mir doch eine Tasse ein, dann fällt es mir leichter, dir meine Geschichte zu erzählen.“ Jonas wunderte sich über die Anrede und das Ansinnen, aber er holte gehorsam die Thermoskanne und eine Tasse aus dem Korb und schenkte sie für den Alten voll, der sie vorsichtig in die Hände nahm und mit einem Ausdruck der Freude an die Nase führte, um den Kaffeeduft zu riechen. Jonas wollte nach dem Milchfläschchen greifen, aber der Graubart winkte ab. „Jetzt lass uns nicht länger zögern. Wir könnten gestört werden. Die Mitte naht und du bist noch nicht der Frau begegnet.“ Trotz dieser mysteriösen Ankündigung zögerte er und sah kurz zu Jonas hinüber. Dann kniff er begütigend die Augen zusammen, lächelte wohlwollend und breit. Er sah endgültig wie ein Märchenonkel aus einer Kindersendung aus. „Ich würde gerne damit beginnen, dir von der ruhevollen Ausgewogenheit und Symmetrie dieses Renaissancebauwerkes vorzuschwärmen, einer Perle im Schatzkästlein unserer Altstadt, aber ich sehe schon an deinem verständnislosen Blick, ich muss mir das für später aufheben, wenn dir deine Augen zeigen, was ich bereits sehe. Vergiss aber nicht: Die Front des Gebäudes ist ein Sinnbild für den ganzen Text, wie er vor dir liegt.“ Der Alte seufzte. „Manches kann man nicht erklären, weil es zu einfach ist. Aber ich wollte von mir erzählen.“

Waldeschers erste Geschichte

„Ich werde seit meiner Geburt von einem lebendigen Fluch verfolgt. Mein echter Name spielt keine Rolle, er ist auch seltsam und du würdest ihn mir nicht glauben, er ist fest mit dem genial einfachen, alltäglichen Produkt verbunden, das meine Familie in ihren Fabriken herstellen lässt. Um es dir aber zu erleichtern, Abakoum, will ich mich Alban Waldescher nennen. Das ist ein Name, der nicht allzu fern von mir ist. Ich wurde bald nach dem Krieg geboren, hinein in einen großbürgerlichen Fabrikantenhaushalt, dem Zerstörungen, Gewalt und Leid nichts weiter anhaben können, weil das Haus Waldescher immer auf der Seite der Gewinner steht. Wenn man viel Geld hat, ist das so, da ist eine Krise nur eine weitere Chance. Es ist dies die Welt der Hochfinanz, der Mehrzahl der Leute ist sie so fremd, als läge sie auf einem anderen Planeten. Trotz Weltwirtschaftskrise und Inflation in den frühen Zwanziger Jahren von meinem Großvater Julian Waldescher sen. mit Geldern aus seinen Schwarzhandelsgeschäften gegründet, war unser Betrieb eines der führenden mittelständischen Unternehmen Deutschlands und es ging bis zu meiner Geburt eigentlich immer nur bergauf. Im privaten Kreis behauptete mein Opa in seiner unnachahmlich arroganten Art, er würde bei einem Stuhlgang – er hatte ein derberes Wort zur Hand – mehr verdienen als einer seiner Angestellten im ganzen Monat. Er nannte dies ein ‚großes Geschäft’. Von den Nazis als kriegswichtige Firma subventioniert und billig mit Rohstoffen und Zwangsarbeitern beliefert, schoben wir traumhafte Gewinne ein, die Großvater krisensicher in Schweizer Goldreserven anlegte. Mein Vater dann, Julian Waldescher jun., der mit Hilfe einer kleinen Gefälligkeit für den Fronteinsatz untauglich geschrieben wurde und den Krieg an der Heimatfront in einem Parteibüro absaß, konnte durch ein paar Zuwendungen an die Militärverwaltung der Entnazifizierung entgehen und in den prosperierenden 50’er Jahren nach dem überraschenden Herztod des alten Patriarchen das Vermögen der Familie weiter mehren.

Obwohl er der jüngere der beiden Waldescherbrüder war, übernahm er das Geschäft vor Onkel Balder, der als schwarzes Schaf der Familie nur seinen schnell durchgebrachten Erbteil und ein lebenslanges Wohnrecht in der Villa ‚Eulenhorst’ erhielt, wie das hochherrschaftliche Anwesen der Waldeschers allgemein genannt wurde, obwohl in der Umgebung schon seit Menschengedenken keines dieser Nachtraubvögel mehr gesehen worden war. Sehr bald nach dem Tod des Firmengründers heiratete mein Vater die Tochter eines Prokuristen der Firma. Diese Liebeshochzeit war beinahe das, was man damals eine ‚Mesalliance’ nannte und war nur durch den Infarkt von Waldescher Senior möglich, der eine Verbrüderung mit dem ‚Proletariat’ strikt ablehnte und dem Liebesangelegenheiten grundsätzlich als Geschmacksentgleisung galten. Seiner eigenen Frau, also meiner Großmutter, hatte er aufgrund des nie erwiesenen Gerüchts ihrer Untreue eine monatliche Rente ausgesetzt und sie in einen Zug in ein Kurbad gesetzt, wo sie ihr Leben fristete. Obwohl sie erst 1975 starb, bin ich ihr nie begegnet und ich glaube, auch ihre Söhne haben sie nie besucht. Kein Wunder also, dass mein Vater seine Beziehung zu meiner Mutter Agnes heimlich gehalten hatte und sie erst nach dem Tod des Patriarchen legalisierte. Er zog mit ihr in den ‚Eulenhorst’, den er, ohne der Kosten zu achten, entkernte und modernisierte.

 

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