Nikolaus Klammer Aber ein Traum,Literatur,Roman Aber ein Traum – Roman (2. Kapitel – Teil 1)

Aber ein Traum – Roman (2. Kapitel – Teil 1)

Am ersten Montag seines Sommerurlaubs erwachte Jonas Zacharias Habakuk mit bohrenden Rückenschmerzen, die wie ein Messer zwischen seinen Lendenwirbeln steckten. Das war ihm überraschend, da der sportliche Mittvierziger nur selten Probleme mit der Wirbelsäule hatte und sich auch nicht erinnern konnte, am Wochenende schwer gehoben oder unbequem gesessen zu haben. Er lag daher selbstmitleidig und mehr erstaunt als ängstlich auf dem Rücken und versuchte, ihn so wenig wie möglich zu belasten. Ihm wurde bewusst, dass er bereits aus einem nicht erinnerten Traum heraus jede plötzliche Bewegung vermied, es nicht einmal wagte, seinen Kopf in Richtung Nachttischlampe und Uhr zu wenden. Es dämmerte, wie er an dem verwaschen grauen, zum Fenster hin heller werdenden Lichtfleck an der Decke erkennen konnte und mochte gegen fünf Uhr am Morgen sein, noch viel zu früh, um an einem verpflichtungslosen Urlaubstag Ende Juni aufzustehen.

„Ich starre an die Decke“, bemerkte Jonas halblaut zu sich selbst, „mache mich klein und atme flach, fixiere bewegungslos wie ein Kaninchen den gleich einer lauernden Giftschlange dumpf ziehenden Schmerz eine Handbreit über meinem Steiß.“ Es machte Jonas Spaß, diesen verschachtelten Satz – kaum gedacht – fehlerlos und prononciert auszusprechen, sich am Klang seiner Stimme und seiner Begabung für Sprache zu erfreuen. Er lebte von diesem Geschenk der spontan druckreifen Rede.

„Nun, ein wenig will ich harren. Der Schmerz, der sich gerade fürsorglich an meine Lenden schmiegt, ist ebenfalls ein geduldiger Warter. Er wird seine Gelegenheit bekommen und dann mitleidlos wahrnehmen“, fuhr er fort und hätte beinahe wegen des hohlen, allzu dramatischen Klangs seiner Stimme gelacht. Aber er war ja auf der Hut – Lachen erschreckte sicherlich den lauernden Schmerz, würde ihn zusammenzucken lassen. Unauffällig sein, Aufmerksamkeit vermeiden, durch Ignorieren auslöschen, das war das Gebot der Stunde. Jonas fiel in diesem Moment wieder die fast surreale Szene ein, die er vorgestern erlebt hatte, als er seine freien Tage mit einem Frühstück im Café beginnen wollte. Eine vorwitzige Taube mit einem verkrüppelten Fuß hatte sich von der belebten Großstadtstraße in den Gastraum geschlichen und pickte in aller Seelenruhe zwischen den Stühlen und den Beinen der Frühstückenden nach herab gefallenen Krümeln. Niemand unter den Gästen kümmerte sich weiter um den grauen Vogel, der das Glück seiner üppigen Mahlzeit genoss und im übrigen unbeeindruckt und selbstsicher wirkte, als würde er nickend über einen leeren Platz flanieren, auf dem ihm ein Rentner Brotkrumen zuwirft. Ein paar der Anwesenden sahen vielleicht kurz und abgelenkt zu der Taube herab, aber die Mehrzahl ignorierte sie – wie Jonas jetzt seinen Schmerz. Obwohl es nur vorgespielte Gleichgültigkeit war; denn jeder, da war sich Jonas sicher, war sich wie er selbst des Tieres absolut bewusst, kontrollierte mit flinken Seitenblicken dessen Ortswechsel.

‚Ein Spatz in der gleichen Situation’, dachte Jonas, ‚würde Aufsehen erregen, Vergnügen oder Ärger. Man würde sich anstoßen und einander aufmerksam machen, diskutieren, wie man den kleinen Vogel aus seiner misslichen Lage befreien kann.’

Mit der Taube war das anders. Obwohl sie als Krankheiten- und Milbenüberträger, als dreckiges, verkrüppeltes Straßentier ganz offensichtlich fehl am Platz war, machte ihr niemand das Anrecht streitig, hier Nahrung zu suchen, stampfte gar zornig mit dem Fuß auf oder verjagte das Tier. Dieser recht wohlgenährte Vogel wurde wie in einem Pakt beschlossen mit Penetranz und absichtlich übersehen.

‚Genau auf diese Weise ignoriert man einen Bettler in der Fußgängerzone, der seinen fehlenden Fuß oder eine hässliche Schwäre als Mitleidsargument einsetzt. Man denkt ihn weg, schneidet aus dem Bild heraus, was als störend empfunden wird. Gelingen die meisten Verbrechen deshalb, weil es niemand wissen, sondern ungestört weiter frühstücken will? Kann es so einfach sein?’ Dann wurde die Taube endlich von der Verkäuferin hinter der Selbstbedienungstheke entdeckt. „Bist du schon wieder da“, klatschte sie in die Hände. Der Vogel zeigte keine Reaktion, hinkte nur sich zurückziehend scheinbar absichtslos näher an die jetzt im Frühsommer immer offenstehende Eingangstür, um sich den Fluchtweg zu sichern, den er dann übrigens auch in aller Seelenruhe benutzte, nachdem die Verkäuferin endlich mit einem Besen bewaffnet hinter ihrer Theke herausgefunden hatte. An dieses wahrscheinlich mehrmals täglich aufgeführte Stück gewöhnt, kehrte die Taube wie selbstverständlich sofort zurück, als die Luft rein war und die Bedienung wieder hinter ihren Broten und Kuchen stand.

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Doch dann geschah etwas, mit dem niemand im Lokal gerechnet hatte. Gleichzeitig mit der Taube trat ein älterer graubärtiger Mann durch den Eingang, überholte das Tier, dem er offenbar wie alle anderen keine weitere Aufmerksamkeit widmete. Aber völlig überraschend wand er sich auf dem Absatz um, holte noch in der Drehung mit dem Fuß aus und kickte den Vogel wie einen kleinen Ball aus der Tür. Etwas brach in dem Tier, das war in der schlagartigen Stille im Café deutlich zu hören. Die Taube flog – wohl zum letzten Mal in ihrem Leben – quer durch die Luft, knallte draußen auf der Straße gegen ein Wahlplakat und blieb reglos im Rinnstein liegen. Als hätte er eine Selbstverständlichkeit getan, wie zum Beispiel seinen Hut abgenommen oder einen Schirm ausgeschüttelt und in eine Ablage gestellt, wand sich der Graubart an die Bedienung, bestellte ein Weißbier. Er hatte eine gequetscht wirkende, hohe Stimme, die Jonas vertraut schien. Erst als der Mann sein hohes Bierglas in der Hand hatte, wand er sich etwas herum und ließ seine halb geschlossenen Augen wachsam durch den Raum wandern. Der Blick kam einer Kampfansage gleich, einem hingeworfenen Fehdehandschuh. Doch niemand ging auf die Herausforderung ein, die erstarrten, erstaunten Mienen lösten sich und jeder war plötzlich mit seinem Essen, der Zeitung oder seinem Gegenüber beschäftigt. Auch Jonas senkte den Blick, beobachtete aber aus den Augenwinkeln den Graubart und das Café. Ihm erschien die Situation noch nicht geklärt, irgendetwas fehlte noch. Der Pakt war weiterhin gültig. Der Vertragsgegenstand, der Stachel im Fleisch, hatte jedoch gewechselt, war von dem toten Vogel auf den etwas verwahrlost wirkenden Mann an der Theke übergegangen: Drinnen im Café hatte die Welt vor der Tür keine Bedeutung, durfte sich nicht hereindrängen. Man saß hier, um sie zu vergessen; das Samstagsfrühstück ließ sich keiner kaputt machen – auch nicht von einem kleinen Mord. Endlich begegneten sich kurz die Blicke von Jonas und dem Eindringling. Dieser Augenblick verstärkte das unbestimmte Gefühl zu einer flauen Anspannung im Magen, zu einer – er konnte es sich nicht anders beschreiben – Ahnung von Gefahr. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, sogar nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht, auch Worte mit ihm gewechselt, da war er sicher. Auch schien das Erkennen beiderseitig, denn der Ältere nickte wie zufällig einmal kurz in seine Richtung, bevor er sich wieder seinem Bier widmete.

Jetzt sah Jonas genauer hin, versuchte die Erscheinung, die halb an der Theke lehnte, zu erfassen: Ihm war, als müsse er den Mann jetzt sofort mit seinem Namen ansprechen, er lag ihm förmlich auf der Zunge. Aber der Graubart war hier im Café wie aus dem Rahmen gefallen, ausgeschnitten und in ein neues Bild geklebt; ihm fehlte der Kontext, um erkennbar zu sein. Er wirkte auf Jonas wie eine der schattenhaften Figuren in einem Gemälde von Chirico. Damit war er ganz nah dran an der Erinnerung, das spürte er, aber es gelang ihm einfach nicht, den letzten Schritt zu machen. Der Mann war etwas über mittelgroß und sehr stämmig, nachlässig mit einem für das sommerliche Wetter viel zu warmen langen Mantel gekleidet, der beige und fleckig nach Kleidersammlung aussah, darunter hatte er jedoch, soweit Jonas das erkennen konnte, einen stahlgrauen Anzug an, der perfekt saß und maßgeschneidert schien. Er trug dazu eine dezente, weinrote Krawatte und ein schlichtes, gestärktes Hemd. Die Schuhe wiederum passten eher zum Mantel, es waren hellbraune, ausgelatschte Slipper, an den Nähten aufgeplatzt und besudelt. Wie seine Kleidung zerfiel auch das Gesicht des Mannes in zwei disparate Hälften. Die ganz offensichtlich gefärbten mattschwarzen Haare trug er streng nach hinten gekämmt, an den Schläfen waren sie silbergrau; der Haaransatz saß niedrig in der Mitte der Stirn, erzeugte dadurch ausgeprägte Geheimratsecken und gab der Erscheinung die unnahbare Seriosität eines Politikers. Unter den dünnen, blasiert gehobenen Brauen leuchtete ein heller, fordernder Blick; doch dann folgten eine zerfressene Säufernase und ein verfilzter grauer Vollbart, der wie aufgeklebt aussah. Um die erstaunlich vollen Lippen spielte ein beständiges, etwas blödsinnig und pervertiert wirkendes Lächeln.

Jonas seufzte resigniert. Auch durch ein genaues Mustern kam er dem Graubart nicht näher; im Gegenteil: Je mehr er sich mühte, umso mehr entglitt er ihm. Der Alte blieb nur, was er war: Ein Fremdkörper wie die Taube, ein kurzer Moment der Brutalität, ein Blutfleck im Paradies. Der Mann hatte sein Bier getrunken, stellte es auf die Theke und kramte ein paar Münzen aus seiner Tasche, die er, ohne sie zu zählen, neben das Glas warf. Dann wischte er sich den Schaum aus den Mundwinkeln und sah wieder zu Jonas. Er zog die Augenbrauen noch höher und sein unanständiges Lächeln wurde breiter. Er sah nun endgültig wie ein Schwachsinniger aus. Zu Jonas Erstaunen machte er zwei schnelle Schritte, baute sich vor ihm auf und sprach ihn an.

„Du kannst dich nicht erinnern“, sagte er zögernd, als fiele es ihm schwer, die passenden Wörter zu finden. Die Stimme war dünn und hatte einen Akzent, den Jonas nicht zuordnen konnte. „Das ist kein Wunder, denn es ist noch nicht geschehen. Aber die Zeit wendet sich, Abakoum. Du hast nach Hilfe gerufen. Ich habe dich gehört.“ Ein bibelfester Irrer, das hatte noch gefehlt. Wie Jonas wusste, ist ‚Abakoum’ der hebräische Name des Propheten Habakuk, dessen Klage vor Gott der Graubart eben zitiert hatte. Es war mindestens fünfzehn Jahre her, dass ihn jemand ‚Abakoum’ genannt hatte. Erneut verwünschte er seinen Vater Georg Habakuk für dessen alttestamentarischen Geschmack, der zu diesem doch ungewöhnlichen Nachnamen noch zwei weitere der sogenannten kleinen Propheten gestellt hatte. Auf der anderen Seite erzeugte allein die Nennung seines vollständigen Namens einigen Respekt, noch bevor er den Mund öffnete. Dr. rer. pol. Jonas Zacharias Habakuk, da erwartete jeder Offenbarungen. Aber … Abakoum? Jonas Gedanken rasten. Diese Bekanntschaft schien weiter in die Vergangenheit zu reichen, als er gedacht hatte. Eigentlich hatte ihn nur sein lieber alter Freund Linus Binderseil halb zärtlich, halb spottend mit dieser hebräischen Form seines Nachnamens angesprochen, aber dem war er seit Ende der Achtziger nicht mehr begegnet. Er wusste nicht einmal, ob er noch in dieser Stadt wohnte, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass Linus jemals seine Künstlerbude – die Residenz – in der Altstadt aufgeben könnte. Der Graubart, der hier Gott Jahwe spielte, war nicht Binderseil, stammte aber vielleicht aus dessen Umkreis, auch wenn sich Jonas absolut nicht an ihn erinnern konnte, als würde ihn eine innere Blockade davor schützen.

„Ich weiß nicht recht …“, setzte er an, doch der Graubart hatte sich schon abgewendet und trat mit gemessenen Schritten aus dem Café, zögerte am Rinnstein kurz bei dem von ihm getöteten Vogel, den er fast zärtlich mit der Fußspitze antippte. Dann ging er achselzuckend weiter, verschwand aus Jonas Blickfeld, ohne noch einmal zurückzusehen. Im gleichen Augenblick erregte ein Flattern Jonas Aufmerksamkeit – der Vogel war nicht tot; er flog auf, wahrscheinlich von der Berührung aus der Bewusstlosigkeit geweckt, saß dann mitten auf dem Gehweg, aufgeplustert und verwirrt. Jonas lächelte: Ein seltsamer Gott, der Tauben tötete und wiederbelebte; aber irgendwie war das ein beeindruckender Taschenspielertrick gewesen. Er sah sich um, aber niemand außer ihm hatte das ‚Wunder’ gesehen. Dabei entdeckte er aber, wie nun alle ihn verstohlen musterten und dabei bemüht ignorierten. Das lag wohl daran, dass ihn der Alte angesprochen hatte und damit den Fluch des Andersseins weitergereicht hatte, von der Taube über den Graubart auf Habakuk. Alle seltsam, alle fehl am Platz, keiner hatte in dieser Welt etwas verloren, war fremd und wurde ausgegrenzt.

‚Und warum mache ich mir jetzt die Mühe, nach einem Sinn zu suchen, wo es doch dem Menschen nicht gegeben ist, einen zu finden?’, fragte Jonas die heller werdende Zimmerdecke über seinem Bett, als habe er die Hoffnung, dass von dort oben eine Antwort auf ihn herab fiele. Dann richtete er mit einem einzigen entschlossenen Ruck den Oberkörper in die Senkrechte. Er hatte listig sein wollen, aber der Schmerz war aufmerksam. Jonas konnte vielleicht sich selbst mit dieser spontanen Aktion überraschen, sein Schmerz war abgebrühter. Er ließ ihm nicht einmal eine Schrecksekunde, sondern fuhr ihm augenblicklich brennend heiß in den Rücken. Die Pein ließ Jonas aufstöhnen. Dann kehrte der Schmerz sofort in seine Lauerstellung zurück, harrte geduldig auf die nächste Bewegung seines Opfers. Jonas tastete nach der wehen Stelle, knetete sie; vielleicht half ja Zuwendung. Wo hatte er sich nur diese Zerrung eingefangen, denn um eine solche schien es sich eindeutig zu handeln? Doch wohl kaum beim Boulen, seinem sonntäglichen Hobby. Bei dieser Gelegenheit hatte er übrigens den Graubart wiedergesehen. Seltsam, dass ihm das erst jetzt wieder einfiel. Der Alte war eine unwirkliche Erscheinung; er fiel immer wieder aus seiner Erinnerung heraus. Wenn er doch nur wüsste, wo er ihn hinstecken sollte!

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