Kategorien
Aber ein Traum Literatur Roman

Aber ein Traum – Roman (1. Kapitel – Teil 3)

„Ja, der Herr Kommerzienrat war gar nicht einverstanden mit eurer – wie nannte er das? – Liaison, Mésalliance? In der Richtung … Er liebte jene französischen Wörter, die auch dann noch hübsch klingen, wenn sie abfällig gemeint sind. Ausgerechnet sein Junior Julian enttäuschte ihn! Mein wohlgeratener Bruder, den er nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit seinen ganzen Hoffnungen belastete, der immer treu und brav dem Herrn Papa alles recht zu machen suchte. Er war nicht so faul und aus der Art geschlagen wie meine Wenigkeit, sein Erstgeborener, nicht nur an der französischen Küche, sondern am Wohl der Firma interessiert. Ausgerechnet der gute Sohn wirbt um die Tochter eines subalternen Angestellten. Was für ein Skandal! Der eine Nachkomme ist schwul … Verzeihung!“ Balder legte geziert zwei Finger auf die Lippen und kicherte. „Harpokrates, wo sind deine Manieren? Mein Vater nannte mich … indifferent. Ja, genau, das waren sein Wort. Der Ältere war indifferent, der Jüngere wollte sich unter Stand und Möglichkeiten verloben, drohte sogar offen mit dem Bruch. Kein Wunder, dass diese Aufregung zu viel für das Herz des Alten war. Er nahm schon seit Jahren Nitroglyzerin wegen seiner Angina pectoris. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn der Schlag traf.

Du hast es nicht miterlebt. Der Patriarch sitzt am 1. Weihnachtstag an der Spitze der Tafel, in der einen Hand ein Stück von der Festtagsgans, in der anderen sein Weißweinglas. Er wird ganz käsig, hustet einmal. Das Glas rutscht ihm aus den Fingern und entleert sich, während es über das Tischtuch rollt. Ich sehe dem Ganzen erstaunt zu und denke noch: ‘Schade um den guten Sauvignon blanc.‘ Vaters Augen quellen hervor, er krächzt etwas. Dann knallt er mit dem Kopf in seinen Teller, einfach hinein ins Blaukraut, dass es spritzt. Patsch!“ Balder klatschte vergnügt einmal in die Hände. „Den Arm mit dem Gänseflügel hielt er noch nach oben. Das sah so komisch aus! Eine Sekunde herrschte betretenes Schweigen. Dann prustete ich los, lachte schallend; auch noch, als unser Butler respektvoll von links an unseren alten Herrn herantrat, einen seiner weißen Handschuhe auszog, sanft an dem Hals des Alten nach einem Puls suchte und stumm und ergriffen den Kopf schüttelte. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr beruhigen. Mein Vater hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht zum Weinen, sondern zum Lachen gebracht. Dein Julian führte mich aus dem Zimmer. Er lachte nicht. Aber glaube mir, er war ebenso erleichtert wie ich. Er hat den Alten genauso gehasst und wenn er seinen Tod schon nicht herbeisehnte, so nahm er ihn doch wie ein Geschenk billigend an. Niemand trauerte am Grab des Herrn Kommerzienrats Julian Waldescher senior, des großen Wirtschaftsmagnaten. Meine Mutter, die sich schon vor dem Krieg von ihm getrennt hatte, kam nicht einmal zur Beerdigung. Sie schickte nur eine Postkarte aus dem Seebad, in dem sie wahrscheinlich recht behaglich im Exil lebte. Sie interessierte in erster Linie, wie viel er ihr vermacht hatte.

Für Julian war der Weg nun frei. Er erbte die Firma und heiratete dich einen Monat, nachdem wir Vater unter die Erde gebracht hatten. Wunderbare neue Zeiten brachen für den ‘Eulenhorst’ an. Ich habe dir das nie gesagt, Agnes, aber du warst das Beste, was dem alten Gemäuer und den beiden sonderbaren Brüdern, die es nun mit dir und ein paar Dienstboten bewohnten, passieren konnte. Du hast auch alles sofort auf den Kopf gestellt, gelüftet, das muffige Gerümpel und Interieur, das sich seit dem ersten Weltkrieg angesammelt hatte – Vater schmiss ja nie etwas weg – zum Sperrmüll gegeben; die alten schweren Vorhänge und die Stofftapeten verschwanden, der ganze Plüsch und die verstaubten Orientteppiche und diese unmöglichen Kerzenständer überall. Die Moderne kehrte in der Villa ein: Neue sanitäre Anlagen, moderne Stromversorgung. In jedes Zimmer kam ein Radio, aus dem alten Empfangssalon wurde das Fernsehzimmer und mein Reich erst: Die Küche – welch eine Wandlung machte sie durch: Ich bekam endlich den modernen Gasherd, den Hans-Peter und ich uns wünschten, eine Braun-Küchenmaschine, einen Gefrierschrank und sogar eine Mikrowelle!“ Balder stockte. Seine Augen flatterten erstaunt und er wirkte, als wisse er nicht, wo er war. Doch gleich darauf fasste er sich und redete weiter.

„Was habe ich dort mit Hans-Peter zusammen für leckere Gerichte gezaubert! Endlich kamen wir los von der langweiligen Gutshofküche. Vive la cuisine française! Kannst du dich noch an das Cordon Bleu erinnern, das wir anlässlich unseres Erntedankfests am Ende des ersten Sommers genossen? Dazu gab es den traumhaften Burgunder, den ich in Musigny einem alten Winzer abgeschwätzt hatte. Du hast hinten im Garten unter der alten Ulme aufdecken lassen, dort, wo Julian im darauffolgenden Frühjahr den Tennisplatz bauen ließ. Was war das für ein Abend, einer von denen, die endlos scheinen und doch so schnell vergehen! Ein letzter, südlicher Wind brachte Wärme. Girlanden hingen in dem Baum. Du hast ein gemustertes Kleid getragen, das aussah, als hätte Mondrian selbst noch den Stoff entworfen. Als es kühler wurde, brachte ich dir deine Strickjacke, weißt du noch? Du warst so fröhlich, so ausgelassen wie ein kleines Kind. Du hast uns verzaubert, uns, die berüchtigt schwermütigen und misantropen Gebrüder Waldescher. Alles schien mir mit einem Mal möglich und ich sah durch das Licht, das dein Lachen schuf, eine strahlende Zukunft vor mir, wo vorher nur Düsternis war. Der berüchtigte Familien-Fluch, wir pfiffen auf ihn. Die Welt war neu und wartete nur auf uns. Und du bist uns voran mit sanften, schwebenden Schritten, dein feuerrotes Haar loderte wie eine Fackel über dir. Einem Engel gleich erschienst du mir in jener Nacht. Nein, kein Engel: Du warst eine Elfe, ein keckes, sommersprossiges Wesen vom anderen Volk. Großzügig teiltest du mit uns das Übermaß an Liebe, das dir gegeben war. Wir sonnten uns in deiner Liebe und du gabst uns Kraft. Wenn wir nur geahnt hätten, wie zerbrechlich du doch bist, wir hätten den Eulenhorst ausgepolstert und dich in ihm wie in einer Porzellankiste behütet. In jener Nacht, beim Dessert – ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, es gab Hans-Peters überirdische Crème bavaroise – hast du uns mitgeteilt, du wärst schwanger. Julian war nie glücklicher, glaube ich.“ Onkel Balder verstummte. Ich sah, wie er um Worte rang und keine fand. Eine Träne glitt über seine Wange, während seine schwitzige Hand die meine suchte. Ich drückte sie fest, weil ich dachte, es würde ihm helfen.

Eulenvilla3

„Aber Onkelchen. Du weißt, du sollst dich nicht aufregen!“ Lina trat zu uns in den Salon. Ihre ruhige, hypnotische Stimme wirkte sogleich: Der unförmige Mann wand verschämt und ertappt seine Hand aus der meinen, lächelte zur Seite und beruhigte sich. Ich sah, wie er auf seinen Lippen kaute, aber keinen Widerspruch wagte. Schade, ich hätte gerne mehr über die Geschichte der Hausbewohner von dem vielleicht etwas wirren, aber durchwegs sympathischen Mann mit dem seltsamen Namen erfahren. Lina wand sich an mich. Sie klang ungehalten:

„Ich bat dich doch, ihn in Ruhe zu lassen. Wo warst du denn? Ich warte schon seit einiger Zeit in der Bibliothek auf dich.“ Ich erhob mich vorsichtig mit gerade durchgestrecktem Rücken wie eine Schwangere aus aus dem Sessel, damit mein kleiner Buchdiebstahl nicht bemerkt wurde. Dabei beobachtete mich Lina ironisch, als hätte sie mich längst durchschaut. Wie immer, wenn ich mich eigentlich kleinlaut verteidigen müsste, wurde ich wütend. Das ist ein Reflex, den ich nicht unter Kontrolle habe.

„Woher soll ich denn wissen, wo diese blöde Bibliothek ist?“, giftete ich zurück. “Das ist kein Haus, sondern ein Irrgarten! Ich dachte, vielleicht holt mich ja jemand ab aus meinem Zimmer.”

„Katharia, ich habe dir vorhin gesagt …“, brauste Lina auf. Offenbar konnte auch sie manchmal zornig werden. Aber sie hatte sich gut im Griff und ruderte sofort zurück. Sie nickte. „Ich verstehe. Entschuldige bitte, wir hatten schon so lange keinen Besuch mehr.“ Und damit hakte sich mal wieder familiär bei mir unter, schob mich mit sanfter Gewalt zur Tür hinaus. Ich hörte Onkel Balder hinter mir ein paar zusammenhanglose Wörter murmeln. Es hörte sich an, als würde er die Zutaten für ein Kochrezept aufsagen.

„Wir müssen uns beeilen. Ich fürchte, er wird bald einen Eingang finden. Du bist hier nicht mehr sicher, Katharina.“

Ich blieb stehen, befreite mich aus ihrem Arm. Wann begriff sie endlich, dass ich diese Nähe nicht wollte. „Er hielt mich für eine Frau namens Agnes, das war …“

„Ja. Das war Julians Gattin, die Ehefrau seines Bruders. Ich bin ihr nie begegnet, ich kam erst Jahre später in die Eulenvilla. Aber es gibt hier viele Fotos von ihr. Du siehst Agnes etwas ähnlich. Sie hatte rote Haare und du trägst gerade einige ihrer alten Sachen. Julian brachte es nie über sich, ihre Kleidung wegzuwerfen. Ein paar der Zimmer sind wie ein Museum für Agnes eingerichtet. Wahrscheinlich hat dich Onkel Balder wegen dieser Ähnlichkeit mit ihr verwechselt. Er ist schon lange nicht mehr vollkommen bei sich. Das passiert manchmal, wenn der andere drüben stirbt. Das ist ganz so, als würde ein Faden durchtrennt. Balder kam nicht damit zurecht, plötzlich auf sich allein gestellt zu sein.“

„Das wird mir alles zu viel. Was willst du damit sagen? Von welchem Anderen sprichst du? Und was ist mit Agnes geschehen?“ Nun war es so weit: Ich explodierte. „Jetzt rede endlich Klartext: Wer, zum Teufel, steht da draußen und will mich umbringen?“ Ich packte Lina fest an den Schultern und schüttelte sie. Sie ließ es sich wie eine willenlose Puppe gefallen und ihr Kopf schwang vor und zurück. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich hielte eine Tote in meinen Händen. Erschreckt wich ich einen Schritt zurück. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie leblos zu Boden gesunken wäre. Zum ersten Mal, seit ich in der Villa Unterschlupf gefunden hatte, kamen mir Zweifel, ob ich es mit den beiden Bewohnern mit lebendigen Menschen zu tun hatte oder mit mechanischen Aufziehpuppen, die für mich ein seltsames, von ihrem Schöpfer programmiertes Theaterstück aufführten. Lina jedenfalls stand nach meiner Attacke still, legte den Kopf zur Seite, als würde sie auf eine innere Stimme hören, die ihr Anweisungen gab.

„Du verschwendest deine Wut“, sagte sie mit kalter und gleichgültiger Stimme, die mich noch mehr erschreckte als ihr vollkommenes körperliches Unbeteiligtsein. „Hebe sie dir auf, du wirst sie für den Übergang brauchen.“

„Was meinst du damit?“ Sie verzog die Lippen, aber es wirkte auf mich, als würden ihre Mundwinkel mit einem dünnen Faden nach oben gezogen. Ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen.

„Du willst doch wieder zurück, oder? Du möchtest nicht hier stranden, in diesem Haus in einer untergegangenen Welt, umgeben von den unglücklichen Geistern einer Vergangenheit, die nicht die deine ist?“

„Dann seid ihr tatsächlich nur Gespenster, du und Onkel Balder und wer auch immer hier noch wohnen mag?“

„Wirken wir wie Untote auf dich?“ Lina zeigte wieder Emotionen, der Moment, in dem sie wie eine Maschine gewirkt hatte, war so schnell vergangen, wie er gekommen war. Ihre Belustigung wirkte echt. Doch sogleich wischte sie ihr Lächeln und ihre Anteilnahme achtlos zur Seite, als würde sie einen lästigen Krümel vom Kleid entfernen. „Auf der anderen Seite stimmt es aber doch: Bei dir, in deiner wohl eingerichteten, funktionierenden Welt sind wir schon seit Jahren tot; wahrscheinlich existieren nicht einmal mehr unsere Gräber. Obwohl, Onkelchen liegt sicher in der Familiengruft… aber mein Begräbnis? Wer sollte sich schon um die Grabstätte eines jungen, frühverstorbenen Kindermädchens kümmern, das als Waise in einem Heim aufwuchs und es nur der Mildtätigkeit der Waldescher-Stiftung zu verdankte, dass sie die Schule abschließen und dann hier eine Stellung finden konnte.“ Sie seufzte und forderte mich mit einer Armbewegung auf, ihr nach links in einen dunklen Gang zu folgen, den ich schon kannte. An seinem Ende lag das Fernsehzimmer.

„Ich dachte tatsächlich“, fuhr sie fort, „der Eulenhorst biete mir die Chance meines Lebens. Wie naiv war ich doch! Dachte, ich könnte mir eine Zukunft schaffen. Ich machte mir sogar Hoffnungen… Egal, die Andere hat dem ein Ende gesetzt. Soll sie in Frieden ruhen in ihrem namenlosen Grab.“ Lina musterte mich scharf. Sie überlegte, was sie sagen konnte und was nicht. Ich durfte jetzt nicht locker lassen! Ich wusste, dass ich durch ihre Worte endlich das entscheidende Puzzleteil hielt und ich hatte nicht vor, es wieder aus der Hand zu geben.

„Dieses Kind, das du hier gehütet hast, das war das Kind von Agnes und Julian Waldescher, habe ich recht? Was ist passiert? Und was hat das alles mit mir zu tun?“ Lina blieb vor einer verschlossenen Tür stehen, aber anstatt sie zu öffnen, zögerte sie.

„Du bist der Schlüssel“, sagte sie fast tonlos. Furcht schwang mit ihrer Stimme. Die große Tür zum Fernsehzimmer flog auseinander, ihre Flügel wurden mit lautem Krachen zu den Seiten geschleudert. Grelles Licht wie von einem Scheinwerfer fiel in den abgedunkelten Gang. In seinem blendenden Strahlen tanzte eine fiebrige Wolke aus gelbem Wüstensand. Hitze rollte wie eine Welle herein. Dort stand ein hoher Schattenriss wie von einer Schere aus schwarzem Papier ausgeschnitten und in den Rahmen der Tür geklebt. Lina und ich erstarrten, weigerten uns, das Offensichtliche zu begreifen. Er hatte zuletzt doch einen Weg in die Villa gefunden, das Gotto war kein Schutz mehr für mich: Dort stand der Verfolger!

Der Mann hob sein Messer und schritt betont lässig und langsam auf uns zu. Er nahm dabei sein Lied von vorhin wieder auf.

„Lina, Lina, jetzt hole ich dein Kind.“ Und da erkannte ich ihn; zuerst an seiner Stimme, die nun nicht mehr von einem Fenster und einem Vorhang verzerrt war. Ein hartes Schlaglicht fiel seitlich auf sein von unbeschreiblicher Wut verzerrtes Gesicht. Ich spürte, wie mein Herz um seinen nächsten Schlag rang. Der Verfolger, der gewissenlose Mörder:

Das warst du, Jonas!

Kommentar verfassen