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Das Zeichen des Lebens (5. Brief)

5. Brief: 22. Juni

(geschmiert, kaum leserlich)

Er nickt, nimmt gierig einen Zug von der zwischen Ring- und Zeigefinger gehaltenen Kippe; nickt wieder, brabbelt:

„Das hat er gesagt. Ich glaube …“ Den zitternden Daumen in die Jeanstaschen gesteckt. Zerfurchtes Gesicht. „Übrigens …“ Er wendet sich nach links, zu einem Mädchen, das sich bemüht, ihn nicht zu bemerken. Er betatscht die unwillige am Rücken, ruft dann laut: „Prost!“

Unmut bei der Bedienung: „Das ist ein normales Café. Benimm dich. Die Gäste wollen ihre Ruhe haben.“ Noch ein Zug von der Kippe. Schnelles Kopfschütteln. Trotziges Schuldbewusstsein. Vornüber gebeugter Versuch der Ernüchterung. Fettiges Haar über die Halbglatze gekämmt. Vielleicht fünfundvierzig und schon beinahe tot. Säufer. Schwierigkeiten, das Weißbierglas zu fassen. Leichtes Schwanken, umsehen. Ein langer Schluck. Der Adamsapfel hüpft. Die Tasche des Mädchens fällt fast vom Barhocker. Er macht einen unbeholfenen Versuch, sie aufzustellen und damit alles schlimmer. Das Mädchen stellt die Tasche eilig weg, auf ihre andere Seite. Nach zähem Ringen mit einem Feuerzeug und der inzwischen erloschenen Zigarette, sie wieder zum Qualmen zu bringen, folgt eine gezielt gerade Gang zur Toilette. Kurze Erleichterung der Leute am Tresen und ich kann endlich an meinem Tisch etwas langsamer Schreiben, muss nicht die Handlung in Echtzeit mitstenografieren. Ich habe erneut Tee bestellt – mit Zitrone.

Er kommt wieder. Des Dramas 2. Akt. Er nimmt die Tasche des Mädchens, stellt sie wieder auf den Barhocker neben sich. Stirnrunzeln und Überlegungen des stämmigen Kellners, ob er einschreiten soll. Offenbar hat er bewusst den Platz der Bedienung eingenommen. Der Säufer raucht Roth-Händle. Er kennt viele Arten, sich langsam umzubringen. Er bemüht sich nun um Gespräche mit den leicht abrückenden Leuten neben ihm, versucht vergebens, ihre Aufmerksamkeit für seine Geschichten zu erlangen. Das Mädchen zahlt, geht eilig. Er reicht ihr – vollendeter Kavalier der alten Schule – ihre Tasche.

„Uhrzeit?“ Nicht einmal die wollen sie ihm verraten. Er wendet sich um, wiederholt seine Frage in den Raum. Schweigen.

„Zehn nach zwei“, rufe ich und weiß, dass ich einen Fehler begangen habe. Er fixiert mich, schnappt sich sein fast leeres Glas, kommt zu mir herüber. Jetzt –

(sauber geschrieben)

– abends

Es geht alles immer weiter. Ich lasse den Text, den ich heute Nachmittag geschrieben habe, absichtlich so stehen. Er macht zwar beim Lesen Mühe, aber er beschreibt genau den ersten Eindruck, den ich von dem Säufer hatte. Versteh: Ich habe versucht, sofort zu reagieren, zeitgleich genau das zu erfassen, was sich vor mir am Tresen abspielte, während ich von meinem Tisch aus – wieder war ich im gleichen Café; ich bin dort allmählich ein Stammgast – beobachtend schrieb. Ich hoffe, du kannst meine Schmiererei trotzdem lesen, denn die kurzen, abgehakten Sätze gefallen mir ganz gut. Ich glaube, auf diese Weise könnte ich einen Roman schreiben; ja, das kann ich mir wirklich gut vorstellen. Es macht Spaß und ich habe ja endlos Zeit hier.

Aber die Sache mit dem Säufer ging noch weiter – sehr interessant weiter, übrigens. Er packte sich also sein Weißbier, kam zu mir an den Tisch, setzte sich und begann sich mit mir zu unterhalten. Ich legte meinen Stift zur Seite und versuchte ihn wie ein Diktiergerät zu belauschen. Jetzt – wieder ‘Zuhause’ – überlege ich schon die ganze Zeit, wie ich diese Begegnung, dieses Gespräch aufs Papier bringen kann. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, es mit einem Dialog zu versuchen – weißt du, wie in einem Theaterstück, bei besonders wichtigen Handlungen allerdings mit Regieanweisungen. Ich hoffe, ich habe unsere Worte noch getreu im Kopf. Also:

Säufer: (setzt sich mir gegenüber an den kleinen, runden Tisch – er beugt sich weit nach vorn und stößt ihn dabei beinahe um – im Hintergrund belauscht uns fürsorglich der Kellner) Was?

Ich: Es ist sehr genau zehn Minuten nach zwei.

Säufer: (starrt mich eine Weile verständnislos an, dann nickt er heftig) Hast du eine Zigarette?

Ich: Ich rauche nicht.

Säufer: Recht so, das ist richtig. Ist nicht sehr gesund. (hustet bekräftigend) Aber … was soll man machen? (zieht eine Packung Roth-Händle hervor) Willst du eine?

Ich: Ich rauche nicht.

Säufer: (starrt mich wieder an – Pause) Richtig. Bist du hier häufiger? Ich bin zum ersten Mal da. Ist aber ganz nett, vielleicht zu viele junge Leute. Sonst bin ich immer in einem anderen Lokal. (wendet sich um, deutet unsicher umher) Weißt du, da hinten. Das heißt … (er kneift die Augen zusammen) „Zum Weißen Hahn“, ja, „Zum Weißen Hahn“. (lacht) Aber heute bin ich halt mal hier. Das ist auch ganz nett. Der Durst, weißt du, ich habe es nicht mehr bis zum … „Weißen Hahn“ geschafft.

Ich: Warum erzählst du mir das?

Säufer: Wie?

Ich: Warum erzählst du mir das?

Säufer: Also im „Weißen Hahn“ kostet ein Helles dreizwanzig, hier kostet ein Weißbier vierfünfzig. wenn ich hier zwei Weizen trinke, dann krieg ich dort … also das sind neun, dann krieg ich da hinten fast drei Bier, oder so …

Ich: Wenn du hier zehn Weißbier trinkst, kriegst du dort 14 Helle. (Säufer lacht ungläubig) Allerdings ist Weizen gesünder.

Säufer: … gesünder?

Ich: Ja. Die Hefe macht das aus. Weißt du, ich habe gestern im Radio etwas darüber gehört. In Hefe ist unglaublich viel Vitamin B – oder war es C? Egal. Es ist gesünder.

Säufer: Warum redest du so viel Mist? (er macht eine Kunstpause – ich bin sprachlos) Ja, Mann, willst du mich etwa verarschen? Was bist du für einer? Bist du blöd, oder was? Du bist so komisch.

Ich: Ich kann das verstehen. Ich habe manchmal ähnliche Eindrücke. Da sieht man jemanden, denkt, der sei ganz normal und dann – ganz plötzlich – verändert sich etwas und alles ist seltsam. Ich möchte sagen: verdorben.

Säufer: (rutscht langsam auf seinem Platz hin und her, sieht sich ein paar Mal um) Mann, Mann … (er hat einen Geistesblitz) Du bist aus dem Irrenhaus da oben.

Ich: Ja. (Kellner, der bis jetzt geduldig zugehört hat, sieht auf, kommt näher und der Alkoholiker steht gleichzeitig schwankend auf) Aber was willst du denn. Ich tue doch niemandem etwas. Ich sitze hier und trinke Tee, das ist alles. Komm, du bist doch auch nur ein Säufer. Wo ist da der Unterschied? (Säufer wendet sich ab, torkelt zurück an den Tresen und schüttelt beständig den Kopf – der Kellner beugt sich zu mir herab) Haben Sie gewusst, dass die Neigung von sogenannten Geisteskranken zu Gewalttaten unter zwei Prozent liegt? Das ist exakt so hoch wie bei den sogenannten Gesunden. (Kellner zieht die Mundwinkel nach oben, redet weiter beschwichtigend auf mich ein) Ein Säufer hat Angst vor mir und er ist in Ihrem Café eher geduldet als ich. Das ist doch pervers. Ich bin zwar Psychotiker und mit mir ist manchmal etwas nicht ganz in Ordnung, aber … (wütend) Ich bin fast geheilt! (auch die Stimme des Kellners wird schärfer – immer mehr Gäste sehen zu uns) Okay. Du forderst das heraus. Verdammte Arschlöcher seid ihr alle! (ich werfe Geld auf den Tisch, ab)

Ich könnte lachen: Verstehst du? Ich bekomme Lokalverbot und ein Kainsmal auf die Stirn gebrannt! Wegen nichts! Den Säufer lassen sie Leute anpöbeln.

Ich werde mir ein neues Café suchen müssen.

– Ernst.

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