Das Zeichen des Lebens (4. Brief)

4. Brief: Mitte Juni

Eine Geschichte:

Er sieht in den Spiegel. Er sucht sich. Es fällt ihm schwer, mit seinem Blick durch die steinharte Hülle aus Selbstbewunderung und Koketterie mit der gespiegelten Person zu dringen, sich selbst zu sehen. Selbst als es ihm gelingt, sind es nur Augenblicke, dann zwingt ihn etwas in sich, zu lächeln, die Wangen einzuziehen, zu zwinkern. Eine Maske fällt vor das Gesicht. Doch auch in den Sekunden der Wahrheit sieht er in die Augen eines Unbekannten, sieht er unvertraute Züge. Er fremdet sich an. Nichts, so glaubt er, ist ihm unähnlicher als sein Spiegelbild. Es ist falsch, Talmi, seitenverkehrt. Wo kann er selbst in dieser verworrenen, vielschichtigen Gestalt finden? Wo in diesem nachdenklich forschenden Gesicht? Sicher, diese Kleidung kennt er. Aber der Körper, der sie ausfüllt …

Das alles ist so anders, als er es fühlt. Und wo in diesem Spiegel ist der Mensch, der er ist? Er sieht nur eine Hülle, eine Form, Zerfließendes – unhaltbar: Nichts, das er greifen, in der Hand halten kann, nichts, das er fühlen, vielleicht auch nur schmecken oder hören, das „He, das bin ich“ sagt. Allein Leere starrt ihm gleichgültig in die Augen.

Bin ich das? Wirklich? Ich …

Er versucht, der Melodie dieses Wortes „Ich“ nachzuspüren. Dann ist es verklungen, aufgesaugt von der Zeit, verloren für ewig. Erneut zwinkert er sich zu und hat ’sich‘ wieder. Gleichgültig will er sich abwenden – das heißt: Er versucht es. Aber dies will ihm nicht gelingen. Ein plötzlicher Schmerz packt ihn an der Schulter, lässt ihn starr stehen. Sein Atem beschleunigt sich. Jetzt ist er schnell, er jagt hechelnd, während er in den Spiegel blickt.

Er merkt, etwas hat sich verändert. Es ist nicht viel. Vielleicht nur der Blickwinkel. Das Sofa, das hinter ihm steht, das er fast mit seinem Körper verdeckt: Es hat sich verwandelt. Es wirkt verzerrt, auf eine geheimnisvolle Weise transparenter, unecht.

Flach.

Da sieht er: Auch seine eigene Reflektion ist anders. Er steht noch immer vor einem Fremden. Das ist es nicht. Es ist eher etwas in den Augen – sie sind verschoben, falsch. Sie schielen nicht und haben auch nicht die falsche Farbe oder Größe. Dennoch, sie sind anders. Auch die Nase: War sie nicht einmal fleischiger, nein, sie war …

Ich weiß doch nicht! Erneut will ich mich abwenden, diesmal voller Abscheu. Es gelingt mir wieder nicht. Diesmal bin ich erstaunt. Auch der Schmerz ist heftiger geworden. Mir ist, als würde ich versuchen, mich in einer Eisernen Jungfrau umzudrehen. Das ist ein seltsamer Schmerz, einem Unwohlsein nicht unähnlich, aber viel heftiger und drängender. Wie eine Unregelmäßigkeit der Wirbelsäule. Vielleicht ist sie verbogen oder die Nerven zu kurz. Vorsichtig versuche ich, meine Hand zu heben, sie nur ein ganz klein wenig nach vorne zu drücken. Ich scheitere schnell. sie rutscht zwar zitternd höher, auf keinen Fall aber nach vorne. Es scheint mir, als tauche sie in zähflüssigen Sirup. Dann wird die Bewegung komplett gebremst. Sie endet und meine Fingerspitzen berühren festes Glas.

Wie eine Chimäre tanzt eine Erkenntnis durch mein überhitztes Gehirn. Ich weiß plötzlich alles, aber ich verstehe es nicht. Ich besitze die Tatsachen, aber nicht ihre Transzendenz. Das ist wie eine fremde Sprache; ein unbekannter Code. Ist das ein Grund der Änderung, was er sieht: Ist das Spiegelbild? Nein. Es ist richtig. Es ist echt. Das heißt, er sieht sich, wie er wirklich ist. Er sieht aus dem Spiegel heraus. Er ist sein eigenes Spiegelbild. Er will schreien, als bereits —

Morgens, nach dem Frühstück

Liebe Christine,

gestern Abend wurde ich von der Schwester unterbrochen. Du weißt ja, ich muss um elf Uhr ins Bett. Dann ist „Hüttenruhe“. Das war grade gestern bedauerlich, denn heute Früh ist alles vorbei. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Geschichte, die ich angefangen habe, fortsetzten wollte. Ich habe nicht einmal mehr einen Hauch von einer Ahnung. Ich finde keine Kraft und habe auch keine Lust mehr, an ihr weiter zu schreiben. Im Nachhinein betrachtet, finde ich sie wirklich seltsam. Weißt du, das liegt wahrscheinlich nicht daran, dass ich gar kein Schriftsteller bin. Ich kann jedoch etwas, das ich beginne, nicht mit dem Schwung beenden, den ich am Anfang hatte. In ihm, heißt es doch, liege ein Zauber. Schon nach ein paar Stunden – spätestens am nächsten Tag – ist mir rätselhaft, wozu ich überhaupt eine Geschichte begonnen habe, noch dazu eine, die keine Aussage, keine Kritik oder zumindest Spannung und einen originellen Einfall enthält. Das aber scheint mir doch eine Grundvoraussetzung zu sein. Eine andere Geschichte darf man überhaupt nicht schreiben. Frag mich aber nicht, warum das so ist. Ich bin doch kein Literaturkritiker. Ich habe das hier von einem jungen Mann gehört. Er sagte, das gehöre verboten, aber die heutige Literatur fördere trotzdem nur noch Fluchtgeschichten zu Tage, die – ich zitiere: – ‚die Starallüren des introvertierten Schreibers pervertieren.‘ Der Satz stamme übrigens seinem Essay über einen Roman von … ach, ich weiß den Namen gerade nicht und ich bin zu faul, um aufzustehen und nachzusehen – irgend ein Moderner, Beliebter, der sich früher mal bei der Bachmannpreisverleihung aus Protest mit einer Rasierklinge das Mal auf seiner Stirn aufgeschnitten habe. Kannst du dich an so etwas erinnern? Ich nicht. Wie schnell doch Skandale keine mehr sind! Wenn der das tut, ist es übrigens eine Provokation, mache ich das, das mit der Rasierklinge – was der Herr verhindern möge – dann bin ich wahnsinnig. Das ist der Hauptunterschied zwischen mir und einem exzentrischen Künstler. Wäre ich Schriftsteller oder Maler, dann würde meine Psychose nur ein Merkmal meiner interessanten, tiefen und wahren Persönlichkeit sein. Verrückt? Wie man es nimmt. Es ist eigentlich ganz einfach. Die schwarzen Schafe sind die weißen. Kain ist Abel – und umgekehrt. Egal.

Ich habe versucht, für das Kind Geschenkpapier aufzutreiben und war dazu an einem meiner freien Tage in zwei Schreibwarenhandlungen und in einem Kaufhaus. Aber nirgendwo hatten sie weihnachtliches Papier. Verstehst du, ich habe hier zehn Geschenke herum liegen und finde einfach nicht das richtige, um sie einzupacken – irgendetwas mit Engeln, Christbaumkugeln oder Glocken. Inzwischen habe ich auch begriffen, warum das so ist. Nachdem mich die Verkäufer ansahen, als käme ich vom Mond und mit dem Finger auf mich zeigten, habe auch ich eingesehen, dass gar nicht Vorweihnachtszeit ist. Es ist mitten im Jahr. Auf eine ganz seltsame Weise hatte ich da einen Knacks. Ich war immer der Meinung, es wäre Advent. Ich war erschüttert, als ich meinen Irrtum bemerkte. Wie konnte ich nur so irre gehen? Ich decke mich mit Spielsachen ein und es ist Juni. Seltsam, nicht? Alle außer mir, die Blaukittel, die Schwestern und diese Doktorandin, die neuerdings immer um mich herumschwirrt, haben sich darüber gefreut, dass ich Idiot das endlich kapiert habe.

Diese Frau ist übrigens das letzte. Mit an Hysterie grenzender Munterkeit und schmalztriefender Freundlichkeit behandelt sie mich herablassend, als wäre ich dement oder ein Kleinkind. Ich meine – gut, am Anfang wäre ich wahrscheinlich verhungert, wenn man mich nicht gefüttert hätte. Weil ich das Essen einfach deshalb vergaß, weil ich viel zu viel mit anderen Dingen beschäftigt war. Aber das ist doch lange vorbei, aber sie scheint das noch nicht verstanden zu haben. Sie ist anscheinend der Meinung, ich sein komplett doof und mir wäre auch nicht zu helfen. Sie schreibt irgendeine Arbeit über mich – ich werde mir mal ein Exemplar besorgen, wenn sie fertig ist – aber sie behandelt mich wie den letzten Dreck. Sie redet in Babysprache mit mir, zeigt zu allem gütiges Verständnis und würde mich wahrscheinlich noch ermutigen, wenn ich mir vor ihren Augen einen runterholte. Kurz, das Weibsbild ist widerlich. Ich muss mich aber trotzdem zweimal in der Woche mir ihr ‚unterhalten‘. Am Anfang habe ich mich noch darüber gefreut, weil das eine willkommene Abwechslung war und das Mädchen – verzeih, wenn ich das anspreche – sieht auch ganz passabel aus. Das ist ein Genuss, wenn ich bedenke … Na ja. Auf jeden Fall entpuppten sich die Gespräche mit ihr als eine schlechte psychiatrische Schmierenkomödie. Sie muss ihr Fachwissen aus dem Reader’s Digest beziehen.

Sonst geht es mir wirklich ganz gut. Grüße doch bitte eine Mutter von mir. Ist sie mir noch immer böse. Dann entschuldige dich doch in meinem Namen. Ich hoffe, sie kann mir endlich verzeihen, das ich an Weihnachten so ausgerastet bin. Besuche mich bitte bald.

– Ernst.

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