Gitta wandte sich an Beate.
»Was wollen wir jetzt machen?«, fragte sie unschlüssig. Beate berührte leicht ihren Unterarm. Die beiden traten zwei Schritte zurück und waren durch den allgemeinen Lärm im Lokal vor Lauschern geschützt.
»Wir gehen auf keinen Fall heim«, erwiderte sie trotzdem so leise, dass sie von ihrer Freundin kaum verstanden wurde. »Ich bin nämlich gespannt, wie sich die Sache noch entwickeln wird.«
Gitta schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist vorbei. Klammer und Benjamin waren hier nur Essen und wohin sie jetzt sind, können wir nicht in Erfahrung bringen. Ich werde müde und will nicht alle Lokale in der Innenstadt nach den beiden absuchen.«
»Ich bin mir nicht so sicher. Überlege mal: Weit können sie nicht sein, Klammers Auto steht doch noch vor der Tür. Und dann will ich Alfons noch ein bisschen ausfragen. Er scheint einiges zu wissen. Vielleicht bekommen wir durch ihn ein brauchbares Bild von dem Chef deines Mannes.« Beate sah den Zweifel in Gittas Gesicht. »Schau, zum Üben ist es schon zu spät«, versuchte sie ihre Freundin zu überreden, »und wann waren wir zuletzt zusammen weg? Das ist sicher schon Monate her. Nein, heute Abend habe ich frei und Norbert hütet die Kinder. Das will ich ausnutzen.« Sie nickte Manfred zu, der seine Massen freundlich nickend an den beiden vorbei durch die dichtgedrängten Gäste schob und dabei wie ein Eisbrecher wirkte, der das Packeis der Arktis durchbricht. Er verließ das Lokal mit der Frau, die am Eingang auf ihn gewartet hatte.
»Aber dieser ekelhafte, stinkende Mann ist mir zuwider«, beharrte Gitta »Wenn du unbedingt noch ausgehen willst, habe ich ja nichts dagegen. Aber warum nicht woanders hin, vielleicht ins ICEHOUSE?«
»Nein, ich will Alfons noch ein paar Würmer aus der Nase ziehen. Nenne es Intuition, aber er weiß mehr, als er zugeben will. Außerdem habe ich meinen Wein noch nicht getrunken.« Beate lächelte plötzlich strahlend. »Die Sache macht mir jetzt wirklich Spaß; das ist alles ein bisschen wie im Krimi, findest du nicht? Ich will herausfinden, was Klammers Geheimnis ist.«
Was sollte Gitta dazu schon sagen? Sie war weit weniger amüsiert als ihre Freundin und der Schock, dass der Dr. ihre Ehe bedrohte, wühlte noch immer in ihrem Magen. Konnte Beate das schon vergessen haben oder nahm sie ihre Ängste einfach nicht ernst? Empfand sie das Ganze wirklich nur als ein gelungenes Abenteuer? Sah sie denn nicht, wie sehr Gitta litt? Oder sammelte sie etwa Eindrücke für ihren nächsten Roman?
»Ich persönlich glaube«, fuhr Beate fort, »dass Klammer nur ein intriganter Aufschneider ist, der ein wenig Kabale stiften möchte, weil er daran Freude hat. Nein, wirklich, wir sollten es als Spiel betrachten.«
»Na, Mädels, was habt ihr denn so Ernstes zu bereden? Wenn zwei flüstern, muss der Dritte um sein Leben fürchten. Lasst mich doch teilnehmen«, mischte sich Andernaj ein und trat zu den beiden Frauen. Er hatte nicht vergessen, sein Bier und Beates Weinglas mitzubringen. Sie nahm es und lachte ihn gewinnend an.
»Ich hätte noch ein paar Fragen mehr über Klammer. Wann hast du ihn kennengelernt?«, erwiderte sie, ihre seufzende Freundin ignorierend. Andernaj zog abschätzend die Mundwinkel herab und doch war ihm anzumerken, wie sehr er sich freute, das Gespräch fortsetzen zu können. Es geschah ihm nicht mehr allzu oft, dass er sich wie früher vor einem interessierten Publikum, noch dazu vor zwei jungen Frauen, von denen die eine sehr attraktiv war, produzieren zu können.
»Es gibt Menschen, von denen man sich später nicht vorstellen kann, man hätte sie irgendwann einmal nicht gekannt. Man hat das Gefühl, es gab kein Vorher, weil sie schon immer da waren. Sie sind in dieser Beziehung wie ein Bruder oder eine Schwester«, begann Alfons, als würde er den Beginn eines Romans von Tolstoj zitieren. Beate fiel auf, dass Andernaj sich bemühte, hochdeutsch zu sprechen, was ihm auch trotz der nicht verbergbaren süddeutschen Klangfarbe gelang, vielleicht zitierte er jemanden. Gleichzeitig entschied sie sich, ihn ernster zu nehmen, als sie dies, bislang durch die schlechte Meinung ihrer Freundin Elli – Andernajs Ex – beeinflusst, bislang getan hatte.
»Es müssen nicht einmal die besten Freunde sein, bei denen wir dieser Empfindung ausgesetzt sind, es sind im Gegenteil die eher flüchtigen Bekanntschaften; wann habe ich zum ersten Mal den Bäcker gesehen, bei dem ich meine Semmeln hole, oder meinen Nachbarn? Oder wann haben wir beide uns eigentlich zum ersten Mal getroffen? Dieses Unvermögen, sich zu erinnern, hat sicher seinen Grund darin, dass mich das erste Treffen nicht sehr beeindruckt hat. Dieser Mensch war nur einer unter vielen, denen wir täglich begegnen.« Er zögerte, denn Beate ächzte vernehmbar und gelangweilt. Sie war sich nun sicher, er zitierte irgendeinen Autor, wahrscheinlich sich selbst, dafür sprach die Plattheit der Gedanken. Es gab das Gerücht, Andernaj würde seit Jahren an einem unvollendeten Roman schreiben.
»Um nun meinen Ausflug über mein schlechtes Gedächtnis, das auch unter einigen Exzessen alkoholischer Natur gelitten hat, zu beenden«, fuhr er fort und fiel ein wenig zurück in seinen Dialekt, der aber bei weitem nicht so grob aufgetragen wirkte wie sonst, »ich kann mich nicht entsinnen, wann und wo ich Nikki zuerst begegnet bin. Wahrscheinlich in der Uni, eher in der Mensa als im Hörsaal, hehe – wir ham mal beide in den legendären Endsiebzigern Germanistik studiert; ich ‘n paar Semester höher als er. Bei unserm ersten Gespräch, an das ich mich erinnern kann, da ham wir uns schon gekannt und hatten die kumpelhafte Nähe von zwei Leuten, die ihre Lebenssituation ähnlich empfinden. Wir wussten unsere Namen und hatten auch schon mal ein paar Worte gewechselt. Wir grüßten uns, wenn wir uns sahen, weißt schon, dieses her geschenkte, verschwörerische Grüßen, das herablassende Nicken und flüchtige Grinsen: ‘Wir haben uns!’ Das ist wichtig, auch wenn darüber hinaus keine weitere Annäherung geschieht, man schenkt damit einander Existenz, das Recht, lebendig zu sein. Das Gegenteil davon ist das leere Grüßen in den Raum, das niemanden meint und nur für uns selbst eine Manifestierung unseres Seins ist. Philosophisch gesprochen …«
»Alfons! Bleib auf dem Teppich«, unterbrach ihn Beate mit einem Einwand, den er wahrscheinlich bei jedem Gespräch zu hören bekam und gewöhnt war. Andernaj schien auch für ihren Einwurf nicht weiter böse zu sein.
»Is’ das nich’ interessant?«, fragte er nur erstaunt und nahm dann seinen Faden wieder auf. »Nikki war damals nich’ weiter beeindruckend; ein blasser, gerade der Mama entwöhnter Knabe, der älter und schlauer sein wollte, als er war und den Ehrgeiz hatte, es auch zu werden. Es gibt solche Typen, die auf die Dreißig zugehen und doch noch immer wie ‘n altkluges Kind wirken. Er hatte schulterlange, dünne Haare, die er meist zu einem Zopf band und ein Mephistobärtchen. Er trug ausschließlich Schwarz; weißt schon, paint it black, die Intellektuellenuniform aller Möchtegerne: Jackett, diese unmöglichen Rollis aus Kunstfaser, in denen man immer nach Schweiß stinkt oder zumindest so aussieht, als würde man es tun, Stoffhose, spitze Schuhe. Er war zum Erbarmen dürr und eckig, ich weiß, es is’ ‘n Klischee, aber er erinnerte an ‘nen Storch. Da fällt mir ein, um den Hals trug er immer ‘ne Kette aus Holzperlen, an der unten ‘n Bild von Thomas Quincey hing, der war damals sein Abgott. Wie die – wie hießen sich noch – die Sannyasin, genau. Nikki und ich kamen in Kontakt, weil wir beide Literatur machten oder zumindest glaubten, es zu tun. Da waren wir beileibe nich’ die einzigen damals, hehe; damals machte jeder Literatur. Jeder is’ ‘n Künstler, und so, weißt schon.«
»Wo lebte er, als er studierte, wohnte er noch bei seinen Eltern?«, warf Gitta ein. Sie hatte bisher den Eindruck gemacht, als würde sie kaum zuhören, hatte sich abgelenkt im Wirtsraum umgesehen und sich dabei langsam beruhigt. Und je länger Andernaj sprach, umso sinnloser erschien ihr ihre Aufregung. Konnte es nicht sein, dass Benjamin längst zu Hause war, während sie wie eine aufgeregte Glucke nach ihrem verlorenen Küken suchte? Er war hier mit seinem Chef beim Essen gewesen, nur die beiden allein, daran war nichts Verfängliches. Vielleicht hatte Beate recht und sie jagte einen Papiertiger. Trotzdem, der Zweifel blieb. Sie fragte, weil sie Klammer besser begreifen wollte, denn er war ihr weiterhin unheimlich und nicht greifbar. Sie wollte Information, ihn in ein Schema bringen, dem er bislang erfolgreich floh. Sie hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass ein Mann wie der Dr. überhaupt Eltern hatte und einmal jünger, gar ein Kind gewesen und nicht fertig vom Himmel gefallen war. Andernaj reagierte auf ihren Einwurf mit einem abschätzigen Zungenschnalzen.
»Was weiß ich? Ich weiß nich’ mal, wo er jetzt wohnt, hat -glaub’ ich – mehrere Wohnungen, reich genug is’ er ja. Wo schlief denn ich damals? Mal hier, mal dort; is’ jetzt kaum anders, hehe. Weißt du, wir sind Männer, die unterhalten sich anders als Frauen. Über solche Dinge redet man nich’. Wenn wir uns trafen, sprachen wir über Kunst und vielleicht mal über Politik. Das hat sich bis heut nich’ geändert. Über sein privates Leben, ich sagt’s schon, weiß ich nichts, wir ham uns auch zwischendurch mal zehn Jahre aus den Augen verloren, da war ich in Berlin, weil ich nicht zum Bund wollte. Ich kenn ‘n paar seiner Bekannten, aber wenn du mich nach seiner Verwandtschaft oder nach seinen Beziehungen fragst, muss ich passen. Mit ihm geht alles, er is’ ne Hohlform wie’n Schokohase. Er kann ein im kalten Krieg in ‘n Westen eingeschleuster DDR-Spion sein, ‘n Maulwurf, der nach der Wende vergessen wurde. Ich könnt’ mir vorstellen, dass nich’ mal sein Name stimmt, immer wenn ich den höre, muss ich an ‘ne Phyton oder ‘nen Oktopus denken. Is’ er noch Jungfrau, homosexuell oder nekrophil, nimmt er Drogen? Hat er all die Bücher gelesen, aus denen er ständig zitiert – oder doch nur die Geflügelten Worte auswendig gelernt? Schreibt er noch, veröffentlicht er, vielleicht unter einem Pseudonym? Is’ er Stephen King, Konsalik oder Herbert Achternbusch? Du wirst lachen, hehe, aber ich hab ihn noch nie aufs Klo gehn sehn, auch wenn wir stundenlang zusammen waren, ich hab aufgepaßt.«
Andernaj trank von seinem Bier. Jetzt konnte er in seiner Rede eine Pause machen, ohne eine Zwischenfrage befürchten zu müssen, denn er hatte sein Publikum endlich interessiert gemacht. Mit Genuss sprach er weiter: »Na, viel von dieser Phantomhaftigkeit hatte er damals schon, auch wenn die Maske noch nich’ so perfekt war. Er war noch abhängig von der Meinung anderer und empfindlich, Mann, war der ‘ne Mimose. Er konnte heulen, wenn ein Prof. vergaß, ihn zu grüßen oder jemand es wagte, seine Weltbedeutung als Literat in Abrede zu stell’n. Doch unverdrossen wagte er sich mit seinen literarischen Ergüssen vor uns, die wir ‘n ausgesprochen kritisches Publikum waren. Sicher ‘n Fehler, denn man kann mit fünfundzwanzig noch keine Meisterwerke schaffen. Er hat damals ein Theaterstück von sich inszeniert, eine modische Attacke gegen die hergebrachte Kunstform, gegen, wie er sagte; den Strich der Theaterarrangemente gekämmt, mit viel konkreter Poesie, abstrusem Surrealismus und abwegiger Philosophie: Das Unverständlichste von Marx, Ionescu, Brecht und Jerry Cotton in einen Topf geworfen und hastig umgerührt. Nikki, der Dunkle. Aber man darf bei seiner Kritik nich’ mit einer zu festen Bürste fegen, sonst kann’s sein, dass man mit den Fusseln den ganzen Stoff entfernt. Is’ übrigens ‘n Spruch von Nikki und ich hab ihn mir ins Stammbuch geschrieben. Ich war in meiner Eigenschaft als Freelance einer neuen Szene-Zeitschrift in dieser Veranstaltung, versuchte damals fürs Feuilleton ganz nah ran an die Avantgarde der Stadt zu kommen. Natürlich interessierte sich niemand für diese Dinge, das hat sich ja bis heute nich’ geändert, aber das Deckmäntelchen der Aufgeschlossenheit und des Liberalismus kleidete die Zeitung von Rainer Werner damals so gut, dass meine Artikel meist gesetzt wurden und ich vom Zeilenhonorar ein ausreichendes Taschengeld verdiente. Meinen Job hat heute übrigens Georg Hauser, den müsstest du kennen, Beate, oder? Klammers Stück war allerdings nich’ kritikfähig. Was is’ auch über ‘n Theaterstück auszusagen, in dem sich über drei Stunden lang zwei nackte Männer gegenüberstehen, einander mit Farbe bepinseln und monoton über das Vergehen der Zeit und, typisch Nikki, die Zinspolitik der Bundesbank labern? Die Bürste, sagt’ ich schon. Ich war natürlich der einzige Vertreter der Presse. Es kamen, glaub ich, eh nur zehn Leute zu der Aufführung, Freunde der beiden Akteure hauptsächlich, und Mädels, die sie nackt sehen wollten, hehe. Nikki hielt sich an mich. Wisst ihr, er war noch jung und wartete auf meine Kritik wie ‘n junger Hund auf ‘n Schokoladenkeks. Ich hatte aus Mitleid ein paar hohle Standardformulierungen parat, die sich zwar gut anhörten, aber nur verbergen sollten, wie erbärmlich ich sein Werk fand. Er merkte gleich, wie’s stand. Aber er rechnete mir hoch an, dass ich mich mühte, ihm die bittere Pille so schmackhaft wie möglich zu machen. Wir gingen dann zusammen in ‘ne Kneipe und ham die ganze Nacht geredet, besser: Er schwafelte und ich gab ihm ab und an ‘n Stichwort. Weißt schon, das war einer von den Monologen, die man in dem Alter führt, in dem man sich so gern reden hört. Kein Ziel war ihm zu groß: Er wollte Sensation machen, den Kunstbetrieb revolutionieren, ihr Robespierre und Napoleon zugleich werden. Klar is’ er gescheitert: Was hast du gedacht, wenn man in dieser Stadt lebt? Die is’ doch ‘n Synonym für Gleichgültigkeit. Ich glaub’, dass er’s selbst gewusst hat, aber wenn ich versucht hab, ihm das zu sagen, ging ihm der Rollladen runter. Also ließ ich’s sein und hörte zu. Und, weißt du, der konnte reden: Wahnsinn, was der schon damals alles unverdaut im Hirn hatte. Ich hab’ immer die Typen von der APO bewundert, wenn ‘se sich im Auditorium hingestellt ham und einem ihren Milchkaffee aus tausend linken Autoren und Philosophen drüberschütteten. Ich frag mich, wie ‘se das gemacht ham, ich hab nie ‘nen Satz von Marcuse oder Lukács verstanden oder mir merken können, du vielleicht? Wie diese Linken war Nikki auchr. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis und war der geborene Demagoge, is’ er heut noch, wenn er auch von links nach rechts gewechselt is’. Weißt schon, er hat das charismatisch Fanatische, wenn er sich in Rage schwätzt. Un’ verdammich, er war damals dauernd geladen. Aber in dieser Stadt schreiste dich heiser und niemand kümmerts. Auf jeden Fall ham wir uns als die besten Freunde getrennt.« Alfons sah nachdenklich auf den schmutzigen Boden.
»Zwei Monate später flüchtete ich vor’m Barras, war die beschissenste Zeit meines Lebens. In den Jahren, in denen ich ihn dann nicht sah, hat er sich verändert und nich’ zu seim Vorteil. Ich kenn nur wenige Leute, die sich so geändert ham. Die meisten sind mit dreißig schon so, wie se mit vierzig san, vielleicht ‘n bisschen bedächtiger, aber der Charakter is der gleiche, hat sich höchstens vertieft, die guten Eigenschaften sind schwächer, die schlechten stärker. Aber dass man neue hinzugewinnt, is doch außergewöhnlich. Nikki war plötzlich krankhaft ehrgeizig geworden. Klar, hatte ja schon früher große Rosinen im Mund, aber die waren alle auf die Kunst beschränkt und er hat nur gelabert und nich’ viel für ihre Verwirklichung getan. Jetzt erinnerte er an diesen Romanheld von Balzac. Ich hab Titel und den Namen von dem Kerl vergessen, aber der hat jedenfalls eben seine Ideale zu Grabe getragen und steht nun auf dem Hügel des Père Lachaise, blickt hinunter auf Paris und ruft ergrimmt: Et maintenant…, à nous deux! Klammer selber hat sich jedenfalls mit ihm verglichen. Vielleicht war die Ablehnung seiner Literatur schuld – wahrscheinlicher aber ‘ne Frau, hehe, die Welt hat ‘nen Poeten verloren und ‘nen zynischen Erfolgsmenschen gewonnen. In der Zeit, die ich Berlin vergammelte, brach er jedenfalls sein Studium ab und wechselte zur Juristerei, machte seine Examina und Praktika und blieb dann beim Staat, denn die Hierarchie der Ämter schien ihm ein guter Weg, Macht in die Hände zu kriegen. Hatte offenbar seinen ganz privaten Marsch durch die Institutionen geplant. Er täuschte sich, beim Staat braucht alles seine behördlich vorgeschriebene Zeit, es gibt keine Abkürzungen oder er verbaute sie sich mit seiner Arroganz, was weiß ich. Die Steine, die man ihm in ‘n Weg legte, waren ordentlich. Er hätte es doch geschafft, klar, dafür is’ er ja gemacht, aber dann brach ihm diese dunkle Geschichte das Genick. Naja, Manfred Sontheimer musste ja unbedingt ein Geheimnis daraus machen un’ ich weiß eigentlich nix darüber.«
»Was ich vorhin schon fragen wollte: Ist er zufällig der Maler Sontheimer?« fragte Gitta, die sich brennend für zeitgenössische Kunst interessierte und in jeder regionalen Ausstellung als Besucherin zu finden war.
»Manfred is’ sein jüngerer Bruder und nur ‘n Mathelehrer am Fuggergymie«, erwiderte Andernaj abschätzig, im gleichen Moment wurde sein Blick starr. Beate fürchtete, dass er seine Abfüllhöhe erreicht hatte und nun umkippte oder sich erbrach. Sicherheitshalber trat sie zur Seite, aber Andernaj schlug sich nur mit der Hand gegen die Stirn. »Mann, war ich blöd. Doofgesoffen! Das is’ es doch«, rief er. »Jetzt weiß ich, wo Nikki is’. Die san in der Fabrik, in Sontheimers Atelierwohnung. Das ist nich’ weit von hier und heut is’ doch Freitag, da hat er offne Tür. Kommt, ich geh noch auf’s Klo und dann laufen wir rüber. Is gar nicht weit.«
Bevor Gitta oder Beate etwas antworten konnten, bahnte er sich schon einen Weg durch den Raum, was ihm nicht weiter schwer fiel, da seine Erscheinung die Leute schnell zurückweichen ließ.